Themen Dr. Sandra Glammeier Pädagogische Herausforderungen angesichts sexueller Gewalt – was Schulen und Lehrkräfte tun können Schulen sind gefordert, Schutzkonzepte gegen sexuelle Gewalt zu entwickeln. Es geht darum, die Schule selbst zu einem sicheren Ort zu machen und zugleich Schüler/-innen, die außerhalb der Schule sexuelle Gewalt erleben, angemessen unterstützen zu können. Dieser Beitrag gibt Impulse für die Schulentwicklung und für hilfreiches Handeln von Lehrkräften. Einleitung Nach den Aufdeckungen von sexueller Gewalt in kirchlichen und pädagogischen Einrichtungen seit 2010 rücken neben der Familie und dem sozialen Umfeld nun verstärkt Institutionen – wie unter anderem Schulen – als Tatorte und als Schutzorte in den Blick. Häufig sind jedoch Lehrkräfte auf die Aufgabe der Prävention und auf den Umgang mit sexueller Gewalt nicht gut vorbereitet. Auch Schulen als Institutionen haben bisher kaum eine entsprechende Entwicklung vollzogen. Welche Herausforderungen für Schulen und Lehrkräfte in diesem Sinne zu meistern sind, soll in diesem Beitrag in einigen Aspekten erläutert werden. Hintergrund ist das Forschungs- und Fortbildungsprojekt „Sexualisierte Übergriffe und Schule – Prävention und Intervention“, das von 2012 bis 2015 an der Universität Paderborn durchgeführt und vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wird. Es zielt darauf, die Erfahrungen von Lehrkräften und den schulischen Umgang mit sexueller Gewalt zu untersuchen und zur weiteren Qualifizierung beizutragen. In diesem Rahmen wurden Experten-/Expertinneninterviews geführt sowie eine Fragebogenerhebung bei den Lehrkräften aller Schulformen im Kreis Paderborn und bei Lehramtsstudierenden der Universität Paderborn durchgeführt. Im Anschluss an die Befragungen werden Fortbildungen für Lehrkräfte und Lehramtsstudierende angeboten. Mit welchem Problem haben wir es zu tun? Lehrkräfte an berufsbildenden Schulen sind einerseits mit dem Problem sexueller Gewalt und (verbaler) sexueller Belästigung durch Schüler (selten Schülerinnen) oder durch Lehrkräfte konfrontiert, aber auch mit sexueller Gewalt, die ihre Schüler/-innen in ihrer Familie oder im sozialen Umfeld aktuell erleben oder früher erlebt haben und an deren Folgen sie heute noch leiden. Die Formen sexueller Gewalt reichen von ungewollten Berührungen der Geschlechtsteile oder der Brüste bis hin zur einmaligen oder wiederholten vaginalen, analen oder oralen Vergewaltigung durch einzelne oder mehrere Täter. Dr. Sandra Glammeier ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Paderborn, Warburger Str. 100, 33098 Paderborn, E-Mail: sandra.glammeier@ uni-paderborn.de Bei sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche wird oft von sexuellem Missbrauch gesprochen und das Macht- und Abhängigkeitsverhältnis zwischen Täter/Täterin und Opfer betont. Unter sexuellem Missbrauch ist jede sexuelle Handlung zu verstehen, „die an oder vor einem Kind entweder gegen den Willen des Kindes vorgenommen wird oder der das Kind aufgrund seiner körperlichen, seelischen, geistigen oder sprachlichen Unterlegenheit nicht wissentlich zustimmen kann“ (Deegener 2010, S. 22). Bei sexuellem Missbrauch in Kindheit oder Jugend handelt es sich häufig um wiederholte Taten über längere Zeiträume. Strafbar sind alle sexuellen Handlungen, die von Erwachsenen oder älteren Jugendlichen an Kindern unter 14 Jahren vorgenommen werden (§ 176 StGB), sowie sexuelle Handlungen an 14- bis 15-jährigen Jugendlichen bei Ausnutzen einer Zwangslage, gegen Entgelt oder wenn ein Erziehungs-, Betreuungs- oder Ausbildungsverhältnis vorliegt (§ 174 StGB). Bei 16- bis 17-Jährigen gilt das Gleiche, sofern bei einem Betreuungs-, Erziehungs-, Ausbildungs- oder Dienstverhältnis, das bestehende Abhängigkeitsverhältnis durch den Täter/die Täterin ausgenutzt wird (§ 174 StGB). Bei sexueller Gewalt unter Erwachsenen oder Jugendlichen gilt § 177 (sexuelle Nötigung; Vergewaltigung). Aber auch unterhalb der Schwelle strafrechtlich relevanter Formen sexueller Gewalt und sexueller Belästigung sind eine Intervention und eine Unterstützung der Betroffenen durch die Lehrkräfte sinnvoll. Die berufsbildende Schule (BbSch) 67 (2015) 1 13 Pädagogische Herausforderungen angesichts sexueller Gewalt – was Schulen und Lehrkräfte tun können Zum Ausmaß sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche gibt es inzwischen viele Dunkelfeld-Studien, die aber aufgrund verschiedener Vorgehensweisen zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Eine Meta-Analyse internationaler Studien zeigt eine durchschnittliche Prävalenz für weibliche Opfer von 19 % und für männliche Opfer von 7 % (Pereda u. a. 2009). In der deutschen Forschung liegen die Prävalenzen zwischen 10 % und 29 % für Mädchen und zwischen 2 % und 8 % für Jungen (Hagemann-White/HerwartzEmden/Hummel 2011; Hellmann 2014). Auch wenn Mädchen 2,5 bis fünfmal häufiger betroffen sind als Jungen (Pereda u. a. 2009; Finkelhor et al. 2014) müssen auch Jungen als relevante Betroffenengruppe wahrgenommen werden. Die weit überwiegende Mehrheit der Täter ist männlich (Hamby, Finkelhor und Turner 2013, S. 915), auch wenn Mädchen und Frauen durchaus auch Täterinnen sein können. Sexuelle Gewalt kommt in jeder Bevölkerungsschicht oder -gruppe vor und Lehrkräfte können davon ausgehen, dass auch in ihren Klassen entsprechende Anteile an Mädchen und Jungen betroffen sind, auch wenn sie dies nicht wissen. Sexueller Missbrauch ist keine spontane Handlung, sondern Täter und Täterinnen setzen sehr bewusst und gezielt langfristige Strategien ein, um sicherzustellen, dass ein Kind oder ein Jugendlicher/eine Jugendliche keinen Widerstand leisten und schweigen wird. Sie bauen z. B. eine Abhängigkeitsbeziehung mit emotionaler Nähe auf und nutzen die Bedürftigkeit des Mädchens/Jungen aus, indem sie ihm Aufmerksamkeit schenken und vermitteln, dass er oder sie etwas ganz Besonderes ist. Auch das soziale Umfeld wird manipuliert, sodass es den Täter/die Täterin als liebvollen Vater/ liebevolle Mutter oder engagierten Kollegen wahrnimmt. Täter/Täterinnen bereiten den Missbrauch häufig durch sukzessive zunehmende Grenzüberschreitungen vor, rufen gezielt Scham- und Schuldgefühle bei den Kindern hervor und verstärken den Geheimhaltungsdruck durch Drohungen. Sexuelle Gewalt – sei es durch Erwachsene oder durch Peers, sei es gegen Kinder/Jugendliche oder gegen Erwachsene – beruht auf der Verknüpfung von Macht und Sexualität und auf der als erregend empfundenen Überlegenheit, die entweder bereits zuvor bestand und ausgenutzt wird oder die durch die sexuelle Gewalt hergestellt werden soll. Die Basis für sexuelle Gewalt bieten traditionelle Geschlechter- und Sexualitätskonstruktionen, die Männlichkeit mit Dominanz verknüpfen (Glammeier 2015). Sexuelle Gewalt wird von den Betroffenen zumeist als Verdinglichung und Missachtung der eigenen Person erlebt. Die psychosozialen Folgen von sexuellem Missbrauch und von sexueller Gewalt durch Erwachsene oder Peers, die mit einer singulären oder komplexen psychischen Traumatisierung der Betroffenen einhergehen können, sind teilweise weitreichend und können sich bis in das Erwachsenenalter erstrecken, z. B. Ängste, Zwänge, Depressionen, Schlafstörungen, aggressives und/oder selbstverletzendes Verhalten, Essstörungen oder Alkohol-, Drogen und Tablettenkonsum, sozialer Rückzug, distanzloses oder delinquentes Verhalten etc. Sie hängen unter anderem von den Tatumständen und von der Resilienz des/der Betroffenen ab, aber auch davon, ob die Betroffenen Hilfe erhalten und die Gewalt gestoppt wird. Hier können empathische und unterstützende Lehrkräfte eine wichtige Bedeutung haben. Lehrkräfte als Ansprechpersonen In der Paderborner Befragung der Lehrkräfte im Kreis Paderborn (N = 983) haben 26 % angegeben, dass sie schon einmal mit Vorfällen oder Verdachtsfällen persönlich und direkt in ihrem Berufsalltag zu tun hatten. Von den 131 Lehrern/-innen an berufsbildenden Schulen waren es 12 %. Dieser Befund lässt sich einerseits so interpretieren, dass es sich um ein relevantes Problem handelt, auf das Lehrkräfte vorbereitet sein sollten. Andererseits könnte es auch so verstanden werden, dass es angesichts der hohen Betroffenheit von Kindern und Jugendlichen erstaunlich ist, dass nicht eine größere Anzahl von Lehrkräften, die ja sehr viele Kinder, Jugendliche oder junge Erwachsene im Laufe des Berufslebens kennenlernen, bereits mit einem Vorfall sexueller Gewalt oder einem entsprechenden Verdacht zu tun hatte. Lehrkräfte können wichtige Ansprechpersonen für Kinder und Jugendliche/junge Erwachsene sein, aber nicht alle Betroffenen nehmen Lehrkräfte als solche wahr. Zwar hat es vielfältige Gründe, wenn Betroffene schweigen, aber den- 14 Die berufsbildende Schule (BbSch) 67 (2015) 1 Themen davon unbenommen. Wie mit dem oder der Beschuldigten umzugehen ist, wenn es sich um sexuelle Gewalt innerhalb der Schule handelt, kann danach mithilfe von Schulleitung und Fachberatungsstellen geklärt werden. Hilfreich ist auch eine klare Positionierung gegen sexuelle Belästigung oder sexuelle Gewalt. Es sollte deutlich werden, dass dies nicht akzeptabel ist bzw. dass die Tatperson nicht auf diese Weise mit der oder dem Betroffenen umgehen darf. Die Stellungnahme sollte dabei nicht durch Äußerungen wie „Wenn das so stimmt, was du sagst“ eingeschränkt werden. Sexuelle Gewalt erfordert eine ganz deutliche Positionierung zugunsten der/des Betroffenen. Gleichzeitig sollte vermieden werden, den Täter/die Täterin (vorschnell) zu verurteilen oder zu diesem Zeitpunkt potenzielle Konsequenzen für die Tatperson zu benennen. Unterstützend ist es, wenn Lehrkräfte die zentrale Botschaft senden: „Du bist nicht schuld“, die Verantwortung liegt beim Täter. noch stellt sich die Frage, wie eine Lehrkraft sein muss, damit sich betroffene Schüler/-innen an sie wenden können. Zentral ist hier: Betroffene brauchen, dass ihnen geglaubt wird. Sie benötigen Parteilichkeit und Solidarität. Der Versuch, angesichts von sexueller Belästigung oder Gewalt eine neutrale Haltung einzunehmen, wird von Betroffenen als Missachtung erfahren. Dennoch erleben sowohl Kinder und Jugendliche als auch erwachsene (zumeist, aber nicht nur weibliche) Betroffene sexueller Gewalt oft, dass ihnen nicht geglaubt wird. Das hat vielfältige Gründe. Aber es kann auch eine teils unbewusste, teils bewusste Abwehrstrategie darstellen, weil die Wahrheit so schwer zu ertragen ist. In der Konfrontation mit sexueller Gewalt können Dritte, die auf das Problem nicht vorbereitet sind, mit Angst und Ohnmachtsgefühlen reagieren und sich grundlegend überfordert fühlen. Wie viel leichter wäre es da, wenn es sich nur um eine Übertreibung oder gar eine Lüge handelte? Das Selbstbeschämungspotenzial ist bei der Offenlegung erlebter sexueller Gewalt außerordentlich hoch. Deshalb ist die Botschaft an betroffene Schüler/-innen so wichtig, dass die Lehrkraft ihr oder ihm glaubt und dass es gut ist, dass sie oder er es der Lehrerin/dem Lehrer gesagt hat. Wenn es sich um traumatisch erlebte sexuelle Gewalt handelt, kann das Erzählen aufgrund einer traumatischen Wahrnehmungsverzerrung fragmentiert sein und eventuell unlogisch klingen. Das heißt aber nicht, dass das Berichtete nicht wahr ist. Die Aussage des oder der Jugendlichen sollte in der Beratungssituation als eine Tatsache behandelt werden, wenn sie einer Plausibilitätsüberprüfung standhält, also wenn es theoretisch sein könnte. Lehrkräfte haben eine andere Rolle als die Polizei, sie müssen nicht ermitteln. Hier geht es weniger um Strafverfolgung als um Schutz und Unterstützung für die Betroffenen. Die rechtliche Unschuldsvermutung bleibt Wenn ein betroffener Schüler/eine betroffene Schülerin eine Lehrkraft anspricht, ist dies zunächst eine Ehre und ein großer Vertrauensbeweis. Darum ist es wichtig, dass sie persönlich erst einmal auf das Mädchen oder den Jungen in Ruhe eingeht, in Kontakt und in Beziehung geht und erst danach in Absprache mit der/dem Betroffenen gegebenenfalls eine Fachkraft hinzuzieht. Wenn sich Lehrkräfte bereits mit sexueller Gewalt und den eigenen Gefühlen in diesem Kontext beschäftigt haben, ist es leichter, nicht mit Schrecken oder emotional intensiv zu reagieren, wenn sie angesprochen werden. Die eigenen Gefühle sollten in dieser Situation bewusst zur Seite gestellt werden, damit ein ruhiges, vertrauensvolles Gespräch geführt und die weiteren Schritte geplant werden können. Lehrkräfte dürfen behutsam nachfragen, was passiert ist, um die Art der notwendigen Intervention besser einschätzen zu können. Es ist aber nicht erforderlich und nicht sinnvoll, alle Details der sexuellen Gewalt zu erfragen. Lehrkräfte sollten keinen Fall „bohren“, wenn ein Schüler/eine Schülerin nichts mehr sagen möchte. Hilfreich ist es zu fragen, was das Mädchen/der Junge jetzt braucht. Eventuell können auch Befürchtungen und Wünsche der/des Betroffenen in Bezug darauf besprochen werden, z. B. was jetzt geschehen soll. Zentral ist es hier, die Betroffenen nicht zu drängen, nichts über ihren Kopf hinweg zu unternehmen und die Schritte, die jetzt zu tun sind, mit ihnen abzusprechen. Sexuelle Gewalt zu erleben, bedeutet einen starken Kontrollverlust und eine überwältigende Fremdbestimmung für die Betroffenen. Daher ist es im Nachhinein wichtig, das Gefühl der Selbstwirksamkeit wieder zu stärken und Selbstbestimmung wieder herzustellen. Grundsätzlich gilt, nichts zu versprechen, was man nicht halten kann, sondern realistische Perspektiven aufzuzeigen und Trost und Mitgefühl zu spenden. Wenn die/der Betroffene weint, ist es hilfreich, un- Die berufsbildende Schule (BbSch) 67 (2015) 1 15 Pädagogische Herausforderungen angesichts sexueller Gewalt – was Schulen und Lehrkräfte tun können Schutz vor sexueller Gewalt Ein Konzept zum Schutz vor sexueller Gewalt ist Aufgabe von Schulentwicklung. Nur durch ein gemeinsames und planvolles Handeln kann deutlich gemacht werden, dass sich die Schulgemeinde als Ganze eindeutig und nachdrücklich gegen sexuelle Gewalt positioniert und wirksamen Schutz anbietet. aufgeregt in Kontakt zu bleiben, denn das Weinen kann eine gute Ressource sein. Lehrkräfte können das Gespräch am Ende abrunden, indem Sie z. B. fragen: „Wie ist es jetzt? Wie geht es dir jetzt? Was denkst du?“ Vielleicht ist es möglich, am Ende des Gesprächs etwas alltäglich Fürsorgliches zu tun und z. B. eine Tasse Kakao oder Kaffee anzubieten oder dergleichen. Wenn Lehrkräfte sich unsicher sind, was zu tun ist, können sie den Betroffenen sagen, dass sie sich unter Wahrung der Vertraulichkeit Rat holen, und einen zweiten Gesprächstermin vereinbaren. Sie können der/dem Betroffenen auch vorschlagen, sich für weitere Unterstützung an eine Fachberatungsstelle zu wenden. Die Hemmschwelle kann für die Betroffenen etwas gesenkt werden, wenn die Lehrkraft bereits eine Person aus der Beratungsstelle kennt und sagen kann, dass diese vertrauenswürdig sei und die Telefonnummer weitergeben kann. Zentral ist es, dass angesprochene Lehrkräfte Ruhe bewahren und weitere Handlungsschritte mit Fachberatungsstellen und gegebenenfalls der Schulleitung besprechen. In Fachberatungsstellen können (Verdachts-)Fälle auch anonym besprochen werden. Hier kann auch geklärt werden, ob und wann (bei jüngeren Schülern/-innen) das Jugendamt eingeschaltet werden muss. Das Prinzip, Ruhe zu bewahren, heißt nicht, das Handeln auf die lange Bank zu schieben, sondern soll vor überstürztem und unüberlegtem Handeln aus dem Schrecken heraus warnen. Zumeist ist es z. B. nicht hilfreich, als ersten Schritt – ohne Absprache mit der/dem Betroffenen – die Polizei einzuschalten. Der Täter/die Täterin sollte von der Lehrkraft nicht auf den Vorwurf angesprochen werden, da die Gefahr besteht, dass die Tatperson aufgrund der Vorwarnung die oder den Betroffene(n) unter Druck setzt und/oder Beweise vernichtet. Wenn mit der Tatperson gesprochen werden muss, weil es sich um einen Schüler handelt, sollte mit der Schulleitung abgeklärt werden, wer das Gespräch führt und wie dieses eventuell mithilfe einer Fachberatungsstelle vorbereitet werden kann. Wenn es sich bei der Tatperson um einen Kollegen/eine Kollegin handelt, ist es Aufgabe der Schulleitung, die Tatperson zu konfrontieren und gegebenenfalls dienstrechtliche Konsequenzen folgen zu lassen, wenn der Schutz der/des Betroffenen gewährleistet ist. 16 Die berufsbildende Schule (BbSch) 67 (2015) 1 Wenn Lehrkräfte nicht von Betroffenen angesprochen werden, aber eine entsprechende Vermutung haben, ist es je nach konkretem Einzelfall hilfreich, entweder ganz offen ein Gespräch anzubieten. Solche Gesprächsangebote können z. B. lauten: „Ich merke, dass es dir schwerfällt, dich auf den Unterricht zu konzentrieren. Ich mache mir Sorgen um dich. Wie geht es dir? Du kannst jederzeit mit mir sprechen, wenn dich etwas bedrückt und wir können gemeinsam überlegen, was man tun kann, damit es dir wieder besser geht.“ Es kann im Einzelfall aber auch sinnvoll sein, den Verdacht konkret anzusprechen. Am besten wird das Gespräch mit einer Fachberatungsstelle vorbereitet. Für den weiteren Hilfeprozess, eventuell auch im Rahmen einer Anzeige, sollten die eigenen Beobachtungen, Überlegungen und Gespräche, vor allem die Aussagen der Betroffenen sorgfältig dokumentiert werden. Dabei ist zwischen konkreten Aussagen, die Lehrkräfte möglichst wortgetreu aufschreiben, und Interpretationen zu trennen. Auf jeden Fall sollten Lehrkräfte einen Verdacht ernst nehmen, auch wenn es sich nur um ein vages „komisches“ Gefühl handelt. Schutz vor sexueller Gewalt als Frage der Schulentwicklung Damit ein präventives und interventives Handeln von Lehrkräften bei sexueller Gewalt nicht auf den Schultern von Einzelnen lastet und zu Überforderung führt, ist eine Schulentwicklung notwendig, die eine Auseinandersetzung mit sexueller Belästigung und sexueller Gewalt in ihre Strukturen einbettet. Die Entwicklung eines schulischen Schutzkonzeptes, das sowohl sexuelle Gewalt und sexuelle Belästigung in der Schule durch Lehrkräfte und Schüler und Schülerinnen als auch sexuelle Gewalt außerhalb der Schule einbezieht, setzt eine entsprechende Bereitschaft der Schulleitung voraus. Manchmal können hier aber engagierte und problembewusste Lehrkräfte als Initiator/-innen eine solche Entscheidung anregen. Hilfreich ist es, wenn der (längerfristige) Prozess einer Schutzkonzeptentwicklung von Experten/-innen aus Fachberatungsstellen flankiert wird, z. B. durch schulinterne Fortbildungen und eine Begleitung oder ein Coaching hinsichtlich der Organisationsentwicklung.1 Ein wichtiger Schritt dabei ist die institutionsbezogene Risikoanalyse, in die verschiedene Gruppen wie Schüler/-innen, Lehrkräfte, Schulleitung, Eltern, Schulsozialarbeiter/-innen etc. einbezogen werden sollten: Hier ist z. B. eine Auseinandersetzung mit den spezifischen Vulnerabilitäten der Zielgruppe wichtig, aber auch eine Überprüfung, welche Bedingungen, Strukturen oder Arbeitsabläufe aus Tätersicht bei der Planung und Umsetzung von Taten ausgenutzt werden können (UBSKM 2013, S. 6). Wenn Risiken identifiziert worden sind, stellt sich die Frage nach bereits erfolgten und zukünftigen wirksamen präventiven Maßnahmen. Für die Prävention und für eine hilfreiche Intervention sind weiterhin Fachwissen auf allen Ebenen der Schulorganisation, klare Zuständigkeiten und transparente Kommunikationswege notwendig (ebd., S. 7). Themen ist eine tragfähige Vernetzung mit außerschulischen Akteu ren/-innen wie mit Beratungsstellen, dem Jugendamt, der Polizei, Frauen- und Mädchenhäusern etc. Prävention kann nicht wirksam werden, wenn die Intervention im konkreten Fall nicht gut verläuft. Denn wie mit einem Verdacht oder einem Vorfall sexueller Gewalt umgegangen wird, hat Signalwirkung für weitere Opfer und Täter. Erforderlich sind auch eine Auseinandersetzung im Kollegium mit der Frage eines angemessenen Umgangs mit Macht in pädagogischen Verhältnissen sowie mit Nähe und Distanz und eine Erstellung von Verhaltenskodizes, die einerseits klarstellen, welche Verhaltensweisen von Lehrkräften unangemessen sind und andererseits eine Leitlinie mit Signalwirkung nach innen und außen darstellen. Ein – nicht nur in diesem Kontext – wichtiger Aspekt ist hier, ob in der Schule transparente und verlässliche Beschwerdeverfahren implementiert sind. Notwendig ist auch eine Überprüfung, ob es nicht aufgearbeitete Vorerfahrungen gibt (UBSKM 2013, S. 7), z. B. Verdachtsfälle, die im Sande verlaufen sind und bei allen Beteiligten ein ungutes Gefühl hinterlassen haben. Manchmal kommt es an Schulen auch vor, dass bestimmte Lehrkräfte unter Schülern/-innen den Ruf haben, sexuell belästigend oder übergriffig zu sein und das Kollegium und die Schulleitung diesen Ruf auch kennen, dem aber nicht weiter nachgehen. Wichtig wäre es hier aber, die Erfahrungen der Schü ler/-innen aufzuklären und entweder der Lehrkraft Grenzen zu setzen und Konsequenzen folgen zu lassen oder für die Rehabilitation des Kollegen oder der Kollegin zu sorgen. Auch sollten sich die Schulen damit auseinandersetzen, wie sie die Aufklärung über sexuelle Gewalt und Hilfemöglichkeiten für alle Schüler/-innen im Unterricht thematisieren können. Für einen guten Umgang mit (Verdachts-)Fällen sexueller Gewalt ist es von zentraler Bedeutung, dass die Schule einen umfassenden Handlungsplan für verschiedene Fallkonstellationen erarbeitet hat. Pädagogisches Handeln bei sexueller Gewalt bedeutet Handeln in einer Krisensituation und ist zumeist Handeln in Unsicherheit und unter Druck. Deshalb ist es günstig, wenn sich Schulleitung und Lehrkräfte schon im Vorfeld mit den entstehenden Fragen nach den Handlungsschritten auseinandersetzen und wissen, an wen sie selbst und die Schüler/-innen sich wenden können. Hilfreich Auch bei Vorstufen sexueller Gewalt, den sexuellen Belästigungen besteht Interventions- und Präventionsbedarf. Sie stellen nicht nur Missachtungen der Integrität der Betroffenen dar, sondern eine mangelnde Intervention in diesem Bereich kann auch zu einem Nährboden für sexuelle Gewalt werden und zu deren Tabuisierung beitragen: Das Schulklima wird dann negativ geprägt, sodass sich Betroffene von leichteren bis schweren Formen sexueller Gewalt nicht mehr an Lehrkräfte wenden. Hier ist eine schulweite Auseinandersetzung mit der Frage hilfreich, wie in der Schule miteinander umgegangen werden soll. Praxisorientierte Handreichungen/Handlungsleitfäden zum Download finden Sie z. B. in der Linksammlung unter http:// www.uni-paderborn.de/sexualisierte-gewalt. Anmerkungen 1 In dieser Hinsicht wurde bereits im Rahmen der Bundesweiten Fortbildungs offensive der DGfPI (www.dgfpi.de/bufo_konzept.html) von Fachberatungsstellen, die Einrichtungen der Kinder- und Jugend- sowie der Behindertenhilfe fortgebildet und in ihrem Weiterentwicklungsprozess begleitet haben, ein reicher Erfahrungsschatz und eine große Expertise entwickelt, von der auch unser Projekt sehr profitieren konnte. Ein besonderer Dank gilt hier Maren Kolshorn und Katrin Hille vom Frauennotruf Göttingen/ Kinder- und Jugendberatung phoenix, Werner Meyer-Deters von Neue Wege Bochum, Ursula Schele von PETZE Präventionsbüro Kiel sowie Bernd Eberhardt von der DGfPI. Literatur Deegener, G. 2010: Kindesmissbrauch. Erkennen – helfen – vorbeugen. Weinheim, Basel: Beltz. Pereda, N./Guilera, G./Forns, M./Gómez-Benito, J. 2009: The prevalence of child sexual abuse in community and student samples: A meta-analysis. In: Clinical Psychology Review 29 (4), S. 328–338. Finkelhor, D./Shattuck, A./Turner, H. A./Hamby, S. L. 2014: The Lifetime Prevalence of Child Sexual Abuse and Sexual Assault Assessed in Late Adolescence. In: Journal of Adolescent Health 55 (3), S. 329–333. Glammeier, S. 2015: (De)Thematisierung von Geschlecht im wissenschaftlichen Diskurs zu sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. In: Rendtorff, B./ Riegraf, B./Mahs, C.: Erkenntnis, Wissen, Interventionen – Geschlechterwissenschaftliche Perspektiven. Weinheim: Beltz-Juventa. Hagemann-White, C./Herwartz-Emden, L./Hummel, M. 2012: Gewalt durch Pädagogen/-innen. Empirische Befunde und Erklärungsansätze. In: Thole, W./ Baader, M./ Helsper, W./Kappeler, M./Leuzinger-Bohleber, M./Reh, S./Sielert, U./Thompson, C. (Hrsg.): Sexualisierte Gewalt, Macht und Pädagogik. Opladen: Barbara Budrich, S. 223–237. Hamby, S./Finkelhor, D./Turner, H. 2013: Perpetrator and Victim Gender Patterns for 21 Forms of Youth Victimization in the National Survey of Children‘s Exposure to Violence. In: Violence and Victims 28 (6), 915–939. Hellmann, D. F. 2014: Repräsentativbefragung zu Viktimisierungserfahrungen in Deutschland. Hannover: KFN. Unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs 2013: Handbuch Schutzkonzepte sexueller Missbrauch Befragungen zum Umsetzungsstand der Empfehlungen des Runden Tisches „Sexueller Kindesmissbrauch“. Bericht mit Praxisbeispielen zum Monitoring 2012–2013. Die berufsbildende Schule (BbSch) 67 (2015) 1 17
© Copyright 2024 ExpyDoc