raussetzung der Anklageerhebung nach Art. 324 StPO

Strafprozessrecht II, FS 15
Felicitas Brütsch
„Hinreichende Verdachtsgrü nde“ als Voraussetzung der Anklageerhebung nach
Art. 324 StPO
Grundlagen:
Art. 324 StPO:
1. Die Staatsanwaltschaft erhebt beim zuständigen Gericht Anklage, wenn sie auf-
grund der Untersuchung die Verdachtsgründe als hinreichend erachtet und keinen Strafbefehl erlassen kann.
2. Die Anklageerhebung ist nicht anfechtbar.
Die Anklageschrift:
Die Anklage ermöglicht es der Staatsanwaltschaft dem Gericht, im Sinne der Gewalten-
trennung, die Aufgabe der Entscheidung über Schuld oder Unschuld eines Tatverdächti-
gen zu übertragen. Die Anklageerhebung wird auch Überweisungsverfügung genannt 1,
weil ein Übergang der Verfahrensherrschaft an das Gericht stattfindet 2. Sie enthält, ge-
stützt auf die vorausgegangenen Vorverfahren, gegen bestimmte Personen, genau erläuterte Deliktsvorwürfe sowie weitere in Art. 325 Abs. 1 StPO umschriebene Elemente.
Voraussetzung der Anklageerhebung
Eine Anklage nach Art. 324 Abs. I StPO kann nur erhoben werden, wenn die Staatsanwaltschaft aufgrund ihrer Untersuchung oder derjenigen der Polizei die Verdachtsgrün-
de als hinreichend erachtet und keinen Strafbefehl nach Art. 352 ff StPO erlassen kann 3.
Negative Voraussetzung der Anklageerhebung ist somit der fehlende Strafbefehl und
positive Voraussetzung der hinreichende Tatverdacht.
BBL 2006 1085 Art. 325.
SCHMID NIKLAUS, Handbuch des schweizerischen Strafprozessrechts, 2. Auflage, Zürich/St. Gallen 2013, N
1265.
3 DONATSCH ANDREAS/SCHWARZENEGGER CHRISTIAN/WOLFGANG WOHLERS, Strafprozessrecht, 2 Auflage, Zürich
2010, S.281.
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Ebenfalls Beachtung im Zusammenhang mit der Anklageerhebung verdient Art. 319
StPO über die Gründe für die Einstellung eines Verfahrens. Findet sich in diesem Katalog
von Art. 319 Abs. 1 StPO kein passender Grund für die Einstellung und sind die Voraussetzungen für die Erhebung eines Strafbefehls nicht erfüllt, so muss zwingend Anklage
erhoben werden. Es darf nur bei klarer Straflosigkeit oder fehlenden Prozessvorausset-
zungen eingestellt werden. Dies entspricht dem Grundsatz „in dubio pro duriore“, wel-
cher aus dem Legalitätsprinzip fliesst und besagt, dass angeklagt werden muss, sobald
die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung besteht 4.
Tatverdacht
Bereits in Art. 309 Abs. I StPO begegnet man dem hinreichenden Tatverdacht. Dieser ist
aber nicht vollkommen deckungsgleich mit dem hinreichenden Tatverdacht von Art. 324
Abs. 1 StPO.
Der Begriff Tatverdacht stellt einen unbestimmten Rechtsbegriff dar und muss dement-
sprechend näher umschrieben werden. Der Begriff setzt sich aus einem tatsächlichen
und einem rechtlichen Element zusammen 5. Beim sog. retrospektiven Aspekt bezieht
man sich auf spezifische Anhaltspunkte, die in tatsächlicher Hinsicht auf ein mögliches
schuldhaftes Verhalten hindeuten. Beim sog. prospektiven Aspekt hingegen bezieht man
sich auf die Wahrscheinlichkeit, mit welcher ein solches schuldhaftes Verhalten unter
die Kriterien eines Straftatbestandes subsumiert werden können 6. Es müssen also konkrete Anhaltspunkte oder Indizien vorliegen, dass ein Verhalten vorliegt, welches an
sich bereits strafbar ist oder sich in einem Straftatbestand äussern kann. Einfach gesagt
müssen konkrete Gründe für das Vorliegen einer Straftat gegeben sein, welche durch
eine bestimmte Person begangen worden ist und eine Verurteilung als wahrscheinlich
gilt 7.
UE140245-O/U/KIE, E 2.
5 BSK StPO HEIMGARTNER, NIGGLI, Art. 324 N 8, in: NIGGLI MARCEL ALEXANDER/HEER MARIANNE/WIPRÄCHTIGER
HANS (Hrsg.), Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, Jugendstrafprozessordnung, Art.
196-457 StPO, Art. 1-54 JStPO, 2. Auflage, Basel 2014 (zit.: BSK STPO Bearbeiter, Art. N).
6 BSK StPO HEIMGARTNER, NIGGLI, Art. 324 N 8.
7RIKLIN FRANZ, StPO Kommentar: Schweizerische Strafprozessordnung mit JStPO, StBOG und weiteren
Erlassen, Zürich 2014, Art. 309 N1.
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Wie auch bei den anderen Artikeln bei denen ein Tatverdacht verlangt wird, braucht es
zusätzlich täterbezogene Merkmale um eine Anklageerhebung zu bejahen 8. Ein Tatverdacht kann aber ausgeschlossen werden, sobald sich Rechtfertigungs- oder Schuldaus-
schlussgründe im Verhalten der betreffenden Person finden. Bei Schuldausschlussgrün-
den ist jedoch zu beachten, dass bei Delikten, die sich im Nachhinein aufgrund Schuldun-
fähigkeit (Art. 19 StGB) als nicht strafbar erweisen, trotzdem gewisse Sanktionen angeordnet werden können 9. Dies obwohl eine Anklageerhebung als solche nicht möglich ist.
Was bedeutet hinreichend?
Nicht geklärt ist jedoch, was genau als hinreichender Tatverdacht angesehen wird. In
Lehre sowie auch Rechtsprechung finden sich diesbezüglich erhebliche Diskrepanzen.
Dass dieser unbestimmte Rechtsbegriff mehrmals an unterschiedlichen Stellen im Ge-
setz erwähnt wird, scheint bei der Suche nach der Antwort auf diese Frage nicht hilfreich. Allerdings unterscheiden sich die Folgen, welche an den hinreichenden Tatver-
dacht geknüpft werden 10. So werden in Art. 197 Abs. 2 lit. b StPO mithilfe des hinrei-
chenden Tatverdachts Zwangsmassnahmen angeordnet und in Art. 309 Abs. 1 lit. a StPO
legitimiert die Staatsanwaltschaft so ihre Untersuchungen.
Dies lässt darauf schliessen, dass das deskriptive Merkmal „hinreichend“ immer in Relation mit der beabsichtigen Folge angesehen werden muss. In unserem Fall muss also ein
Tatverdacht so hinreichend sein, dass aufgrund der vorliegenden Beweislage erhebliche
Wahrscheinlichkeit besteht, dass die beschuldigte Person verurteilt wird 11. Da bereits
bei der Untersuchungseröffnung das Tatbestandsmerkmal des erheblichen Tatverdachts
gegeben sein muss, müsste dasselbe Tatbestandsmerkmal für die Anklageerhebung
mehr gewichtet werden. Dies aus dem Grund, dass das Aufrechterhalten des Verfahrens
gerechtfertigt sein soll. Der anfängliche hinreichende Tatverdacht von Art. 309 Abs. 1 lit.
a StPO bei Untersuchungseröffnung muss sich während des Untersuchungsverfahrens
zu einem erheblichen Tatverdacht für die Anklageerhebung erhärtet haben. Ein drin-
gender Tatverdacht ist gemäss Rechtsprechung und Lehre nicht nötig. Der „vertiefte“
hinreichende Tatverdacht entsteht üblicherweise mittels im Untersuchungsverfahren
erlangten Beweise, Zeugenaussagen oder Indizien. Diese müssen erheblicher und kon-
BSK StPO HEIMGARNTER, NIGGLI, Art. 324 N 8.
BSK StPO HEIMGARNTER, NIGGLI, Art. 324 N 8.
10 BSK StPO HEIMGARNTER, NIGGLI, Art. 324 N 9.
11 BSK StPO HEIMGARNTER, NIGGLI, Art. 324 N 10.
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kreter Natur sein 12. In der Regel dürfte dieser bereits entstehen, wenn eine bestimmte
Person in engeren Zusammenhang mit der in Frage stehenden Straftat gebracht werden
kann. Die Hilfsmittel für die Begründung eines hinreichenden Verdachts dürfen aber
nicht in jedem Fall als absolut zuverlässig angesehen werden. Beweise können verfälscht, Zeugenaussagen unrichtig und Indizien falsch gedeutet worden sein. Zum Beispiel gelten Hörensagen, reine Mutmassungen, Gerüchte als nicht genügend um einen
hinreichenden Tatverdacht zu begründen 13. Es ist immer im Einzelfall abzuwägen wie
glaubhaft eine Aussage oder ein Beweis erscheint.
Abgrenzung zum Anfangsverdacht und zum dringenden Tatverdacht
Um einen Anfangsverdacht zu begründen, reicht bereits eine geringe Wahrscheinlichkeit
für die Verurteilung eines Tatverdächtigen aus. Ein solcher ist zum Beispiel für die Aufnahme der Strafverfolgung nach Art. 299 Abs. 2 StPO oder Art. 300 StPO ausreichend 14.
Hier reichen auch vage Aussagen über das Vorliegen einer Straftat aus, um die Strafverfolgung auszulösen.
Um einen dringenden Tatverdacht auszulösen, müssen erhebliche tatsächliche Anhalts-
punkte vorliegen, die eine Person mit einer Straftat in Verbindung bringen. Solche sind
zum Beispiel Fingerabdrücke auf dem Tatwerkzeug, genaue Personenbeschreibung
durch einen Zeugen. Ein solcher dringender Verdacht ist zum Beispiel beim Anordnen
von Zwangsmassnahmen nach Art. 197 Abs. 1 lit. b StPO vorausgesetzt 15. Denn diese
greifen stark in die persönliche Freiheit ein und müssen dementsprechend gerechtfertigt werden.
Fallkonstellationen 16
Anklage wird erhoben, wenn:
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zwar keine klaren Beweise, jedoch mehrere einfache Indizien vorliegen, von de-
nen die Staatsanwaltschaft denkt, dass sie das Gericht zur Überzeugung bringen
UE140091-O/U/bru, E.4.
UE140091-O/U/bru, E.4.
14 LANDSHUT in:DONATSCH ANDREAS/HANSJAKOB THOMAS/LIEBER Viktor, Kommentar zur Schweizerischen
Strafprozessordnung (StPO), Zürich 2010 Art. 309 N26 (zit. Kommentar StPO, Verfasser, Art. N).
15 Kommentar StPO, LANDSHUT, Art. 309 N27.
16 BSK StPO HEIMGARNTER, NIGGLI, Art. 324 N 14.
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können, dass keine ernsthaften Zweifel an der Schuld des Beschuldigten beste-
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hen.
eine einzige glaubhafte Zeugenaussage vorliegt.
zwar mehrere, sich teilweise widersprechende Zeugenaussagen vorliegen, diese
jedoch im Kern nicht an der Schuld des Beschuldigten zweifeln lassen.
z.B. der Vorsatz zweifelhaft erscheint.
Keine Anklage ist zu erheben, wenn:
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lediglich eine Zeugenaussage vorliegt, die nicht glaubhaft erscheint und keine
weiteren Indizien oder Beweise die Schuld des Beschuldigten begründen vermögen.
die Beweise nicht eindeutig einer Person oder einer Straftat zuzuordnen sind.
zwar eine glaubhafte Zeugenaussage vorliegt, der betreffende Zeuge jedoch nicht
mehr einvernommen werden kann.