80 MITTELSTAND KONKRET // GESETZE UND REGULARIEN Artikel 95 – Faire Bedingung für alle? BIOZID-VERORDNUNG // ZIEL DES ARTIKELS 95 DER BIOZIDVERORDNUNG IST ES „PERSONEN, DIE WIRKSTOFFE IN DEN VERKEHR BRINGEN, GLEICH ZU BEHANDELN UND SO RASCH WIE MÖGLICH FÜR BESTEHENDE WIRKSTOFFE GLEICHE WETTBEWERBSBEDINGUNGEN AUF DEM MARKT ZU SCHAFFEN.“ (FREI NACH DEN ERWÄGUNGSGRÜNDEN 8 UND 58). Gabi Büttner D er Artikel 95 ist vielleicht nicht einer der kontroversesten Abschnitte der Biozid-Verordnung, aber nichtsdestotrotz einer, der seit Inkrafttreten des neuen Gesetzes im September 2013 stetig an Aufmerksamkeit und Brisanz gewonnen hat. Grund hierfür sind nicht die Erwägungsgründe, sondern vielmehr die am 1.9.2015 verstrichene Übergangsfrist. „Artikel-95-Liste“ Alles begann 1998, als die EU mit der Biozidrichtlinie ein Gesetz erließ, anhand dessen Hunderte alter Wirkstoffe auf Risiken getestet werden sollte. Der Aufwand eines Prüfprogrammes dieser Größenordnung wurde unterschätzt, so dass die Frist der Wirkstoffüberprüfungen mehrfach verlängert wurde, zuletzt bis 2024. Dies bedeutete einen Nachteil für Firmen, die sich an dem kostenintensiven und aufwendigen Prüfprogramm FA RBE UND L A C K / / 1 0 .2 0 1 5 beteiligen, gegenüber den sogenannten „Trittbrettfahrern“. Hierbei handelte es sich um Firmen, die Wirkstoffe einsetzen, ohne sich am Prüfprogramm zu beteiligen und aufgrund dessen in der Regel günstiger produzieren können. Um gleiche Wettbewerbsbedingungen für alle Beteiligten zu schaffen, dürfen seit dem 1.9.2015 nur noch Biozidprodukte auf dem Markt bereitgestellt werden, die Wirkstoffe enthalten deren Hersteller oder Importeur auf der Webseite der Europäischen Chemikalienagentur (ECHA) gelistet ist (sog. „Artikel 95-Liste“). Herausforderung: Aufnahme in die Liste Hersteller und Importeure von Biozidwirkstoffen müssen also nach Artikel 95 gelistet sein, um ihre Produkte in Europa weiter vermarkten zu können. Formulierer von Biozidprodukten dürfen Wirkstoffe nur noch von gelisteten Lieferanten beziehen. Voraussetzung für eine Listung ist die Einreichung –– eines eigenen vollständigen Wirkstoffdossiers oder –– die Bezugnahme auf ein bereits eingereichtes Wirkstoffdossier oder –– die Bezugnahme auf ein Wirkstoffdossier, für das die Datenschutzfristen abgelaufen sind. Die zwei wesentlichen Herausforderungen für Interessenten um auf die Artikel 95-Liste zu gelangen, sind wohl der Nachweis der „Technische Äquivalenz“ des eingesetzten Wirkstoffs und das Erlangen der Zugangsbescheinigung zu den Daten der ursprünglichen Wirkstoffgenehmiger. Darüberhinaus müssen sich Firmen ggf. zum ersten Mal mit der behördlichen Kommunikationsplattform R4BP und der benötigten Software (IUCLID) auseinandersetzen. Technische Äquivalenz und Bezugnahme Um auf die Daten eines bestehenden Wirkstoffdossiers verweisen zu können, muss nachgewiesen werden, dass der alternative Wirkstoff dem des Dateninhabers hinrei- MITTELSTAND KONKRET // GESETZE UND REGULARIEN 81 Abb. 1 // Prozessablauf Antragstellung nach Artikel 95 chend ähnlich -„technisch äquivalent“- ist. Hierfür sind umfangreiche Daten vorzulegen. Da sich aber viele Wirkstoffe derzeit noch in der Überprüfung befinden (bis 2024), kann ein Nachweis der technischen Äquivalenz derzeit noch nicht erfolgen. Der Artikel 95 überholt mit seiner Deadline 2015 somit das bis 2024 laufende Überprüfungsprogramm der Wirkstoffe: Ein Lieferant muss somit eine Listung nach Artikel 95 inkl. Erwerb des Bezugnahmerechts und Zahlung der Gebühren schon jetzt beantragt haben, kann aber erst im Nachhinein feststellen, ob er auf das Dossier überhaupt verweisen durfte. Der Artikel 95 gilt auch für Biozidprodukte, die als Vorläufersubstanz zur in situ Herstellung eines Wirkstoffs vermarktet werden. In diesem Fall muss entweder der Hersteller oder der Inverkehrbringer der Vorläufersubstanz für den Wirkstoff auf der Artikel 95-Liste aufgeführt sein. Neben Unklarheiten zu Systemen mit „Alltagschemikalien“ als Vorläufersubstanz oder dem Einsatz von „In-Situ-Geräten“, wurden auch viele Fragen nach der Umsetzung auf europäischer Ebene aufgeworfen, die derzeit noch nicht beantwortet werden können. Auch gestalten sich die Verhandlungen zur Datenteilung zwischen neuen Wirkstoffliefe- ranten und den ursprünglichen Antragstellern im Einzelfall schwierig. Die Anforderungen an eine Wirkstoffgenehmigung sind sehr hoch, so dass die Datenbesitzer i. d. R. hohe Kosten geltend machen. Da die Datenteilung nur bei Wirbeltierstudien gesetzlich verpflichtend ist, können die ursprünglichen Antragsteller im Streitfall den Zugang zum vollständigen Dossier verweigern, so dass der neue Antragsteller gezwungen wird, große Teile des Dossiers selbst zu ergänzen. Außereuropäische Wirkstofflieferanten Besonders schwierig ist diese Anforderung für Hersteller oder Importeure von Biozidprodukten, deren Wirkstoffe außerhalb der EU produziert werden. Die Biozid-Verordnung sieht eine Listung nach Artikel 95 für außereuropäische Wirkstoffhersteller nicht vor. Es gibt auch keine vergleichbare Regel zum unter REACH bekannten „Alleinvertreter“, die es einem solchen Wirkstoffhersteller erlauben würde, die gesetzlichen Pflichten seiner Kunden an einen von ihm benannten Vertreter zu übertragen. Die einzige Möglichkeit besteht darin, dass der europäische Biozidprodukthersteller bzw. -importeur in Kombination mit seinem außereuropäischen Wirkstofflieferanten eine gemeinsame Listung anstrebt. Da eine gemeinsame Listung nicht übertragbar ist und darüber hinaus ein solcher Wirkstofflieferant für jeden Importeur eine eigene Listung anstreben muss, sind „gleiche Wettbewerbsbedingungen“ hier nicht gegeben. Fazit Die Gleichbehandlung von Wirkstofflieferanten ist zweifelsohne eines der am wenigsten umstrittenen Ziele innerhalb des Biozid-Rechts. Die dazu verwendeten Maßnahmen erscheinen jedoch noch nicht ganz ausgereift. Die neuen Hürden für die früheren „Trittbrettfahrer“ könnten den Wettbewerb in die andere Richtung verzerren, da sie zu hoch und zu kurzfristig sind, um mit den ursprünglichen Antragstellern gleichzuziehen. Die offiziellen europäischen Stellen arbeiten derzeit mit Hochdruck daran, entsprechend benötigte Durchführungsverordnungen und Leitfäden zu veröffentlichen. Es bleibt abzuwarten, ob dies die dringend benötigte Klarheit bringen kann. // Kontakt: [email protected] PRAXIS // ARTIKEL 95: WICHTIGE ZU ÜBERPRÜFENDE ASPEKTE – Überprüfen Sie, ob Ihr Wirkstofflieferant gelistet ist und Ihnen auch für die Anwendung in Biozidprodukten vorgesehene Ware verkauft – Solte Ihr Lieferant nicht gelistet sein, nehmen Sie Kontakt auf, ggf. müssen Sie einen Lieferantenwechsel vornehmen – Stellen Sie fest, welcher Akteur innerhalb Ihrer Lieferkette eine Listung beantragen sollte/ müsste – Sollten Sie ein Listung anstreben: Planen Sie genügend Zeit für Verhandlungen zur Datenteilung ein – Überprüfen Sie regelmäßig Ihren R4BP Zugang nach Einreichung des Antrags, um keine Nachrichten oder Fristen der ECHA zu verpassen FAR B E U ND L A CK // 10. 2015
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