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Estomihi – 7.2.2016
Text: 1. Kor. 13
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit
uns allen. Amen.
Liebe Gemeinde!
Es gibt unzählige Lieder über die Liebe, das bekannteste ist sicher das Hohelied der Liebe
des Paulus. „Und wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete und hätte der Liebe
nicht, so wäre ich ein tönendes Erz und eine klingende Schelle.“ Dem können wir zustimmen,
das ist gut, das sagt uns schon unser Gefühl. Vielleicht liegt dieses Gefühl an unserem germanischen Erbe, denn schon in der altnordischen Edda lesen wir: „Wissen ohne Liebe macht
rechthaberisch, Pflicht ohne Liebe macht verdrießlich, Gerechtigkeit ohne Liebe macht hart,
Besitz ohne Liebe macht geizig, Ordnung ohne Liebe macht kleinlich, Macht ohne Liebe macht
gewalttätig, Glaube ohne Liebe macht fanatisch. So lass die Liebe in Dein Leben - sie verwandelt es. Denn Leben ohne Liebe ist sinnlos - Leben in Liebe aber göttlich.“
Und doch beschleicht mich beim Lesen des Hohelieds ein ungutes Gefühl. Es hört sich gut
an, ja – aber zu gut um wahr zu sein. „Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert
nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie bläht sich nicht auf“, und dann: „sie erträgt alles,
sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles.“ Spätestens hier bin ich raus. Eine solche Liebe
habe ich nicht und habe sie nie gehabt. Vielleicht würde ich sie gerne haben, vielleicht auch
nicht einmal das: alles ertragen? alles glauben? alles hoffen und alles dulden? Das ist wirklich
zu viel des Guten.
Mir fehlt etwas an diesem Text. Er ist mir irgendwie zu – zu, wie soll ich es sagen, irgendwie
zu dogmatisch. Hätte der Liebe nicht – kann ich Liebe überhaupt jemals haben, besitzen? Es
ist ja wahr: Wenn ich mich aufblähe, ist von Liebe nicht mehr allzu viel zu spüren. Aber gibt es
da wirklich keinen Spielraum?
Ganz anders geht es mir mit einem Liebeslied, das es in unser Gesangbuch geschafft hat. Es
heißt „Herr, deine Liebe“. Viele mögen es nicht, und unter diesen vielen sind besonders viele
Theologen und Kirchenmusiker. Im Gesangbuch wurde es an die zweite Stelle gesetzt, nach
einer Neufassung – zum Aussterben gedacht wie das alte „Lobe den Herrn“. Und in der Tat,
ein Vergleich zeigt: der neue Text ist konkreter, korrekter. Weit wie das Meer ist Gottes große
Liebe – darunter kann man sich doch mehr vorstellen als unter „Herr deine Liebe ist wie Gras
und Ufer“ – wie leicht kann man sich über diesen Text lustig machen, wie oft ist er schon
verballhornt worden. Und doch – hier und heute bekenne ich: Ich liebe dieses Lied. In der
alten Fassung. Vielleicht liegt es daran, dass ich damit religiös sozialisiert worden bin, dass ich
Ernst Hansen, den Übersetzer, kannte. Aber nein, das ist es nicht wirklich. Ich liebe dieses Lied,
weil es so gar nichts dogmatisch Korrektes hat. Es ist wie ein Standspaziergang, wie wehende
Haare und Freiheit und Ferien und die rauschenden Wellen und Freiheit und Sonne und Wind
auf der Haut und Freiheit und… Wie das Land, so das Lied „Herr deine Liebe“.
Und auch das: Schmerzhaft spüre ich, dass ich in dieser Welt gefangen bin. Unser versklavtes Ich ist ein Gefängnis. Klingt ein wenig pathetisch, aber ist doch wahr: Immer wieder treten
uns dieselben Menschen in die Hacken. Immer wieder werden wir von denselben eigenen
Macken ausgebremst. Immer wieder sehen wir das Ende des Regenbogens, und wenn wir
knapp davor sind, dann verschwindet er. Wie ungerecht das Leben ist, wenigstens manchmal.
Und dann wieder: „Gott, wenn du uns freisprichst, dann ist Freiheit da. Freiheit, sie gilt für
Menschen, Völker, Rassen.“ In diese Hände befehle ich meinen Geist. Nein, viel mehr: Ich
werfe mich in deine Arme, wie ich mich in die Wellen werfe – in der Hoffnung, dass sie mich
tragen, dass ich nicht untergehe, sondern lebendig werde. Und ob es gelingt, das kann ich nur
wissen und erfahren, wenn ich es immer wieder probiere und wage und tue.
Und mit diesem Gefühl wende ich mich wieder dem Hohelied der Liebe zu, und da fängt es
für mich an zu leuchten. Es kommt nämlich nicht darauf an, dass ich etwas habe oder mich um
etwas bemühe: Dass ich Weisheit erlange und dann auch noch Liebe, dass ich alles Wissen
hätte und die Geheimnisse kenne und allen Glauben hätte und dann noch die Liebe dazu. Aber
auch das Gegenteil stimmt nicht: Dass ich auf Weisheit und Glauben und all das verzichten
könnte und nur die Liebe bräuchte und dann wäre alles gut.
Denn die Liebe kann ich nicht erlangen. Ich kann mich ihr nur aussetzen wie dem Wind und
den Wellen und der Freiheit des Meeres. Und wenn ich die Liebe nicht spüre, dann kann es
durchaus sein, dass ich irgendwo bin, wo sie tatsächlich nicht weht. Man kann sich damit sogar
abfinden, kann sich einrichten in einer Welt ohne Liebe, kann sagen: Habe zu viel zu tun und
überhaupt – gibt es das überhaupt, den Ort, wo die Liebe weht? Kann sich einrichten in einer
Gegend voller Hass und Angst – und mir scheint, dass diese Regionen in Deutschland immer
größer werden.
Man kann sich aber auch aufmachen und suchen. Eine Reihe von Filmen handelt davon, wie
Menschen sich – oft im Angesicht des Todes – aufmachen, um noch einmal das Meer zu sehen:
Knockin on Heavens Door zum Beispiel, oder Vincent will meer, ja selbst Spiel mir das Lied
vom Tod nimmt das Motiv auf: Ich will dorthin, wo es gut ist, wo das Meer rauscht, wo das
Leben spielt. Gut, als Norddeutsche haben wir es zum Meer nicht weit. Und als Niendorfer
wissen wir auch, dass es solche Orte der Liebe gibt.
Unsere Gemeinde ist ein solcher Ort. Wenigstens gibt es solche Orte in der Gemeinde. Es
lohnt sich zu fragen, wo sie sind. Es lohnt sich, sich aufzumachen, sie zu suchen.
Und woran erkenne ich, dass ich an einem solchen Ort bin? Na, ganz einfach: Dort, wo die
Menschen geduldig sind und gütig. Wo sie mir ihre Meinung nicht mit Gewalt aufdrängen wollen, wo sie nicht prahlen und sich nicht aufspielen. Und ja, ich weiß: Diese Orte bekomme ich
nicht in Reinkultur.
Aber an der Nordsee sieht es auch nicht ständig so aus wie in der Jever-Werbung. Es ist dort
mal nass und mal kalt und mal nasskalt. Und das Meer gerade dann weg, wenn man es mal
braucht. Aber das macht nichts. Es ist das Meer, es ist die Freiheit. Es ist das Leben. Man kann
es spüren. Und dann, dann bricht wieder die Sonne durch, und alles ist gut.
Und so ist es auch mit der Liebe: Jetzt ist alles nur unvollkommen. Unser Handeln ist durchwachsen von allen möglichen zweifelhaften Motiven. Unser Erkennen ist stückweise – wir kennen nur wenig vom Anderen, von uns, von Gott. Und genau das macht unsere Liebe aus: Dass
wir nicht meinen, dass wir schon alles wüssten. Dass wir unseren Nächsten nicht in Schubladen
stecken. Dass wir neugierig bleiben und offen für Überraschungen. Dass wir Gott suchen. Unsere Liebe ist unvollkommen, und das ist gut so.
Aber es gibt eine Liebe, die vollkommen ist. Sie ist immer da, und wir leben von ihr, wie wir
von der Sonne leben. Und genauso wenig wie wir uns nicht ständig der Sonne aussetzen können – wir würden verbrannt werden – würde diese Liebe uns verbrennen, wenn wir ihr ständig
ausgesetzt wären.
„Gottes Liebe ist wie die Sonne, sie ist immer und überall da.“ Das ist das absolute Lieblingslied unserer Kinder im Kindergarten. Und wir singen: Manchmal wird eine Wolke zwischen dir
und Gottes Liebe sein – aber sie ist immer und überall da. Sie kann dich verändern, heute,
wenn du willst – denn sie ist immer und überall da. Und schließlich: Gib diese Liebe weiter,
grad an den, der dich nicht lieben will. Oder kann. Je nachdem.
Und schon entsteht wieder ein Ort, zu dem Menschen kommen können, wenn sie die Liebe
suchen. Eigentlich ist es ganz einfach.
Und dann doch wieder ganz schwer, unter den Bedingungen dieser Welt. Aber wir sind auf
dem Weg. So wie Luther einmal gesagt hat: „Das christliche Leben ist nicht Frommsein, sondern ein Frommwerden, nicht Gesundsein, sondern ein Gesundwerden, nicht Sein, sondern
ein Werden, nicht Ruhe, sondern eine Übung. Wir sind‘s noch nicht, wir werden’s aber. Es ist
noch nicht getan und geschehen, es ist aber im Gang und im Schwang. Es ist nicht das Ende,
es ist aber der Weg.“
Es ist ein Weg, den wir nicht alleine gehen. Viele Menschen gehen ihn mit – und mit uns
geht Gott. Er behüte uns auf all unseren Wegen.
Amen.