35. Landeswettbewerb Alte Sprachen 2016 „Penelope bei Homer

35. Landeswettbewerb Alte Sprachen 2016
„Penelope bei Homer und Ovid“
(Homer, Odyssee 18, 158- 303; 19, 53-385. 508-604; 20, 1-90; 21, 1-79; 23, 1-240; Ovid,
Heroides 1)
Erwartungshorizont
Die folgenden Beobachtungen zu den Texten stellen nicht die einzig mögliche Lösung der
Aufgabe dar; andere Lösungen werden anerkannt, soweit sie überzeugen.
Das Bild Penelopes, das Ovid in seinem ersten Heroinen-Brief zeichnet, dem
gegenüberzustellen, das aus Homers Odyssee zu gewinnen ist, entspricht in gewisser Weise –
wenn es gestattet ist, Literarisches mit musikalischen Begriffen zu verdeutlichen – der
Aufgabe, einen Sologesang für Mezzosopran mit einer Oper oder einem Oratorium für Soli,
Chor und Orchester zu vergleichen. Die Ausdrucksmittel der Epistel, die Ovid Penelope an
Odysseus richten lässt, sind naturgemäß die eines Briefmonologs und unterscheiden sich
fundamental von der Polyphonie der Odyssee Homers, die Penelope in den Zusammenhang
einer epischen Erzählung stellt, die durch eine dramatische Entwicklung und das
Zusammenwirken menschlicher und göttlicher Gestalten bestimmt ist. Wendet man den
Vergleich zwischen literarischen und musikalischen Gattungen auch auf die Frage an, in
welcher Reihenfolge Ovids Heroinen-Brief und das Epos Homers präsentiert werden sollten,
dann scheint es legitim, wenn auch nicht zwingend geboten, von der chronologisch
naheliegenden Anordnung - erst Homer, dann Ovid - abzuweichen und hier einmal das
jüngere Werk dem älteren voranzustellen.
Nahezu alle Themen, die Ovids Penelope in ihrem Brief behandelt, stammen aus den beiden
homerischen Epen und zeigen, dass Ovid sich die poetische Aufgabe gestellt hat, einen Stoff
des heroischen Epos in die Welt der elegischen Dichtung zu transponieren. Er lässt seine
Heldin den Krieg um Troja und die Rolle ihres Gatten in und nach diesem Krieg mit den
Augen einer liebenden Frau sehen, deren Blick sich nicht auf das Gesamtbild eines von
menschlichen Leidenschaften und göttlichem Walten bestimmten Geschehens richtet,
sondern allein auf den Ausschnitt, der das Schicksal ihres Gatten und dessen Konsequenzen
für ihr eigenes Los betrifft. Welcher Abstand – nicht nur im räumlichen Sinne – die Welt, in
die Odysseus zog, von derjenigen trennt, in der seine Gattin zurückblieb, zeigt Ovid mit
drastischer Anschaulichkeit, indem er Penelope von einem Heimkehrer berichten lässt, der
den trojanischen Kriegsschauplatz vor den Augen des heimischen Publikums mit Rotwein auf
dem Küchentisch skizziert (V. 31-36). Dem entsprechen die Maßstäbe, mit denen die Gattin
des Odysseus den Kampf um Troja beurteilt; es sind nicht die eines Homerlesers, der sich von
dem faszinierende Panorama eines gewaltigen Geschehens beeindrucken lässt, sondern die
einer liebenden Frau, die durch dieses Geschehen ihren Gatten so lange, vielleicht sogar für
immer, entbehren musste. Dass der Feldzug inzwischen siegreich beendet wurde, kann ihr
nicht viel bedeuten; im Grunde war Troja den ganzen Aufwand kaum wert (V. 4) und den
ehebrecherischen Verursacher des Verhängnisses, Paris, hätten am besten schon auf seiner
Fahrt nach Sparta die wütenden Wogen verschlungen (V. 5f.). Wie viel Einsamkeit, Mühsal
und ängstliche Sorge wäre ihr damit erspart geblieben (V. 8-11)! Die Kunde von griechischen
Kriegern, die Hektor getötet hat, erregte in Penelope nur Furcht und Sorge, dass auch ihr
Gatte dieses Schicksal erleiden könnte (V. 12-22). Wenn Troja schließlich fiel und unter den
Überlebenden auch Odysseus war, so sieht Penelope darin kein olympisches Gottesurteil zu
Gunsten der Griechen, sondern das Walten einer Gottheit, die Sorge für den Schutz reiner
Liebe trug (V. 23f.).
Auf das, was Telemach über die Taten seines Vaters von Nestor erfuhr und seiner Mutter
berichtete, reagiert Penelope in vorwurfsvollem Ton. Die tollkühnen Wagnisse, die Odysseus
auf sich nahm, lassen sie glauben, dass er dabei seine Familie allzu sehr vergaß (V. 41-43);
die Bemerkung, dass er wohl vorsichtig zu Werke gegangen sei und zuvor an sie gedacht
habe, klingt nach bitterer Ironie, wenn sie im selben Atemzug betont, dass sie beim Bericht
über seine Rückkehr vom Rhesus-Abenteuer vor Angst gezittert habe (V. 44-46). In
fragwürdigem Licht erscheint ihr auch die Bedeutung des Kriegsendes, das mit dem Fall
Trojas nur für andere, nicht aber für sie selbst stattgefunden hat, da ihre Situation danach die
selbe blieb wie zuvor und die Trennung von Ihrem Gatten kein Ende fand (V. 47-56). Zu
ihrem bedauernswerten Los trägt vor allem das Ausbleiben jeglicher Nachricht vom Schicksal
ihres Gatten bei (V. 59-65). Nicht zu wissen, was sie fürchten soll, treibt sie unsinnigerweise
dazu, alles zu fürchten (V. 71). Auf dem weiten Feld der Sorgen, das sich damit für sie öffnet,
kommt der Sorge um die eheliche Treue ihres Mannes, für den sie vielleicht nur noch eine
„Frau vom Land“ (rustica coniunx, V. 77) ist, besondere Bedeutung zu (V. 72ff.). Solche
Befürchtungen ändern indessen nichts an ihrer eigenen unverbrüchlichen Treue, die auch vom
Drängen ihres Vaters, eine neue Ehe einzugehen, von der Bedrängnis durch die Schar der
Freier und die Hoffnungslosigkeit ihrer Situation nicht erschüttert werden kann (V. 81-109).
Mit ihr harren auch Telemach und Laertes sehnsüchtig der Rettung durch die Rückkehr des so
lange Vermissten, die freilich, auch wenn sie bald stattfindet, nichts daran ändern kann, dass
Penelope inzwischen zu einer alten Frau geworden ist (V. 110-116). So endet das Klagelied
ihrer (noch) unerfüllten Sehnsucht in einem Tonfall, der in der Sprache der Musik gewiss in
einer moll-Tonart erklingen würde.
Stellt man dem ovidischen Bild Penelopes nun das der Odyssee gegenüber, so liegt zunächst
die Frage nahe, wodurch sich die Darstellung und die Ausdrucksmittel des Epos von denen
eines elegischen Briefs unterscheiden. Von fundamentaler Bedeutung ist hier vor allem der
Umstand, dass der Dichter der Odyssee nicht eine fiktive Selbstdarstellung seiner Heldin
bietet, sondern die Züge dieses Bildes im Zusammenhang der Erzählung eines dramatischen
Geschehens in Erscheinung treten lässt. Wie Ovids Penelope ist auch die der Odyssee von
Sehnsucht und zweifelnder Ungewissheit erfüllt, doch während dieses Merkmal den
elegischen Brief Ovids vom Anfang bis zum Ende ohne irgendeine Änderung bestimmt und
dem Bild Penelopes damit einen völlig statischen Charakter verleiht, findet in der Odyssee die
Sehnsucht nach Vereinigung, von der nicht nur Penelope, sondern ebenso auch Odysseus
erfüllt ist, ihre Erfüllung. So entwickelt sich in den Büchern 18 bis 23 der Odyssee mit dem
äußeren Geschehen auch das Bild Penelopes und das Verhältnis zu ihrem Gatten von
zweifelnder Unsicherheit über tastende Annäherung und immer deutlichere Zeichen der
Verbundenheit bis zur Gewissheit der ersehnten Vereinigung.
Ihre erste Begegnung (19, 53-385) zeigt Penelope in einer Situation, die in bezeichnender
Parallelität zu der des Odysseus bei seiner Ankunft in Ithaka steht: Wie Odysseus die ersehnte
Heimat erreicht hat, sie aber nicht erkennt, so steht Penelope ihrem sehnlichst erwarteten
Gatten gegenüber und erkennt ihn nicht. Doch diese Penelope ist vom Dichter der Odyssee
nicht, wie Ovids „Heroin“, als schwache und hilflose Frau gezeichnet, die sich in völliger
Abhängigkeit von ihrem Gatten sieht und dabei sogar mit der Möglichkeit rechnet, von ihm
als „Frau vom Lande“ betrachtet und gering geschätzt zu werden (s.o.). Sie steht ihrem Gatten
als eine zwar von vielfachem Unheil bedrängte, aber trotzdem selbständig handelnde und
selbstbewusst entscheidende Persönlichkeit gegenüber, wie ihre Haltung gegenüber Telemach
(18, 158-242) und gegenüber den Freiern (18, 243-303) erkennen lässt. So geht auch im
Gespräch mit dem „Fremden“, den sie nicht als Bettler, sondern als Gast behandelt, die
Initiative von ihr aus, wenn sie ihn auffordert, seine Identität zu erklären, und Beweise für die
Zuverlässigkeit seines Berichts verlangt (19, 104f. und 215-219). Mit der Erfüllung dieses
Verlangens wird der Fremde für sie bereits vom „Bemitleidenswerten“ zum „Befreundeten
und Geachteten“ (19, 253f.) und ihre Aufforderung, Eurykleia solle ihm ein Fußbad bereiten,
begründet sie mit dem Hinweis, von allen Fremden, die in ihr Haus gekommen seien, sei
keiner „an Gestalt, an Stimme und an Füßen dem Odysseus so ähnlich“ gewesen wie er (19,
380f.). Dass nicht nur ihr ahnungsvolles Empfinden Penelope immer stärker mit dem noch
immer unerkannten Fremden verbindet, sondern auch die Planung und Vorbereitung ihres
Handelns, zeigt die Fortsetzung des Gesprächs, in der das Geschehen, das den kommenden
Tag bestimmen soll, zur Sprache kommt. Für diesen Tag hat Penelope einen Wettkampf
angesetzt, bei dem sich die Freier im Bogenschießen messen sollen und der Sieger Penelope
als Gattin gewinnen soll (19, 570-581). Im Zusammenhang damit erbittet Penelope von ihrem
Gegenüber die Deutung eines Traums, in dem zwanzig Gänse, die ihr gehörten, zu ihrem
Entsetzen von einem Adler getötet wurden, der auf ihr Klagen und Weinen hin mit
menschlicher Stimme sprach und sich als ihr Gatte Odysseus zu erkennen gab, der, wie der
Adler den Gänsen, den Freiern ein blutiges Ende bereiten werde (19, 535-553). Deutlicher als
mit diesem Traum, dessen Botschaft der zur Deutung Aufgeforderte bereitwillig bestätigt,
kann kaum ausgedrückt werden, dass Odysseus und Penelope nicht nur in der
Auseinandersetzung mit den Freiern zusammenwirken, sondern dass sie in ihrem Innern
bereits zu einer Einheit geworden sind.
Ein weiteres Wesensmerkmal dieser Gemeinsamkeit, die in Homers Darstellung die Gatten
verbindet, ist der göttliche Schutz, den Athene Odysseus in Not und Gefahr stets zuteilwerden
ließ (20, 47f.) und den auch Penelope in ihrem nächtlichen Gebet an Artemis erfleht (20, 6190). Dieses Vertrauen auf Schutz und Rettung durch die Gottheit, das im Brief der Penelope
Ovids wiederum keine Entsprechung hat, bewährt sich in dem dramatischen Finale, das mit
der Ermordung der Freier den Weg zur endgültigen Vereinigung der Gatten ebnet. Da
Penelope, der Aufforderung ihres Sohnes folgend, den Schauplatz des Kampfes vor seinem
Beginn verlässt und von Athene in süßen Schlummer versetzt wird (21, 354-358), findet die
Botschaft Eurykleias, dass die Freier getötet seien und dass es der in der Gestalt des Bettlers
heimgekehrte Odysseus war, der diesen Sieg errungen hat, zunächst bei Penelope noch keinen
Glauben (23, 1-68). Wie eine Betäubung und Erstarrung erlebt sie ihr Unvermögen, nach all
den Jahren vergeblichen Hoffens und Wartens nun wahrhaftig an die Erfüllung ihres
sehnlichen Verlangens zu glauben, und verlangt als Beweis für das Unfassbare ein letztes
Zeichen, von dem sie weiß, dass es nur von ihrem geliebten Gatten gegeben werden kann (23,
105-110). Mit dem Bestehen dieser Prüfung löst sich die letzte Spannung zweifelnder
Ungewissheit und sie löst sich in einem Strom von Tränen (23, 205-208 und 231f.), mit dem
die Erfüllung brennender Sehnsucht wohl glaubhafteren und angemesseneren Ausdruck
findet, als es durch alle Freuden- und Jubelrufe möglich wäre.