Informationszentrum Epilepsie (ize) der Dt. Gesellschaft für Epileptologie e.V. Reinhardtstr. 14 10117 Berlin Tel: 0700/13141300 (0,12 €/min) Fax: 0700/13141399 Internet: www.izepilepsie.de Neugeborenenanfälle Autor: Hartmut Siemes, aktualisiert 11/2008, Dietz Rating 034 Zusammenfassung • Neugeborenenanfälle sind Ausdruck unterschiedlicher Hirnfunktionsstörungen und Hirnschädigungen; sie treten daher bei unreifen Kindern (Frühgeborenen) häufiger als bei reifen auf. • Das unreife Gehirn eines Neugeborenen ist schlechter in der Lage, Anfallstypen wie im späteren Leben hervor zu rufen. Die Anfälle sind daher amorpher, oft sieht man nur kurze Muskelzuckungen als zu späteren Lebensabschnitten ein Wandern der Anfälle von einer Körperregion zu einer anderen zu beobachten ist. Ferner sieht man sehr oft sog. fragmentarische Krampfanfälle, die sich nur als Atempause, Augenzittern, Blinzeln, Mund- und Schluckbewegung oder rudernde Bewegung der Gliedmaßen äußern. Es ist häufig äußerst schwierig, diese Phänomene nur allein auf Grund der klinischen Beobachtung sicher als Anfälle zu erkennen. • Es hat sich als sinnvoll erwiesen, in Abhängigkeit von der Ursache, die Behandlung der Anfälle mit Antiepileptika auf nur wenige Wochen zu beschränken. • Die Prognose der Epilepsie ist entscheidend durch die Grunderkrankung bestimmt. Erscheinungsbild Das Erscheinungsbild der Neugeborenenanfälle ist außerordentlich vielfältig, was das Erkennen der beobachteten Ereignisse als epileptische Anfälle sehr erschwert. Die großen (generalisierten tonischklonischen) Anfälle sind wegen der Unreife des Gehirns bei Reifgeborenen eher die Ausnahme und kommen bei Frühgeborenen überhaupt nicht vor. Typisch für Anfälle bei Neugeborenen sind rhythmische Zuckungen der Arme, der Beine in Einzahl oder Mehrzahl, von Teilen des Gesichts oder des Körpers, wobei diese Zuckungen (Kloni bzw. Myoklonien) auch von Körperteil zu Körperteil wandern können. Andere Anfallsformen stellen anhaltende Versteifungen der Arme, der Beine oder des Körpers dar. Besondere Schwierigkeiten bereitet das Erkennen sog. fragmentarischer oder subtiler Krampfanfälle, welche sich in Form von Atempausen, Hautverfärbungen, Wegdrehen der Augen, Augenzittern, Blinzeln, wiederholten Mund- und Schluckbewegungen, Paddelbewegungen der Arme und Strampelbewegungen der Beine, eines abrupten Anstiegs / Abfalls der Herzfrequenz äußern. Gerade die teilweise wenig eindrucksvollen subtilen Anfälle treten häufig in Verbindung mit einer schweren Hirnschädigung auf. Die genaue Festlegung eines Anfalls kann dadurch schwer werden, dass man im gleichen Kind alle drei Phänomene nebeneinander sehen kann: 1. Klinischer Krampfanfall mit begleitenden typischen EEG-Veränderungen, 2. Gleichartiger klinischer Anfall ohne jede EEG-Veränderung (vermutlich selten, evtl. 10 % d.F.), 3. Elektroenzephalographischer Anfall ohne jede klinische Veränderung. Dies ist insofern von Bedeutung, da die Anfälle des Neugeborenen häufig lang (i.e. über Stunden!) andauern können. 1 Ursachen Es ist sinnvoll die Neugeborenenanfälle in drei große Gruppen zu unterteilen: 1. als Folge einer akuten Störung der Elektrolyt- / Blutzuckerregulation 2. als Folge einer zugrunde liegenden Hirnschädigung a. nach vorangegangenen Hirnschädigung (z.B. Sauerstoffmangel, Blutung, Infarkt, Infektion) b. im Rahmen einer metabolischen Grunderkrankung i. B6-Mangel ii. B6-Phosphat Mangel iii. andere metabolische Erkrankungen (u.a. Störung der Verstoffwechselung der Aminosäuren, der organischen Säuren, des Harnstoffs, Biotinidasemangel, FolsäureMangel) c. im Rahmen einer ZNS Fehlbildung 3. auf Grund einer genetischen Disposition a. Benigne familiäre Neugeborenenkrämpfe b. Benigne non-familiäre Neugeborenenkrämpfe Die Intern. Liga gegen Epilepsie (ILAE) räumt den Krampfanfällen in der Neugeborenenperiode einen besonderen Status ein und vermeidet auch, von Epilepsien zu sprechen; somit entfällt auch die sonst übliche Unterteilung in symptomatische, kryptogene und idiopathische Epilepsien. Das Neugeborene ist besonders gefährdet, einen cerebralen Krampfanfall zu erleiden; bei Frühgeborenen ist dieses Risiko noch einmal größer. Während man für den gesamten Zeitraum bis zum 14. Lebensjahr von einer Häufigkeit der Epilepsie (Prävalenz) von etwa 0.7 / 1.000 ausgeht, ist dieses Risiko bei Reifgeborenen mit 1 – 2 / 1.000 Lebendgeborene und mit bis zu 25 / 1.000 bei den unreifen Frühgeborenen um ein Vielfaches größer. Ein Grund hierfür ist, dass wichtige Regulationsvorgänge von den Neugeborenen noch nicht stabil genug gesteuert werden können und es deshalb zu einem Mangel an Körpersalzen = Elektrolyten (besonders häufig ein Calcium- oder ein Magnesium Mangel) oder des Blutzuckers (Unterzuckerung = Hypoglykämie) kommt. Ein anderer Grund ist, dass es unter der Geburt zu einer Blutung, einem Infarkt oder einem Sauerstoffmangel gekommen ist, der über die damit verbundene Hirnschädigung Krampfanfälle hervorruft. Frühgeborene sind von diesen Problemen der Regulation bzw. von Blutungen / Sauerstoffmangel deutlich häufiger betroffen als Reifgeborene. Sehr viele Stoffwechselerkrankungen manifestieren sich mit Krampfanfällen in der Neugeborenenperiode, da sie entweder mit Störungen der Blutzuckerkonzentration einhergehen oder aber – aufgrund des Stoffwechseldefektes – im Körper entstehende toxische Stoffwechselprodukte nicht entgiftet werden können. Dem Vitamin B6- bzw. B6-Phosphat-Mangel liegen genetisch fixierte Abbaustörungen zugrunde, die den Neurotransmitter GABA betreffen. Meistens beginnen die Anfälle noch in der Neugeborenenperiode ( = während der ersten 4 Lebenswochen), manchmal jedoch erst im Säuglingsalter. Nur die (gutartigen) Benignen familiären und nicht-familiären Neugebornenkrampfanfälle werden von der ILAE als (idiopathische) Epilepsien aufgefasst. Bei den familiären Neugeborenenkrampfanfällen ist es notwendig, gezielt die Großeltern zu befragen, da die Eltern in der Regel nicht wissen, dass bei ihnen direkt nach Geburt Krampfanfälle aufgetreten waren. Beide Epilepsie-Syndrome stehen der Gruppe der „Gutartigen Epilepsien“, zu denen die Rolando Epilepsie, die gutartige familiären und nichtfamiliäre Epilepsien des Säuglingsalters („Watanabe-Epilepsie“) gerechnet werden, nahe. Für die Benigne familiäre Epilepsie sind inzwischen Gendefekte auf dem Chromosom 8 (Gen: KCNQ3) und dem Chromosom 20 (Gen: KCNQ2) beschrieben. Beide Genorte kontrollieren den Aufbau sehr 2 spezifischer Ionen-Kanäle in den Hirnzellen; die veränderte Struktur der Ionen-Kanäle führt zu einer Veränderung des Membranpotentials der Nervenzelle und über noch nicht ganz verstandene Mechanismen zum Beginn von Anfällen / einer Epilepsie. Da die Anfälle der ebenfalls gutartigen Benignen nicht-familiären Neugeborenenkrämpfe erstmals um den 5. Lebenstag auftreten, wurden sie in der Vergangenheit auch als „fifth day convulsions“ bezeichnet. Die Ursache dieses Epilepsiesyndroms ist unklar; der Verdacht auf eine Infektion oder einen Zink-Mangel als Ursache konnte nicht bestätigt werden. Diagnostik Wie in jedem anderen Lebensalter ist das EEG auch im Neugeborenenalter meist eine große Hilfe zur Diagnosestellung epileptischer Krampfanfälle. Dieses ist aber nicht immer der Fall, denn die für epileptische Anfälle sonst typischen Potentiale finden sich im Neugenborenenalter auch während eines Anfalles nicht immer im EEG. Umgekehrt können diese Potentiale sichtbar sein, ohne dass sich am Kind irgendeine Veränderung zeigt. Das EEG hilft in der Regel nur wenig, die Ursache der Krampfanfälle zu klären. Bei jedem Neugeborenen mit einem ersten Anfall sind die sofortige Messung der Elektrolyte im Blut und des Blutzuckers notwendig. Zum Ausschluss von Blutungen, Infarkten werden die modernen bildgebenden Verfahren eingesetzt: Ultraschalluntersuchung, die Computertomographie und die Kernspintomographie. Die Ultraschalluntersuchung - als Bed-side Untersuchungsmethode – liefert als Orientierungsuntersuchung wesentliche Hinweise. Ein stattgehabter Sauerstoffmangel beim Frühgeborenen kann durch den in den ersten 10 Tagen ganz charakteristischen Ablauf der Veränderung in der Sonographie (vom Normalbild innerhalb der erste 24 – 48 Stunden, über die engen Ventrikel als Zeichen eines Hirnödems, zu den sich dann ab dem Ende der ersten Lebenswoche ausbildenenden periventrikulären Leukomalazien) bewiesen werden. Blutungen können dem Ultraschall entgehen. Bei ungeklärter Situation ist daher meist eine kernspintomographische Untersuchung notwendig; hier kann nicht nur die Blutung oder der Infarkt sondern mit der sog. Perfusionssequenz der sich anbahnende Schaden nach einem Sauerstoffmangel bereits innerhalb der ersten 24 Stunden abgeschätzt werden. Die MRT ist auch geeignet, ZNS-Fehlbildungen aber auch andere u.a. Infektionen, neurodegenerative Krankheiten, Stoffwechselerkrankungen zu diagnostizieren. Behandlung und Zukunftsaussichten Das Prinzip bei der Behandlung von Neugeborenen muss sein, die behandelbaren Ursachen der Neugeborenenkrämpfe rasch zu diagnostizieren und zielgerichtet zu therapieren. Somit ist beim ersten Krampfanfall – spez. bei einem noch krampfenden Kinde - nach Sicherung von Blut zur Diagnosestellung die Gabe von Glucose, Calcium bzw. Magnesium notwendig. Es ist guter klinischer Brauch, wenn die Anfälle nach diesen Maßnahmen nicht sistieren, Vitamin B6 zu verabreichen. Erst danach werden die klassischen Antiepileptika eingesetzt. Unbestritten ist Phenobarbital Antiepileptikum der ersten Wahl, über das die meiste klinische Erfahrung in der Altersklasse existiert; kein anderes Medikament hat eine so breite Wirkung und ist so unkompliziert zu handhaben. Bei ungenügender Wirksamkeit werden Benzodiazepine gegeben. Nachfolgend kommt Phenytoin zum Einsatz, das – intravenös gegeben - auch sehr gut wirkt; die orale Behandlung (Tabletten) mit Phenytoin scheitert jedoch meist, da das Medikament in nicht vorhersehbaren Mengen aus dem Magen-Darmtrakt aufgenommen wird, konstante Konzentrationen im Blut („Blutspiegel“) in der Regel nicht erzielt werden können. Da Neugeborenenkrämpfen Stoffwechselerkrankungen zu Grunde liegen können, wird Valproat nicht benutzt. Für Levetirazetam und Topiramat liegen jetzt erste positive Erfahrungen vor. Während man vor 10 - 20 Jahren die Kinder häufig bis zum Ende des 1. Lebensjahres mit Antiepileptika behandelte, wird heute, speziell wenn die Kinder rasch anfallsfrei wurden, das EEG keine erhöhte Anfallsbereitschaft zeigt, versucht, die Medikation noch während des stationären Aufenthaltes zu beenden. Die Fortschritte der Intensivpflege von Früh- und Neugeborenen in den letzten Jahrzehnten hat zu einer erheblichen Verbesserung der Zukunftsaussichten (Prognose) der Kinder mit Neugeborenenanfällen geführt. Die Prognose ist aber entscheidend von der Ursache der 3 Krampfanfälle, weniger von den ergriffenen medizinischen Maßnahmen abhängig. Im Mittel kommt es bei ca. 30 % betroffenen Kindern zu Folge-Epilepsien. Weiterführende Materialien • • • Albani, M.: Neugeborenenkrämpfe und Epilepsiesyndrome in der Neonatalperiode. In: Besser, R., Gross-Selbeck, G., Boenigk, H.E. (Hrsg): Epilepsiesyndrome-Therapiestrategien. Thieme, Stuttgart 1993, 29-50 Doose, H.: Epilepsien im Kindes- und Jugendalter. 10. Auflage. Desitin, Hamburg 1995 Siemes, H., B.F.D. Bourgeois: Anfälle und Epilepsien bei Kindern und Jugendlichen. Thieme, Stuttgart 2001 Video • Übererregbarkeitssyndrom und Anfallsbilder im Neugeborenenalter (17 Min.) Standardhinweis Dieses Informationsblatt enthält keine individuellen Behandlungshinweise. Es könnte jedoch von Hilfe sein, gezielt Themen, die für Ihr Kind, die Epilepsie Ihres Kindes, von Bedeutung sein könnten, mit Ihrem behandelnden Arzt zu diskutieren. Wissenschaftlicher Beirat: Prof. Dietz Rating, Prof. Bernd A. Neubauer Herausgeber: Dt. Gesellschaft für Epileptologie e.V. 4
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