Rassismus und Gleichstellung werden besprochen

ZÜRICH 27
LIMMATTALER ZEITUNG
MONTAG, 27. JULI 2015
Rassismus
Neonazi attackierte
orthodoxen Juden
Am 4. Juli attackiert «Amok»-Sänger
Kevin G. einen 40-jährigen orthodoxen Juden in Zürich Wiedikon. Kurz
nach 18 Uhr sei der gläubige Mann auf
dem Heimweg von der Synagoge gewesen, als eine rund 20-köpfige Gruppe Männer ihn anpöbelte. Wie die
«Sonntagszeitung» gestern berichtete,
sei Kevin G. der Anführer gewesen.
Auf die Nachfrage des Gläubigen, was
denn das Problem sei, habe ihm Kevin G. ins Gesicht gespuckt und
«Scheissjude» sowie «Heil Hitler» geschrien. Danach habe er den orthodoxen Juden geschubst und ihm gesagt,
er solle nach Auschwitz gehen. Erst
als die durch Passanten alarmierte
Polizei eingetroffen sei, liess Kevin G.
von seinem Opfer ab.
Polizei informiert bis heute nicht
Kantonspolizist Thomas Gerber beim Referat «Brückenbauer», ein Integrationsprojekt beim somalischen Verein in der SBB -Kantine im Hauptbahnhof.
FOTO: HEINZ DIENER
Rassismus und Gleichstellung
werden besprochen
VON THOMAS MARTH
Der Somalische Kulturverein lädt ein zu
einer Begegnung mit der Polizei. Rund
zwei Dutzend somalische Männer finden sich zu dem Anlass ein. Vorgesehener Beginn: 19 Uhr. Eine Viertelstunde
vorher sind schon alle Stühle besetzt.
Thomas Gerber und Petrin Gattlen werden gebeten, mit dem Kurs zu beginnen. Die beiden sind Zürcher Kantonspolizisten, als solche stehen sie unter
anderem auch als «Brückenbauer» im
Einsatz. Den zweistündigen Kurs, den
sie nun geben werden, halten sie unter
anderem im Rahmen von Deutschkursen in Zentren der Asylorganisation Zürich (AOZ). Aber auch Vereine und andere Einrichtungen können anfragen,
wie das nun der Somalische Kulturverein SomaliSwiss Diaspora getan hat.
Gerber stellt sich vor – KV, Polizeischule, verheiratet, drei Kinder – und
fordert die Teilnehmer auf, es ebenfalls zu tun. Praktisch alle sind verheiratet und in der Schweiz seit vier, sieben, zwölf bis 20 Jahren. Praktisch alle haben Kinder: zwei bis fünf. Es
werden diverse Berufe genannt: bei
der Cablecom, im Spital, im Service.
Ein beliebtes Hobby ist Fussball, generell Sport (selber oder am TV). Genannt werden auch: Golf, Billard, Politik oder Lernen.
Zertifikat zum Schluss
Die Männer reden recht leise, fliessend Deutsch spricht kaum jemand.
Die in der Vorstellungsrunde genannten Lebenssituationen lassen aber doch
auf eine gelungene Integration schliessen. «Schon», sagt dazu einer später in
der Pause, «aber in was für Jobs?» Ein
Bedauern ist da herauszuhören, aber
auch Bildungshunger. Deshalb seien sie
alle hier, sagt er. Der Abend ist Teil eines Integrationskurses ihres Kulturvereins in 18 Blöcken zu verschiedenen
Themen. Die erfolgreiche Teilnahme
wird am Schluss mit einem Zertifikat
beglaubigt.
In ihrem Herkunftsland wären die
Kursteilnehmer
wohl
Mittelstand,
staatstragend – aber Somalia war lange
kein Staat mehr. Es herrschte Bürgerkrieg, teils bis heute, es gibt radikalislamische Anschläge und Überfälle. Immerhin gelang es 2012, nach mehr als
20 Jahren, wieder eine Regierung für
das ganze Land zu installieren.
Nachdem nun einige auch noch
pünktlich erschienen sind, ist die Kursgruppe auf mehr als 30 Personen angewachsen. Es gibt unter ihren Landsleuten auch zwielichtige Gestalten, sind
sich die Anwesenden bewusst. Einer
fragt: Was, wenn er im HB nach dem
Weg gefragt werde von einem ihm unbekannten Landsmann, er mit diesem
dann ein Stück mitgehe, sie in eine
Kontrolle gerieten und sich der andere
als Dieb entpuppe? Kontrollen durch
die Polizei geben Anlass zu mehr als einer Frage an diesem Abend.
Vom Verhalten hängt es ab
Gerber gibt Tipps: ruhig stehen bleiben; abwarten, was verlangt wird; sagen, dass man nicht so gut Deutsch
kann, und die Polizisten bitten, langsam zu sprechen. Von Vorteil hat man
einen Ausweis dabei, auch wenn es
nicht Vorschrift ist. Gerber erklärt: Ob
die Polizei jemanden kontrolliere, hänge vor allem vom Verhalten dieser Person ab. Wer zum Beispiel am Morgen
früh um 7 Uhr im Bahnhof nur herumstehe, falle auf. Kein Grund für eine Po-
lizeikontrolle dürfe die Hautfarbe sein,
betont er auf eine entsprechende Zwischenfrage hin. Sollte es trotzdem vorkommen, verurteile er das.
Für Gerber sind dies die Momente,
auf die es ankommt an diesem Abend.
Er will aufzeigen, was die Polizei darf,
aber auch, was man von ihr erwarten
kann. So hatte er es eingangs dargelegt.
Das Ziel: gegenseitiger Respekt.
Somalia ist ein muslimisches Land.
Gerber kommt auf die Gleichstellung
zu sprechen. Auch den Anweisungen
einer Polizistin ist Folge zu leisten, sagt
er. Das etwas verdrückte Gelächter im
Publikum deutet an, dass man alles
andere auch komisch fände.
Wo scheitert die Integration?
Gerber erklärt, dass die Polizei bei
häuslicher Gewalt eingreifen kann und
muss. Einer kritisiert, dass sie sich dabei stets auf die Seite der Frau schlage.
Gerber verneint dies. Jedoch sprächen
oft praktische Gründe für eine Wegweisung des Mannes statt der Frau, vor allem wenn auch Kinder im betroffenen
Haushalt leben.
Wo sind eigentlich die Frauen an diesem Abend? Zu Hause, sagt einer in der
Pause. Für die Frauen gebe es einen anderen Kurs. Mal ganz direkt gefragt: Wo
scheitert die Integration? Bei den ganz
grossen Familien, sagt einer. An die
komme man schlecht heran. Warum eigentlich so viele Kinder? «Kinder sind
unser Reichtum», sagt ein anderer.
Es kämen nun weniger Somalier in
die Schweiz, weiss der Kursteilnehmer
zu berichten, der am längsten hier ist.
Nicht nur wegen des mittlerweile beschwerlichen Weges über das Mittelmeer sei dies so («Früher konnte man
einfach ins Flugzeug steigen»). Es habe
sich herumgesprochen, dass hier auch
nicht das Paradies sei.
Viel Geld in Couvert
Wieder im Plenum erzählt ein Kursteilnehmer von einem Somalier, der kontrolliert und länger festgehalten wurde, weil
er 2000 Franken auf sich getragen habe.
Er verstehe das nicht. So viel Geld dabei
zu haben, ist hier nicht üblich, erklärt ihm
Gerber. Ein anderer sagt, dass er einen
grösseren Betrag eingeschrieben versandt
habe und das Couvert leer angekommen
sei. Was er da tun könne? Gerber gibt den
Rat, Anzeige zu erstatten. Er weist darauf
hin, dass es geeignetere Möglichkeiten
gibt, Geld zu transferieren.
Zum Auftakt des Kurses hatte er die
Teilnehmer gebeten, Stichworte zum Thema Polizei aufzuschreiben. An der Pinnwand standen dann neben Begriffen wie
«Friede» und «Sicherheit» auch solche
wie «Rassismus» und «Angst». Zumindest für den Moment scheinen die negativen Gefühle nun aber überwunden.
Der Kurs ist zu Ende und ein Gruppenbild ist erwünscht. Die Stimmung ist gelöst; die Kursteilnehmer drängeln sich
um die zwei Polizisten, die sie in ihre
Mitte geholt haben.
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Brückenbauer Die Zürcher
Kantonspolizei bemüht sich
um den Kontakt zu Menschen
aus anderen Kulturen – etwa
aus Somalia. Ein Augenschein
an einem Kurs zeigt, wie der
Brückenschlag gelingen kann
– zumindest für den Moment.
SOMALISCHEN KULTURVEREIN SOMALISWISS
Integrationskurs mit breitem Themenspektrum – rege Nachfrage
S
eit 2008 unterhält die Kantonspolizei Zürich die Abteilung
Brückenbauer. Die als Brückenbauer tätige Polizisten treten als
Kontaktpersonen zu Menschen und
Institutionen aus fremden Kulturkreisen auf. Sie informieren über
Rechte und Pflichten, Gesetze, Kultur und Bräuche in der Schweiz sowie die Aufgaben und Tätigkeiten
der Polizei. Das Ziel lautet, Vertrauen herzustellen.
Der beschriebene Kursabend in Zürich war eines von 18 Modulen im
Rahmen eines Integrationskurses,
der vom Somalischen Kulturverein
SomaliSwiss Diaspora durchgeführt
wurde. Konzipiert wurde der Kurs
von NCBI (National Coalition Building Institut) Schweiz mit Sitz in
Thalwil. Die Organisation setzt sich
unter anderem
ein für den Abbau
von Vorurteilen,
gegen Diskriminierung und für
konstruktive Konfliktlösung, wie
sie auf ihrer Website schreibt.
Der besagte Kurs
wird durch den Kanton Zürich finanziert.
Das Angebot stosse bei seinen Landsleuten auf grosses Interesse, sagt Bashir
Gobdon (Bild). Er ist Präsident des Somalischen Kulturvereins SomaliSwiss
Diaspora. Der Integrationskurs findet
bereits zum dritten Mal statt. Themen
Die Stadtpolizei Zürich informierte
bis heute nicht über den Vorfall. Gegenüber der «Sonntagszeitung» sagte
deren Sprecherin Judith Hödl, dass es
zu «Tätlichkeiten einer Gruppe Männer gekommen sei», solange die Abklärungen noch liefen, könne sie jedoch nicht mehr dazu sagen. Recherchen der «Sonntagszeitung» zeigen
aber, dass es sich beim Angreifer um
Kevin B., dem Sänger der Schweizer
Neonazi-Band «Amok», handelt. In
einer provisorischen Strafanzeige
werde er als Haupttäter aufgeführt.
Der Hombrechtiker ist der Polizei bereits wegen Drohung, Rassendiskriminierung und Waffenbesitz bekannt. Am kommenden 1.- AugustWochenende ist ein Auftritt der Band
geplant. Unter dem Motto «Rock fürs
Vaterland» soll am Nationalfeiertag
ein internationaler Anlass der rechtsradikalen Szene im Grossraum Zürich stattfinden.
Der Schweizerische Israelische Gemeindebund (SIG) fordert die Behörden laut «Sonntagszeitung» zu erhöhter Wachsamkeit auf. Generalsekretär
Jonathan Kreutner: «Was am 4. Juli
passierte, macht die SIG sehr betroffen.» (AZ)
sind etwa die Geschichte der Schweiz
oder Versicherungen (Krankenkasse,
zweite Säule). Wer keine Arbeit hat,
wird motiviert, sich eine zu suchen –
und erhält Tipps, wie. Darüber hinaus
werden auch heikle gesellschaftliche
Aspekte wie Rassismus angesprochen.
Der Wille zur Integration sei vorhanden, sagt Gobdon. Man sei dabei aber
auf unterstützende Angebote angewiesen und schätze sie entsprechend.
Gobdon kam vor 27 Jahren in die
Schweiz. «Mir hat so etwas damals gefehlt», sagt er.
Es gibt auch ein Kursangebot für Frauen – allerdings nicht in dieser Ausführlichkeit, wie Gobdon erklärt. Die Frauen seien mit familiären Aufgaben absorbiert. Man sei dabei, nach Lösungen
zu suchen. (TMA)
Unfall
Bub von Tram
am Kopf verletzt
Am Samstagmorgen gegen 11 Uhr erfasste ein Tram an der Bahnhofstrasse
auf der Höhe Uraniastrasse einen 5jährigen Buben. Das Tram der Linie 7
war in Richtung Paradeplatz unterwegs. Laut Angaben von «20 Minuten» habe sich der Junge das Glockenspiel angehört und wollte danach zu
seinen Eltern auf der anderen Strassenseite, als das Tram ihn anfuhr.
«Ich habe nur noch Schreie gehört»,
sagte eine Leser-Reporterin gegenüber «20 Minuten». Ihren Angaben
zufolge handelt es sich bei den Eltern
des Jungen um Touristen aus den Vereinigten Arabischen Emiraten. Laut
Stadtpolizei Zürich habe der Junge
mit Kopf- und Gesichtsverletzungen
ins Spital gebracht werden müssen, er
sei mittelschwer verletzt. Die Bahnhofstrasse war für den Verkehr fast
zwei Stunden gesperrt. (AZ)
Bildung
ETH-Rektorin hält
Studenten für passiv
ETH-Rektorin Sarah Springman kritisiert in einem Interview mit der «Neuen Zürcher Zeitung», dass die heutigen
Studierenden konsumieren, was ihnen
aufgetischt wird. «Das reife Lernen, das
reife Denken muss noch geübt werden», fordert sie. In einer Klausur im
Oktober will sich Springman mit ihren
Mitarbeitern damit befassen, wie den
Studierenden mehr Freiräume dazu gegeben wird. «Die Studenten müssen aus
ihrer Komfortzone geholt werden.» (AZ)