Der sowjetischen Parlamentär Wladimir Gall im April/Mai 1945 in

Der sowjetischen Parlamentär Wladimir Gall im April/Mai 1945 in Spandau und eine
Veranstaltung auf der Zitadelle, die ihn von einem Sockel stoßen wollte, auf dem er nie
stand!
Am 8. Mai 1985 hielt der damalige Präsident der Bundesrepublik Deutschland, Richard von
Weizsäcker, im Bundestag eine bedeutsame Rede zum 40. Jahrestag der Beendigung des Zweiten
Weltkrieges in Europa.
In dieser Rede hieß es: „Und dennoch wurde von Tag zu Tag klarer, was es heute für uns alle
gemeinsam zu sagen gilt: Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem
menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“ Der Kernsatz seiner
Rede lautete: „Wir dürfen den 8. Mai nicht vom 30. Januar 1933 trennen.“
Das war für die Gesellschaft in der Bundesrepublik und in Westberlin neu und es stieß bei den
konservativen und antikommunistischen Kräften auf Widerstand. Der Bundespräsident musste
sich starken Anfeindungen aus der CDU, seiner eigenen Partei, erwehren.
Zu diesem Jahrestag wurde nun 1985 in das ehemaligen Westberlin, ein bis dahin in der Stadt
unbekannter sowjetischer Bürger, Wladimir Gall, zu einer Kundgebung zum Tag der Befreiung,
eingeladen. Er war Offizier und Parlamentär der Roten Armee gewesen und sprach fließend
Deutsch.
Im April 1945 war er in Spandau maßgeblich an den Verhandlungen mit Offizieren der NaziWehrmacht beteiligt, die in der Zitadelle den Krieg weiterführen wollten, obwohl sich dort viele
Zivilisten befanden. Die Wehrmacht wollte, obwohl es bereits „Fünf nach Zwölf“ für das HitlerReich war, die Zitadelle „bis zum Endsieg“ verteidigen.
Im Ergebnis aber führten die Verhandlungen zwischen der Roten Armee und den
Wehrmachtsoffizieren zu einem friedlichen Ende. Die Zivilisten und Soldaten verließen die
Spandauer Zitadelle und die Festung konnte unzerstört an die Rote Armee übergeben werden.
Über die Westberliner Friedenskoordination und die Spandauer Kreisorganisation der
Sozialistischen Einheitspartei Westberlins wurde Wladimir Gall im Mai 1985 zum ersten Mal
nach Spandau eingeladen und freundschaftlich im Bezirk aufgenommen. Seit dieser Zeit war
Wladimir Gall ein immer wieder gern gesehener und geschätzter Gast im Bezirk. Eine intensive
Freundschaft entwickelte sich insbesondere zum Spandauer Bürger, Gerhard Niemczyk, der sich
im April 1945 als Volkssturmmann in der Zitadelle befand. Er hat in Wladimir Gall auch ganz
persönlich seinen Lebensretter gesehen.
Auf Initiative der beiden damaligen Bezirksverordneten der Spandauer Linken wurde Wladimir
Gall im Mai 2005 in einer würdigen Veranstaltung durch seinen Eintrag in das „Goldene Buch der
Stadt Spandau“ geehrt.
Am 9. September 2011 verstarb Wladimir Gall. Ende 2011 gab es den Antrag des
Bezirksverordneten der LINKEN, Wladimir Gall durch eine Straßenbenennung an der Zitadelle
zu ehren. Der Zitadellenweg sollte in Wladimir-Gall-Weg umbenannt werden.
Neben formalen Gründen, wonach eine Umbenennung erst fünf Jahre nach dem Tode möglich sei,
gab es Widerstand des zuständigen CDU-geführten Ressorts im Bezirksamt. Unabhängig davon
kam aber das Bezirksamt nicht umhin, in seinem Abschlussbericht vom 19. November 2012
anzuregen, „eine andere geeignete Form der Würdigung zu wählen, welche der Bedeutung
Wladimir Galls für Spandau gerecht wird.“
Auch zwei Jahre später war die Mehrheit der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) für eine
Ehrung von Wladimir Gall. So nahm die BVV am 4. Dezember 2014 einen dementsprechenden
Antrag in folgender Fassung an:
„Das Bezirksamt wird beauftragt, im Mai 2015 eine Gedenktafel zum Gedenken an
Wladimir Gall anzufertigen und zum 70. Jahrestag der Befreiung der Zitadelle Spandau
dort anzubringen.“
Da der Antrag mit der Überschrift versehen war, „Wladimir Gall und Major Wassili Grischin
ehren!“, nutzte der zuständige CDU-Stadtrat die ungeschickten Formulierungen, um geschickt
eine ziemlich schäbige Plastiktafel heimlich am Eingangsbereich der Zitadelle mit folgendem
Text anbringen zu lassen, der im Übrigen mit den Antragstellern nicht abgesprochen war:
„Hauptmann Wladimir Gall und Major Wassili Grischin erreichten als Unterhändler der
sowjetischen Armee die kampflose Übergabe der Zitadelle am 1. Mai 1945.“
Mit diesem Trick wurde auch die geplante öffentliche Ehrung zusammen mit der Einweihung der
Tafel anlässlich des Tages der Befreiung im Mai 2015 verhindert.
Daraufhin befasste sich die BVV auf ihrer Sitzung am 20. Mai 2015 mit einem gemeinsamen
Dringlichkeitsantrag der SPD, der GAL und des Bezirksverordneten der LINKEN mit der Frage
nach einer öffentlichen Ehrung Wladimir Galls. Beschlossen wurde in der BVV, dass nach dem
Anbringen einer neuen Gedenktafel für Wladimir Gall eine würdige Ehrung zeitnah, jedoch
spätestens zum Todestag von Wladimir Gall am 9. September durchzuführen sei.
In der Koordinierungsrunde beim Bezirksbürgermeister bestand im Juli dieses Jahres
dementsprechend Übereinstimmung, dass am 9. September 2015, dem vierten Todestag Wladimir
Galls, im Gotischen Saal der Zitadelle eine entsprechende Ehrung stattfinden wird. Als die
Einladung des Bezirksamt Spandau und der Heimatkundlichen Vereinigung für die Veranstaltung
am 9. September im Gotischen Saal in der Zitadelle verschickt wurden, sorgte das für erhebliche
Irritationen und Rückfragen. In der Einladung war von Wladimir Gall keine Rede mehr.
Stattdessen sollte mit dieser Veranstaltung an das „Kriegsende von 1945“ erinnert werden.
Der Bezirksbürgermeister sollte begrüßen und ansonsten waren der ehemalige Landeskonservator
und ein Historiker mit Vorträgen vorgesehen. Die abschließenden Worte waren für den
Vorsitzenden der Heimatkundlichen Vereinigung reserviert.
Der Bezirksbürgermeister führte dann in seiner kurzen Eröffnungsrede aus, dass Wladimir Gall
gut mit Spandau verbunden gewesen war und zitierte persönliche Daten aus Wikipedia. Die
Veranstaltung sollte ihn ehren, denn ohne Wladimir Gall gäbe es keinen „Gotischen Saal“.
Im Vortrag des ehemaligen Landeskonservators ging es um die Situation in Berlin und in Spandau
Ende April, Anfang Mai 1945. Es war viel von „Russen“ und „Sowjets“ die Rede. Die Grenzen
zwischen Zitaten und eigenen Beschreibungen waren für Gäste der Veranstaltung nicht immer
erkennbar. Breit wurde von ihm dargelegt, wie „deutsche Scharfschützen“ den Spandauer
Rathausturm „von Russen gesäubert“ haben, die sich dort als Artilleriebeobachter befanden.
Der nachfolgende Historiker leitete seinen Vortrag mit der Klage ein, wonach Historiker
Anfeindungen ausgesetzt seien, wenn „liebgewordene Auffassungen in Frage gestellt“ werden. Es
sei, so behauptete er, ein Mythos, dass es eine „kampflose Übergabe“, eine „kampflose
Kapitulation“ der Zitadelle gegeben habe.
Belege dafür habe er in Gesprächen mit Zeitzeugen vorgefunden. Es soll einen (!) toten
sowjetischen Soldaten in der Zitadelle gegeben haben und ein (!) Wehrmachtsoffizier soll getötet
worden sein.
Tatsache bleibt jedoch, dass die Zitadelle nicht durch sowjetische Artillerie sturmreif geschossen
und durch Einheiten der Roten Armee dann im Sturm genommen wurde, mit entsprechenden
Toten und Verwundeten auf beiden Seiten.
Tatsache bleibt auch, dass die Soldaten und Volksturmleute lebend, ohne Blutvergießen nach der
erfolgten Kapitulation die Zitadelle verlassen konnten. Genauso erging es den vielen Zivilisten,
die sich ebenfalls noch in der Festung befanden.
Das war ein Verdienst des sowjetischen Parlamentärs, Hauptmann Wladimir Gall!
Selbstverständlich war Wladimir Gall als Offizier der sowjetischen Armee in die entsprechenden
Befehlsstrukturen eingebunden. Aber sein Verhandlungsgeschick und die guten
Deutschkenntnisse haben einen erheblichen Beitrag geleistet, das Leben vieler deutscher Soldaten,
Volkssturmmänner und Zivilisten, aber natürlich auch das Leben vieler sowjetischer Soldaten zu
erhalten. Und die Zitadelle wurde vor der Zerstörung bewahrt und ist uns damit in Spandau als ein
historisch wertvolles Festungsbauwerk und heute als Kunst- und Kulturstätte erhalten geblieben.
Wenn Wladimir Gall sich seit 1985 als Gast in Spandau aufhielt, ob bei den Parteien, bei
Kirchengemeinden, auf Straßenfesten oder „offiziell“ im Bezirk und er das Wort ergriff, sprach er
nicht über militärische Probleme bei seinen Verhandlungen zur Kapitulation der Zitadelle. Er
sprach über die Menschen, die gerettet werden konnten. Insofern wird der von der
Heimatkundlichen Vereinigung in Spandau aufgebotene Historiker in seinem Bemühen erfolglos
bleiben, Wladimir Gall von einem Sockel zu stoßen, weil Wladimir Gall nie auf einem solchen
gestanden hat.
Wladimir Gall war Humanist, für den Krieg und Gewalt nur Leid und Elend über die Völker
brachten. Nie wieder Faschismus und Krieg, Freundschaft zwischen den Völkern, das war sein
Leben!
Das muss es wert sein, Wladimir Gall und seine Handlung im April/Mai 1945 im Bezirk noch
bekannter zu machen und ihn zu ehren:
Mit einer angemessenen und würdigen Gedenktafel an der Zitadelle!
Mit einer Straße an der Zitadelle, die seinen Namen trägt!
(Jörg Kuhle)