Hans Henning Hahn, Robert Traba (Hg.) Deutsch-Polnische Erinnerungsorte Band 1 Projekt: Deutsch-Polnische Erinnerungsorte | Polsko-niemieckie miejsca pamie˛ci Der metaphorische Begriff Erinnerungsort bezeichnet historische Bezugspunkte der kulturellen Identität einer Gesellschaft – Personen, Ereignisse, topographische Orte oder andere historische Phänomene. Diesen Ansatz, das kollektive Gedächtnis einer Gesellschaft zu erforschen, wendet das vorliegende fünfbändige Werk zum ersten Mal bilateral, und zwar auf zwei benachbarte Gesellschaften, an. Deutsche und Polen teilen viele Erinnerungen, die jedoch unterschiedlichen Identitätsbedürfnissen in den beiden Gesellschaften entsprechen. Die hier vorliegenden Essays erlauben analytische Einblicke in die Erinnerungskulturen beider Länder, in ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Daraus ergibt sich eine faszinierende Vergleichs- und Beziehungsgeschichte auf einer Ebene, die von der modernen Kulturwissenschaft als Geschichte zweiten Grades bezeichnet wird. Indem nationale Selbstverständlichkeiten beider Völker hinterfragt werden, öffnen sich neue Perspektiven, sowohl auf den Nachbarn als auch auf die eigene Geschichte. Die deutsch-polnische Nachbarschaft bringt es mit sich, dass sich ohne die Kenntnis der polnischen Geschichte die deutsche und umgekehrt ohne die Kenntnis der deutschen die polnische Geschichte nur unvollkommen verstehen lassen. Das Projekt Deutsch-Polnische Erinnerungsorte | Polskoniemieckie miejsca pamie˛ ci bereichert das universale Nachdenken über das kulturelle Erinnern. Dazu tragen sowohl die ersten drei, auf empirische Forschungen gestützten Bände bei als auch die beiden methodologischen Bände (4 und 5), die die deutsch-polnischen Erfahrungen in den breiten Kontext der europäischen Erinnerungsdebatten einbringen. Deutsch-Polnische Erinnerungsorte Im Rahmen des vom Zentrum für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften initiierten Projekts erscheinen folgende Bände: Hans Henning Hahn, Robert Traba (Hg.) unter Mitarbeit von Maciej Górny und Kornelia Kończal: Deutsch-Polnische Erinnerungsorte Band 1: Geteilt / Gemeinsam Band 2: Geteilt / Gemeinsam Band 3: Parallelen Band 4: Reflexionen Robert Traba, Peter Oliver Loew (Hg.): Deutsch-Polnische Erinnerungsorte Band 5: Erinnerung auf Polnisch. Texte zu Theorie und Praxis des sozialen Gedächtnisses Hans Henning Hahn, Robert Traba (Hg.) Deutsch-Polnische Erinnerungsorte Band 1: Geteilt / Gemeinsam unter Mitarbeit von Maciej Górny und Kornelia Kończal Ferdinand Schöningh Die Herausgeber: Hans Henning Hahn (*1947) ist Professor für Moderne Osteuropäische Geschichte mit dem Schwerpunkt Polen an der Universität Oldenburg. Er ist international ausgewiesener Kenner der polnischen Geschichte. Robert Traba (*1958) ist Professor am Institut für Politische Studien der Polnischen Akademie der Wissenschaften; seit 2006 Direktor des Zentrums für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften. Forschungsschwerpunkte: polnische Beziehungsgeschichte und Kulturgeschichte Ostmitteleuropas. Das Projekt Deutsch-Polnische Erinnerungsorte | Polsko-niemieckie miejsca pamie˛ ci wurde gefördert von: Zeitgleich erscheint im Warschauer Verlag Scholar (www.scholar.com.pl) die polnische Ausgabe dieses Bandes. Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlages nicht zulässig. © 2015 Ferdinand Schöningh, Paderborn (Verlag Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn) Internet: www.schoeningh.de Redaktionelle Verantwortung: Anna Labentz Redaktion: Lothar Quinkenstein; unter Mitarbeit von Benjamin Voelkel Korrektur: Benjamin Voelkel Umschlagabbildung: Marta Kurczewska Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Printed in Germany. Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn ISBN 978-3-506-77338-8 Inhaltsverzeichnis Deutsch-Polnische Erinnerungsorte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Wovon die deutsch-polnischen Erinnerungsorte (nicht) erzählen Hans Henning Hahn und Robert Traba . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Danksagungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 NAH UND FERN PREUSSEN Erzwungene Nachbarschaft Peter Oliver Loew . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 HANSE Mittelalterliche Wirtschaftsgemeinschaft Jörg Hackmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 OSTPREUSSEN / ERMLAND UND MASUREN Vom Bollwerk zu Borussia Rafał Żytyniec . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 DANZIG Eine Stadt schreibt Nationalgeschichten Peter Oliver Loew . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 POLNISCHER KORRIDOR Ein Zwischenraum als politisches Programm Gernot Briesewitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 PREUSSISCHE OSTMARK Nationales Konkurrenzgebaren Stefan Dyroff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 GALIZIEN Zerrissene und wiedergefundene Geschichten Adam Kożuchowski und Werner Nell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 6 Inhaltsverzeichnis SHTETL Der Fiedler im Schmutz der Gasse Agnieszka W. Wierzcholska . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 SCHLESIEN Mythos der Anfänge – Katastrophe des Endes – Utopie der Zukunft Wojciech Kunicki . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 BRESLAU Die doppelte Geschichte einer Stadt Juliane Haubold-Stolle und Magdalena Saryusz-Wolska . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 SACHSEN Ein deutsches Refugium für Polen? Miloš Řezník . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 SIEGE UND NIEDERLAGEN SCHLACHT BEI LIEGNITZ »Uns geschah ein Unglück!« Juliane Haubold-Stolle und Jakub Tyszkiewicz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 SCHLACHT BEI TANNENBERG Erfolg und Scheitern von Siegesmythen Mathieu Olivier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 KULTURKAMPF Zur Verteidigung der Werte Witold Molik und Stephan Scholz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 ERSTER WELTKRIEG Großer Krieg – kleinerer Krieg Jerzy Holzer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 HITLER-STALIN-PAKT Die vierte Teilung Polens? Felix Ackermann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 POLENFELDZUG »Blitzsieg« oder Vernichtungskrieg? Jochen Böhler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 Inhaltsverzeichnis GHETTOAUFSTAND Helden wider Willen Beate Kosmala . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 375 MONTE CASSINO Das Janusgesicht der großen Schlacht Camilla Miglio und Paolo Morawski . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 8. / 9. MAI 1945 Der Anfang vom Ende Jörg Echternkamp, Anna Labentz und Robert Traba . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 FLUCHT UND VERTREIBUNG Gesichter der Deprivation Hubert Orłowski . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 FRIEDENSFAHRT Tour de l’Est Sylvia Haida . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473 KREISAU Pacta sunt servanda! Mateusz J. Hartwich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485 ODER-NEISSE-GRENZE Bis auf Widerruf? Kerstin Hinrichsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497 FREMD UND EIGEN WANDA Femme polonaise Andreas Degen und Elżbieta Dzikowska . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 521 HABSBURGER Sentimentalität im Scherz und kühle Gleichgültigkeit Grzegorz Chomicki und Mariusz Kaczka . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 535 TÜRKEI Ante portas …? Odile Bour . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 565 8 Inhaltsverzeichnis KASCHUBEN Weder Feuer noch Wasser Nicole Dołowy-Rybińska . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 581 VEIT STOSS Die polnische Karriere eines Nürnberger Künstlers Beate Störtkuhl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 599 NIKOLAUS KOPERNIKUS Über die nationalen Umschwünge im Lebenswerk des großen Astronomen Elisabeth Ritter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 615 OTTO VON BISMARCK Was von einem Mythos, vom Kopf auf die Füße gestellt, übrig bleibt Jerzy W. Borejsza und Hans Henning Hahn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 635 VOLKSDEUTSCHE Rasse, Schicksal und Verrat Jerzy Kochanowski und Stefan Zwicker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 667 JANUSZ KORCZAK Pons inter nationes Nina Mueller und Gertrud Pickhan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 689 GÜNTER GRASS Mit Blechtrommel und Nobelpreis im Krebsgang Thomas Serrier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 701 VERLORENE HEIMAT / WIEDERGEWONNENE GEBIETE Menschliche Dramen und politische Konjunkturen Robert Traba und Rafał Żytyniec . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 715 JUDEN Bilder eines imaginierten Kollektivs Katrin Steffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 741 Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 779 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 781 Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 807 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 817 Deutsch-Polnische Erinnerungsorte 1968 (II) 1989: Mauerfall & Runder Tisch (II) 8. / 9. Mai 1945 (I) Heiliger Adalbert & Heiliger Bonifatius (III) Adler (II) Akt von Gnesen (II) Altes Reich & Rzeczpospolita (PolnischLitauische Adelsrepublik) (III) Amerika (II) Annaberg (II) August der Starke (II) Auschwitz (II) Ludwig van Beethoven & Frédéric Chopin (III) Otto von Bismarck (I) Bolschewik (II) Heiliger Bonifatius & Heiliger Adalbert (III) Willy Brandts Kniefall & Brief der (polnischen) Bischöfe (III) Breslau / Wrocław (I) Brief der (polnischen) Bischöfe & Willy Brandts Kniefall (III) Bromberger Blutsonntag (II) Frédéric Chopin & Ludwig van Beethoven (III) Danzig / Gdańsk (I) Deutscher Orden (II) Deutscher Osten & Kresy (III) Dolchstoß & Targowica (III) Dreißigjähriger Krieg & Potop (III) Erster Weltkrieg (I) Prinz Eugen & Jan III. Sobieski (III) Europa (II) Flucht und Vertreibung (I) Frankreich (II) Gustav Freytag & Henryk Sienkiewicz (III) Friedensfahrt (I) Friedrich der Große (II) Galizien (I) Gastarbeiter (II) Ghettoaufstand (I) Johann Wolfgang von Goethe & Adam Mickiewicz (III) Günter Grass (I) Habsburger (I) Hambach (II) Hanse (I) Heilige Hedwig (II) Hitler-Stalin-Pakt (I) Holocaust (II) Intermarium & Mitteleuropa (III) Jalta und Potsdam & Versailles (III) Johannes Paul II. (II) Juden (I) Käfer & Maluch & Trabi (III) Kaschuben (I) KKK (Kinder, Küche, Kirche) & Mutter Polin (III) Maximilian Kolbe (II) Kommunismus (II) Nikolaus Kopernikus (I) Janusz Korczak (I) Kreisau (I) Kresy & Deutscher Osten (III) Kulturkampf (I) Lamsdorf (II) Lodz (II) Lolek und Bolek & Sandmännchen (III) Rosa Luxemburg (II) Maluch & Käfer & Trabi (III) Karl Marx (II) 10 Deutsch-Polnische Erinnerungsorte Adam Mickiewicz & Johann Wolfgang von Goethe (III) Mitteleuropa & Intermarium (III) Monte Cassino (I) Mutter Polin & KKK (Kinder, Küche, Kirche) (III) Nationalhymne (III) Oder-Neiße-Grenze (I) Ostkolonisation (II) Ostpreußen / Ermland und Masuren (I) Paulskirchenverfassung von 1848 / 1849 & Verfassung vom 3. Mai 1791 (III) Polenfeldzug (I) Polish Jazz (II) Polnischer Korridor (I) Polnische Sensenmänner (II) Potop & Dreißigjähriger Krieg (III) Preußen (I) Preußische Ostmark / Großpolen (I) Radziwiłł & Wallenstein (III) Rhein & Weichsel (III) Rom (II) Russland (II) Rzeczpospolita (Polnisch-Litauische Adelsrepublik) & Altes Reich (III) Sachsen (I) Sandmännchen & Lolek und Bolek (III) Schlacht bei Cedynia & Schlacht im Teutoburger Wald (III) Schlacht bei Liegnitz (I) Schlacht bei Tannenberg (I) Schlacht im Teutoburger Wald & Schlacht bei Cedynia (III) Schlesien / Śląsk (I) Shtetl (I) Henryk Sienkiewicz & Gustav Freytag (III) Jan III. Sobieski & Prinz Eugen (III) Solidarność (II) SS (II) Stasi & Ubecja (III) Veit Stoß (I) Targowica & Dolchstoß (III) Thorner Blutgericht (II) Trabi & Maluch & Käfer (III) Türkei (I) Ubecja & Stasi (III) Verfassung vom 3. Mai 1791 & Paulskirchenverfassung von 1848 / 1849 (III) Verlorene Heimat / Wiedergewonnene Gebiete (I) Versailles & Jalta und Potsdam (III) Volksdeutsche (I) Wallenstein & Radziwiłł (III) Wanda (I) Warschauer Aufstand (II) Weichsel & Rhein (III) Wembley 1973 & Das Wunder von Bern 1954 (III) Das Wunder von Bern 1954 & Wembley 1973 (III) Wovon die deutsch-polnischen Erinnerungsorte (nicht) erzählen Hans Henning Hahn und Robert Traba Die parallel auf Deutsch und auf Polnisch erscheinende Publikationsreihe DeutschPolnische Erinnerungsorte ist das Ergebnis des bislang größten geisteswissenschaftlichen Kooperationsprojektes zwischen den beiden Ländern. Anders als bei den zahlreichen anderen Bänden zu ›Erinnerungsorten‹, die in den letzten Jahren veröffentlicht wurden, sind die Deutsch-Polnischen Erinnerungsorte das erste Werk, das die Erinnerungskulturen zweier Nachbarländer mit ihren Überschneidungen, Verflechtungen und Asymmetrien darstellen will – und dabei als Ausgangspunkt neu durchdenkt, was ›Erinnerungsorte‹ sind und was man durch sie erkennen kann. So bietet diese Buchreihe auch die Möglichkeit, den in jüngster Vergangenheit bis hin zum Titelstichwort für populärwissenschaftliche Anthologien strapazierten Begriff wiederzubeleben und zum Ausgangspunkt erneuter theoretischer Überlegungen zu machen. Die innere Vielfalt der beiden Gesellschaften Polens und Deutschlands verfügt aufgrund ihrer Nachbarschaft über einen relativ großen Bestand materieller Gemeinsamkeiten, die aber meist recht unterschiedlich erinnert werden. Dieser Befund war für uns nicht überraschend und wird es auch für unsere Leser nicht sein. Dass die Erinnerungen sich stärker unterscheiden als die erinnerten Themen und Ereignisse, stimmt optimistisch: Trotz des zunehmenden Konformitätsdrucks des modernen und technologisch vereinheitlichten Lebens ergibt sich für die Mitglieder beider Gesellschaften offensichtlich eine derartige Vielfalt, die Erinnerungen in Bilder zu fassen und für die jeweiligen Identitätsbedürfnisse nutzbar zu machen, dass von einer oft befürchteten Gleichmacherei des mentalen und intellektuellen Lebens keine Rede sein kann. Die Polyphonie der Erinnerungsbilder braucht nicht gefordert zu werden. Sie ist bereits vorhanden, sie ist fühlbar und erfahrbar. Aufgabe von Büchern wie den vorliegenden Deutsch-Polnischen Erinnerungsorten ist es, das Wissen über diesen Reichtum der Erinnerungsbilder in beiden Gesellschaften zu verbreiten. Nur wenn wir die Bilder unserer Nachbarn kennen, können wir mit den eigenen klug umgehen. Ausgangspunkte: Kollektive Erinnerung und Erinnerungsorte In einem ihrer letzten Essays – Das Leiden anderer betrachten – stellte die amerikanische Schriftstellerin Susan Sontag (1933-2004) die Existenz einer kollektiven Erinnerung in Frage: 12 Hans Henning Hahn und Robert Traba Das Gedächtnis ist immer individuell und nicht reproduzierbar – es stirbt mit dem einzelnen. Was man als kollektives Gedächtnis bezeichnet, ist kein Erinnern, sondern ein Sicheinigen – darauf, daß dieses wichtig sei, daß sich eine Geschichte so und nicht anders zugetragen habe, samt den Bildern, mit deren Hilfe die Geschichte in unseren Köpfen befestigt wird. Ideologien schaffen fundierende Archive repräsentativer Bilder, die gemeinschaftliche Vorstellungen von dem, was bedeutsam sei, auf eine Formel bringen und voraussehbare Gefühle und Empfindungen auslösen.1 Sontag hatte insofern recht, als kollektive Vorstellungen von der Vergangenheit – kollektives Gedächtnis genannt – ideologische Konstruktionen sind, die einen Identifikations- und Verständniscode für die Wir-Gruppe darstellen, die sich wiederum mit Hilfe dieses Codes von anderen Kollektiven abzugrenzen versucht. Sontag täuschte sich allerdings insofern, als wir nicht im Stande sind, ein ›rein‹ individuelles Erinnern von den Einflüssen und Bedingungen der sozialen Umgebung des jeweiligen Individuums zu unterscheiden – um mit Maurice Halbwachs (1877-1945) zu sprechen: Das individuelle Gedächtnis lässt sich nicht isolieren aus den ›sozialen Rahmenbedingungen‹ (les cadres sociaux de la mémoire), in denen es funktioniert. Unseres Erachtens lohnt es sich deshalb – gerade weil wir das individuelle Gedächtnis nicht aus dem Blick verlieren wollen –, die Entstehungs- und Sinngebungsmechanismen solcher gesellschaftlicher Vergangenheitsvorstellungen, die eine identitätsstiftende Bedeutung für die Selbstdefinition eines jeden Kollektivs haben, zu erforschen. Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, solche Forschungen durchzuführen. In diesem Projekt haben wir uns für die bereits seit mehr als 30 Jahren populäre Kategorie der Erinnerungsorte (lieux de mémoire) entschieden. Zum ersten Mal jedoch beziehen wir dieses Konzept nicht allein auf eine nationale Gruppe. Die Bilateralität, also die Wechselwirkung zwischen den deutschen und polnischen Erinnerungskulturen, steckt somit eine erste Analyseebene ab. Die Nation und der nationale Kontext der Entstehung und Tradierung von Erinnerungsorten ist jedoch nicht der einzige Maßstab, an dem sich Präsenz und Bedeutung des jeweiligen lieu de mémoire für die imaginierten Gemeinschaften der Deutschen und Polen messen lassen. Eine zweite Ebene stellen die Deutungsvielfalt und die Wandelbarkeit in der Zeit dar. Wir versuchen, eine Antwort auf die Frage zu geben, wie die für die jeweiligen deutschen und polnischen Identitätskonstrukte wesentlichen Erinnerungsorte in regionaler, konfessioneller oder gesellschaftlicher Dimension funktionierten. Um diese Zusammenhänge erfassen zu können, schlagen wir eine differenzierte Erzählung über Deutschland und Polen vor, die zugleich den zeitlichen Ablauf der sich wandelnden Bedingtheiten ihrer Genese erkennen lässt. Dass Gruppen, Gesellschaften, ganze Völker sich erinnern – davon sind seit der Antike viele Autoren ausgegangen. Nur selten jedoch hat man sich gefragt, wie ein solches kollektives Sich-Erinnern eigentlich vor sich geht. Erst der eingangs erwähnte französische Soziologe und Bergson- wie Durkheim-Schüler Maurice Halbwachs prägte den Begriff ›kollektives Gedächtnis‹ (mémoire collective). Sein Hauptwerk wurde weitgehend erst nach seiner Ermordung im Konzentrationslager Buchenwald Wovon Erinnerungsorte (nicht) erzählen 13 bekannt.2 Dementsprechend ließ die Rezeption seiner Überlegungen über Frankreichs Grenzen hinaus lange auf sich warten. Für Halbwachs verbürgten vor allem gemeinsame Erinnerungen die Kohäsion sozialer Gruppen. Er leugnete zwar nicht die Existenz eines individuellen Gedächtnisses, betonte aber: »Es gibt kein mögliches Gedächtnis außerhalb derjenigen Bezugsrahmen, deren sich die in der Gesellschaft lebenden Menschen bedienen, um ihre Erinnerungen zu fixieren und wiederzufinden.«3 Gedächtnis wachse dem Menschen quasi erst im Prozess der Sozialisation zu. Die Erinnerungen stabilisieren nach Halbwachs die Gruppen, und die Gruppe stabilisiert wiederum die Erinnerungen. Löst sich eine Gruppe auf, so verlieren die Individuen jenen Teil der Erinnerungen aus ihrem Gedächtnis, über den sie sich als Gruppe vergewisserten. Denn Erinnerungen bedürfen grundsätzlich der sozialen Interaktion und Bestätigung, ja das ständige Sich-Miteinander-Verständigen innerhalb einer Gesellschaft über Inhalte und Formen des Erinnerns werde und sei konstitutiv für eine Gesellschaft und deren Erhalt. Daraus ergibt sich notwendigerweise die Identitätsrelevanz. Dabei war für Halbwachs das kollektive Gedächtnis keineswegs gleichzusetzen mit dem von der Geschichtswissenschaft gepflegten Gedächtnis. Als (empirischer) Soziologe leugnete Halbwachs die Existenz eines universalen Gedächtnisses der Menschheit: »Die Geschichte kann als das universale Gedächtnis des Menschengeschlechts erscheinen. Aber es gibt kein universales Gedächtnis. Jedes kollektive Gedächtnis hat eine zeitlich und räumlich begrenzte Gruppe zum Träger.«4 Damit werden Erinnern ebenso wie Geschichte an konkrete Ereignisse, Personen und / oder Dinge gebunden. Die Diskussion im Anschluss drehte sich vor allem darum, dass zwar die Existenz eines ›Gedächtnisses in der Gruppe‹ offensichtlich sei, dass aber damit noch nicht geklärt sei, ob es auch ein ›Gedächtnis der Gruppe‹ gebe. Pierre Nora (*1931) löste das Problem dahingehend, dass er ein Gedächtnis der Gruppe im wörtlichen Sinne in Abrede stellte, denn es stecke keine Kollektivseele und auch kein objektiver Geist dahinter, sondern eine konkrete Gesellschaft mit ihren Zeichen und Symbolen. Die einzelnen Mitglieder einer Gesellschaft, auch wenn sie sich gar nicht persönlich kennen, verständigen sich über ihre gemeinsamen Erinnerungen und deren Inhalte durch Symbole und Riten, sie haben also ein gemeinsames kollektives Gedächtnis, das sich in diesen Zeichen quasi materialisiert.5 Nora war weniger an der Entwicklung einer wissenschaftlichen Theorie interessiert, sondern er wollte mit seinem Konzept einer Geschichte zweiten Grades (histoire au second degré) vielmehr eine wissenschaftliche Praxis etablieren, deren Objekt die Geschichte, der Wandel und das Funktionieren der symbolischen Wirklichkeit ist, wobei die Interaktion zwischen symbolischer und anderer Realität nicht aus den Augen verloren werden dürfe. Interessanterweise entwickelte der britische Nationalismusforscher Anthony D. Smith6 (*1939) fast gleichzeitig sein Konzept des ethnosymbolism, mit dem er auf der Ebene der sozialen Kohäsionselemente zu ganz ähnlichen Ergebnissen kam. Auch hier beruht eine Nation als Gemeinschaft auf einer gemeinsamen symboli- 14 Hans Henning Hahn und Robert Traba schen Welt, in der gemeinsame Werte vor allem in Riten, gemeinsamen (Gründungs)Mythen und einer auf gemeinsamen Erinnerungen beruhenden ethno-history zum Ausdruck gebracht werden und somit identitätsbestimmend sind. Eric Hobsbawm (1917-2012) hatte schon 1983 mit seinem genialen Essay Inventing Traditions die Aufmerksamkeit zahlreicher Kulturwissenschaften, die sich mit der Vergangenheit beschäftigen, auf die symbolischen Dimensionen des gesellschaftlichen und politischen Lebens gelenkt. Erfundene Traditionen hatten u. a. die Funktion von »establishing or symbolizing social cohesion or the membership of groups, real or artificial communities«.7 Die Zentralität symbolischer Dimensionen bei den genannten parallelen Entwicklungen wissenschaftlicher Erinnerungs- und Nationalismuskonzepte deutet auf ein allmähliches Abrücken vom bisher als verbindlich geltenden Modernisierungsparadigma hin. Dabei ist die Gemeinsamkeit des Bemühens um Erkenntnisse auf dem Gebiet menschlichen Identitätsverhaltens insofern bedeutsam, als damit das Bewusstsein eines aktuellen Verlustes von Selbstverständlichkeiten einherging – wie Pierre Nora es ausdrückte: »Es gibt lieux de mémoire, weil es keine milieux de mémoire mehr gibt«.8 Es geht um soziale Identität in einem sehr komplexen Sinne, denn es steht mehr auf dem Spiel, als dass wir es lediglich mit einem allgemeinen gemeinsamen Bezugsrahmen zu tun haben.9 Vielmehr ist gemeint: Das kollektive Gedächtnis an sich gibt es nicht; es ist ein Artefakt, ein Produkt, das der alltägliche Diskurs tagtäglich neu konstruiert. Das Gleiche gilt für den Begriff ›Identität‹. Identität ist wie das kollektive Gedächtnis nicht als etwas Gegebenes zu nehmen, sondern beide sind Produkte von Diskursen und als solche einem ständigen Wandel unterworfen. Mit anderen Worten: Es geht nicht um ein essentialistisches Identitätsverständnis, sondern mit Identität ist gewissermaßen das Etikett gemeint, das all dem aufgeklebt wird, was für das Wir-Gefühl einer sozialen Großgruppe als relevant erachtet wird; von außen gesehen handelt es sich um ein variables, veränderliches, in vielfältiger Weise kombinationsfähiges Phänomen – also nicht stabil. Letztere Feststellung steht im Widerspruch zu der allgemeinen Wahrnehmung (und damit Einbildung) vieler Menschen und ganzer Gesellschaften: Dass nämlich der Kern ihrer Identität unwandelbar und ›wesenhaft‹ sei. Somit besteht ein ständiges Spannungsverhältnis zwischen der vorgeblichen Stabilität von Identität und Erinnerungsort auf der einen und der realen ständigen Veränderung und damit der grundsätzlichen Wandelbarkeit von Identität und Gedächtnis auf der anderen Seite – gerade dieses Spannungsverhältnis macht den Reiz aus, sich damit wissenschaftlich zu beschäftigen. Von Halbwachs10 bis Nora11 und darüber hinaus bis zu Krzysztof Pomian12 (*1934) werden Wissenschaftler nicht müde, den grundsätzlichen Unterschied zwischen Erinnerung und Geschichte zu betonen. Die Erinnerung ist ein geschichtlich wirksames Phänomen, aber es ist an keiner Stelle mit Geschichte im Sinne von ›dem Geschehenen‹ identisch. Dies muss in Abgrenzung von einem neuerdings auch publizistisch zunehmend um sich greifenden synonymen Gebrauch beider Wovon Erinnerungsorte (nicht) erzählen 15 Begriffe ausdrücklich betont werden. Dementsprechend kann es nicht die Aufgabe der Geschichtswissenschaft sein, Erinnerung zu produzieren, zu bewahren, zu verifizieren oder gar zu legitimieren. Historiker sollten also nie den Anspruch erheben, die Rolle von Hohepriestern der Erinnerung zu spielen, oder sich gar in eine solche Rolle drängen lassen. Erinnerungswahrung ist keine wissenschaftliche Aufgabe – dazu bilden moderne Gesellschaften andere Institutionen aus. Dem widerspricht jedoch nicht, dass Erinnerung bzw. das Erinnern ein wichtiges Objekt geschichtswissenschaftlichen Forschens ist. Es sollte die Aufgabe einer sich als Kulturwissenschaft oder Kulturgeschichte (im Sinne der cultural history13 von Peter Burke, *1937) verstehenden Geschichtswissenschaft sein, die Erinnerungskultur der eigenen und eventuell auch fremder Gesellschaften zu erforschen und zu analysieren; das betrifft sowohl vergangene als auch gegenwärtige Erinnerungskulturen. Unter Erinnerungskultur ist das System des kollektiven Gedächtnisses einer Gesellschaft oder einer gesellschaftlichen Gruppe zu verstehen. System meint in diesem Zusammenhang die Art und Weise, wie eine Gesellschaft die verschiedenen Elemente und Modi des Erinnerns – und damit auch Erinnerungsorte – organisiert und miteinander verknüpft.14 Erinnerung als Objekt der Geschichtswissenschaft heißt zweierlei: zum einen, dass das Erinnern selbst zu historisieren sei, dass also jede Epoche ihre eigenen Formen, Modi, Techniken und Medien des Erinnerns hat; zum anderen, dass die Erinnerungen und damit auch Erinnerungsorte – als Ergebnisse kollektiver Erinnerungsprozesse – ihre eigene konkrete Geschichte haben, die aufzuarbeiten ist, will man das verfassen, was Pierre Nora manchmal eine ›Symbolgeschichte‹ genannt hat. Die Historizität der Erinnerung, ja jegliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in den Mittelpunkt geschichtswissenschaftlicher Beschäftigung zu stellen, könnte man als ›egotistische‹ Selbstbezogenheit Stendhalschen Ausmaßes von Historikern bezeichnen; Pierre Nora hat gute Gründe, für Frankreich von einem »Zeitalter der historiographischen Diskontinuität«15 zu sprechen, verspricht doch dieser Ansatz ein Ausmaß kritischer Distanzgewinnung, die von der theoriegeleiteten Sozialgeschichte bisher häufiger in Aussicht gestellt als eingelöst wurde. Das Desiderat einer intensiven wissenschaftlichen Beschäftigung mit konkreten Erinnerungskulturen ergibt sich sowohl aus wissenschaftlichen wie aus pragmatisch-gesellschaftlichen Gesichtspunkten: Zum einen gehört die Erinnerungskultur einer Gesellschaft zu den konkreten kulturellen Spezifika einer sozialen Großgruppe; sie zu erforschen ist Aufgabe einer breiter verstandenen Kulturwissenschaft; zum anderen werden auch in demokratischen Gesellschaften kollektives Erinnern und die entsprechenden Geschichtsbilder von Mythen und Stereotypen bestimmt; deren Erforschung gehört zu den Betätigungsfeldern sowohl der Kultur- wie der Sozialwissenschaft, vor allem, wenn sie sich als aufklärerisch empfindet. Daraus ergibt sich: Kollektives Erinnern ist ein kultureller Vorgang in jeder Gesellschaft, unabhängig davon, auf welchem Niveau in ihr Geschichtswissenschaft betrieben 16 Hans Henning Hahn und Robert Traba wird. Sich nicht mit dem Erinnern zu beschäftigen, also damit, wie Erinnerung, die von wichtigen Teilen einer Gesellschaft für ihre eigentliche Geschichte gehalten wird, in dieser Gesellschaft mit welcher Relevanz funktioniert, hätte zweierlei Folgen: Einerseits entstünden (historische und erinnerungsbezogene) Parallelvergangenheiten, andererseits aber würde in zunehmendem Maße all das, was an Geschichtsbewusstsein und Geschichtsbildern in einer Gesellschaft existiert und sich ständig wandelt, für die professionelle Geschichtswissenschaft unzugänglich. Eine solche Spaltung ist für die Geschichtswissenschaft wie auch für die intellektuelle Befindlichkeit einer Gesellschaft kaum bekömmlich. Nicht jede Erinnerung ist oder wird identitätsrelevant, weder für ein Individuum noch für eine Gesellschaft oder gesellschaftliche Gruppe. Um das herzustellen, was Jan Assmann (*1938) als »identitätskonkret«16 bezeichnet hat, bedarf es offensichtlich einer gewissen Bündelung von Emotionen und Werten. Mit den Worten Assmanns: »Das kulturelle Gedächtnis richtet sich auf Fixpunkte in der Vergangenheit. Auch in ihm vermag sich Vergangenheit nicht als solche zu erhalten. Vergangenheit gerinnt hier vielmehr zu symbolischen Figuren, an die sich die Erinnerung heftet.«17 Pierre Nora spricht von dem Konzept, »ausgewählte Kristallisationspunkte unseres nationalen Erbes zu erforschen, die wichtigsten ›Orte‹ (in allen Bedeutungen dieses Wortes), an denen sich das kollektive Gedächtnis festmacht, zu inventarisieren und eine Topologie der Symbolik Frankreichs zu erstellen.«18 An anderer Stelle meint er: Es ist dies der Augenblick, in dem sich die Vorstellung der Kontinuität auf bestimmte »Orte« zurückzieht und die selektiv-gelehrte Erkundung der Kristallisationspunkte des kollektiven Erbes von dem Gefühl befeuert wird, das ein Rest gelebter Identifikation mit halb verblassten Symbolen immer noch weckt.19 Die Herausgeber der Deutschen Erinnerungsorte, Etienne François (*1943) und Hagen Schulze (1943-2014), haben das gleiche Bild bemüht: Es handelt sich um langlebige, Generationen überdauernde Kristallisationspunkte kollektiver Erinnerung und Identität, die in gesellschaftliche, kulturelle und politische Üblichkeiten eingebunden sind und die sich in dem Maße verändern, in dem sich die Weise ihrer Wahrnehmung, Aneignung, Anwendung und Übertragung verändert.20 Wenn Pierre Nora davon spricht, bei Erinnerungsorten handele es sich um »jede materielle oder ideelle Bedeutungseinheit, die der Wille der Menschen oder die Arbeit der Zeit in einen symbolischen Bestandteil des memoriellen Erbes irgendeiner Gemeinschaft verwandelt hat«21, dann trifft er genau den Punkt, dass die Erinnerung nur durch diese Form der Verdichtung, der ›Kristallisation‹ identitätsrelevant werden kann – ein Vorgang, den Jan Assmann noch als das Gerinnen zu »symbolischen Figuren« bezeichnet und durch den sich Geschichte und Erinnerung in Mythos verwandele.22 Es besteht kein Zweifel, dass es sich bei dem Begriff Erinnerungsort um eine Metapher handelt, denn er steht nicht allein für topographisch definierbare Orte, sondern für viel mehr; Etienne François und Hagen Schulze drückten es so aus: Wovon Erinnerungsorte (nicht) erzählen 17 […] Dergleichen Erinnerungsorte können ebenso materieller wie immaterieller Natur sein, zu ihnen gehören etwa reale wie mythische Gestalten und Ereignisse, Gebäude und Denkmäler, Institutionen und Begriffe, Bücher und Kunstwerke – im heutigen Sprachgebrauch ließe sich von »Ikonen« sprechen. [...] Wir verstehen also »Ort« als Metapher, als Topos im buchstäblichen Wortsinn.23 Für die moderne Wissenschaftssprache prägte Pierre Nora den französischen Begriff lieu de mémoire in Anlehnung an den aus der antiken Mnemotechnik der Rhetoriker (Simonides von Keos, ca. 557-468 v. Chr.; Cicero, 106-43 v. Chr.; Quintilian, 35-96 n. Chr.) stammenden Begriff loci memoriae. Viele europäische Sprachen haben diese Formulierung in fast wörtlichen Übersetzungen übernommen, obwohl mit der assoziativen Nähe von ›Erinnerungsort‹ und ›Gedenkstätte‹ ein Verwechslungsrisiko nicht immer zu vermeiden ist. Insbesondere in Polen wird der Begriff miejsce pamie˛ci von der umgangssprachlichen Bedeutung als Ort des nationalen Martyriums überlagert. Wir unterscheiden auch zwischen ›Erinnerungsorten‹ und ›Geschichtsorten‹. Jeder topographisch oder metaphorisch verstandene Ort hat seine Geschichte. Er ist eine Art Archiv (Jan Assmann), in dem Ereignisse, Texte, Bilder und Haltungsmodelle gesammelt sind. Dies bedeutet allerdings nicht, dass ihre Geschichte ins Funktionsgedächtnis (Aleida Assmann, *1947) übergeht, also in das Gedächtnis, das aktiv unsere Identität konstruiert. Trotzdem ist es natürlich nicht ausgeschlossen, dass auch ein historischer Ort ein Erinnerungsort sein kann, dann aber nicht, weil man dort gedenkt, sondern weil er für etwas anderes steht, nämlich für die Erinnerung an diesen Ort. Den Charakter der Metapher des Begriffs Erinnerungsort betonen vor allem Etienne François und Hagen Schulze. Dem gegenüber sei hier hervorgehoben, dass der metaphorische Bedeutungsinhalt zwar nicht geleugnet werden soll, in diesem Projekt aber doch davon ausgegangen wird, dass es sich um mehr handelt. Inhalt und Verwendung des Terminus Erinnerungsort in der wissenschaftlichen Literatur der letzten Jahrzehnte kommen dem Paradigma-Konzept, wie es Thomas S. Kuhn (1922-1996) entwickelt hat, recht nahe. Wenn Kuhn schreibt: [Viele der berühmten Klassiker der Wissenschaft] dienten indirekt eine Zeitlang dazu, für nachfolgende Generationen von Fachleuten die anerkannten Probleme und Methoden eines Forschungsgebiets zu bestimmen. Sie vermochten dies, da sie zwei wesentliche Eigenschaften gemeinsam hatten. Ihre Leistung war neuartig genug, um eine beständige Gruppe von Anhängern anzuziehen, die ihre Wissenschaft bisher auf andere Art betrieben hatten, und gleichzeitig war sie noch offen genug, um der neuen Gruppe von Fachleuten alle möglichen ungelösten Probleme zu stellen. Leistungen mit diesen beiden Merkmalen werde ich von nun an als »Paradigma« bezeichnen25, dann trifft das analog auf den Begriff Erinnerungsort zu: Er ist neuartig genug, um innovative Antworten auf alte Fragen wie die nach der Kohäsion sozialer Gruppen anzubieten, und gleichzeitig scheint er dehnbar genug zu sein, um zu suggerieren, dass er noch viel mehr zu leisten imstande wäre. Allerdings lehrt die neuere Geschichte der Wissenschaftssprache, dass in solchen Fällen häufig eine Inflationie- 18 Hans Henning Hahn und Robert Traba rung des Begriffs droht. Daher ist es vonnöten, sich präzise darauf zu besinnen, was ein Begriff beinhaltet bzw. beinhalten soll, welchen analytischen oder deskriptiven Zwecken er dienen soll und in welchem Ausmaß seine Verwendung erkenntnisfördernd ist. Der Begriff Erinnerungsort tauchte 1984 zum ersten Mal im öffentlichen Diskurs auf, als der erste Band La République des von Pierre Nora herausgegebenen Monumentalwerks Les lieux de mémoire erschien. Seitdem hat der Begriff eine interessante Entwicklung erlebt. Für Pierre Nora ging es um eine symbolische Topographie Frankreichs im Sinne einer Bestandsaufnahme des nationalen memoriellen Erbes, das vor dem Vergessen gerettet werden sollte – also, überspitzt formuliert, um den Erinnerungsort als ›Retter der Nation‹ oder zumindest als Erinnerung an sie. Etienne François und Hagen Schulze entwickelten das Konzept in den Deutschen Erinnerungsorten weiter, indem sie zunächst den paradigmatischen Begriff anwendbar machten auf Deutschland, somit auf eine andere Wirklichkeit und auf ein anderes Nationskonzept – weniger normativ, weniger obligatorisch, stärker auf die reale Vielfalt setzend, und es ging dabei nicht ausschließlich nur um nationale Identität.26 Moritz Csáky (*1936) schließlich betont die Transnationalität zentraleuropäischer Erinnerungsorte. Er wendet sich gegen die nationale Besetzung des kollektiven Gedächtnisses und verweist auf die Mehrfunktionalität konkreter und symbolischer Erinnerungsorte.27 Eine solche Überwindung des nationalen Rahmens bei der Erforschung der Erinnerungsorte steht auch im Zentrum der Reflexionen einer Luxemburger Forschergruppe.28 Diese Entwicklung als eine Auflösung der Noraschen Terminologie im Sinne einer begrifflichen Beliebigkeit und Inflationierung zu sehen, wäre allerdings ein Missverständnis, vielmehr geht hier mit der Erweiterung des räumlichen Anwendungsradius auch eine Verfeinerung der Begrifflichkeit einher. Daneben ist nicht zu übersehen, dass noch ein weiterer Aspekt den ›Erfolg‹ der Erinnerungsorte und der konkreten Beschäftigung mit Erinnerungskultur befördert hat: Er gibt Historikern und ihren Lesern die Gelegenheit, sich mit der bildlichen und sachlichen Ausstattung der erinnerten Geschichte, mit Bildern, Monumenten, auch Phantasien zu beschäftigen. Ein solches verdinglichendes Bevölkern der ›Orte‹ schafft – ebenso wie die Möglichkeit, das Korsett des chronologischen Ablaufs der gemessenen Zeit gelegentlich verlassen zu können – neue Möglichkeiten historiographischen Darstellens. Definitionen Die verschiedenen Varianten transkultureller Beziehungsgeschichte (Transfergeschichte, histoire croisée, entangled history und connected history) entstanden in den letzten 20 Jahren meist ohne Kenntnis eines wichtigen Vorläufers. In den 1970er Jahren schon postulierte Klaus Zernack (*1931) die Relevanz der Kategorie ›Beziehung‹ für die europäische Geschichte: Wovon Erinnerungsorte (nicht) erzählen 19 Es kennzeichnet die Geschichte der europäischen Nationen als europäische Geschichte, daß sie von ihren Beziehungen untereinander – im Bewußtsein ihres Anteils und ihrer Zusammengehörigkeit in der europäischen Geschichte – geprägt werden. Das nationale Prinzip als konstitutiver Faktor der europäischen Geschichte wäre undenkbar ohne das ihn selbst kennzeichnende Prinzip der Beziehungshaftigkeit der Nationalgeschichten Europas untereinander.29 Dass nationale Beziehungsgeschichte eine notwendige Folge der nationalen Strukturierung Europas ist, widerspricht nicht der Tatsache, dass die Geschichte Europas gleichzeitig auch von einer imperialen Strukturierung, von konfessionellen Spaltungen (trotz einer scheinbar weitgehend gemeinsamen religiösen Prägung) und einer Vielfalt von Kulturformen geprägt ist. Insofern haben wir es nicht nur mit nationalen, sondern auch mit kulturellen, religiösen und imperialen Beziehungen zu tun, und zwar meist gleichzeitig, so dass es um Beziehungsgeflechte auf mehreren Ebenen geht, je nach Epoche mit unterschiedlicher Intensität. Unübersehbar sind die zahlreichen Zusammenhänge und wechselseitigen Abhängigkeiten zwischen diesen Strukturen. Dennoch ist es wohl kein Zufall – und war entsprechend auch für die Konzeption des vorliegenden Werkes eine wichtige Inspiration –, dass Klaus Zernack gerade die deutsch-polnischen Beziehungen zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen machte: Ist die Zähigkeit, mit der die geschichtlichen Beziehungen zwischen den zwei europäischen Nationen der Deutschen und der Polen immer wieder deren aktuelles Verhältnis zueinander überlagern, nicht ein Anlaß, die Beziehungsgeschichte als einen Wirkungsfaktor sui generis geschichtswissenschaftlich zu problematisieren?30 Die Geschichte des eigenen Landes lässt sich kaum ohne die Kenntnis der Geschichte des Nachbarlandes bzw. der Nachbarländer wirklich verstehen – auch wenn die Art und Weise, wie gemeinhin in den europäischen Ländern noch immer Geschichte gelehrt und gelernt wird, dieser Erkenntnis nicht entspricht. Das betrifft zwar nicht unbedingt die identitätsstiftende Rolle der Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit, aber sicherlich die Dimension historischen Wissens und Verstehens. Daraus ergibt sich folgerichtig, dass man deutsche Geschichte nicht ohne die Kenntnis der polnischen und polnische Geschichte nicht ohne die Kenntnis der deutschen verstehen kann – wobei natürlich davon auszugehen ist, dass diese Geschichten für mehrdimensionale Interpretationen offen sind. Dementsprechend ist es wohl wenig erstaunlich, dass eine Reihe von Erinnerungsorten, die in der einen als nationale Diskursgemeinschaft verstandenen Gesellschaft funktionieren, auch in der benachbarten Gesellschaft vorzufinden sind – wenn auch nicht unbedingt mit den gleichen Inhalten, den gleichen emotionalen Konnotationen oder mit einer ebenso intensiven Identitätsrelevanz. Gerade die territorialen Verschiebungen seit dem 18. Jahrhundert haben in der deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte notwendigerweise eine Reihe von Erinnerungsorten geschaffen, die für beide Nationen von höchster Bedeutung sind. 20 Hans Henning Hahn und Robert Traba Es gilt also, das Paradigma Erinnerungsorte bilateral weiter zu deklinieren oder, anders formuliert, das Zernacksche Paradigma Beziehungsgeschichte und das von Pierre Nora konzipierte und im schon beschriebenen Sinne weiterentwickelte Paradigma Erinnerungsorte wie in einem Reagenzglas zusammenzubringen. Auf dieser Grundlage gestaltet sich unsere Definition von Erinnerungsorten folgendermaßen: Erinnerungsorte können sowohl realhistorische als auch imaginierte ›historische Phänomene‹ sein: sowohl Ereignisse und topographische Orte als auch (imaginierte und reale) Gestalten, Artefakte, Symbole und Ereignisse. Den Historiker interessiert dabei die identitätsrelevante Präsenz der Vergangenheit in der Gegenwart – in der jeweiligen Gegenwart, denn erforscht wird mithilfe der Erinnerungsorte eine komplexe Erinnerungsgeschichte und nicht nur die Erinnerungskultur von heute. Es gilt also, die Erinnerung – oder noch genauer: das Erinnern – zu historisieren. Es genügt nicht, Erinnerungsorte zu beschreiben. Um ihre Identitätsrelevanz überhaupt zu erkennen, müssen sie immer auf ihre diesbezügliche Funktion hin untersucht werden. Wir gehen davon aus, dass sich aus der oben angedeuteten chemischen Reaktion infolge der Begegnung (oder Vermischung) von Zernack und Nora etwas Neues und vor allem Erkenntnisfortschritte ergeben. Dass ein solches Vorgehen nicht ganz ohne Probleme ist, liegt auf der Hand. Zum einen darf die offensichtliche realgeschichtliche Asymmetrie der beiden Partner dieser Beziehung, die in einer tausendjährigen Nachbarschaftsgeschichte je nach Epoche unterschiedliche Abhängigkeitsverhältnisse mit sich gebracht hatte, nicht zu der Annahme verführen, dass auch die Beziehungen zwischen den beiden Erinnerungskulturen notwendigerweise asymmetrisch seien. Im Gegenteil, hier ist davon auszugehen, dass beide Erinnerungskulturen sich auf Augenhöhe begegnen, sich wechselseitig beeinflussen, ähnliche oder verschiedene Wege gehen. Zum anderen stellen sich methodische Probleme ein – denn wenn eines der Hauptkriterien für die Existenz und Wirksamkeit von Erinnerungsorten deren Identitätsrelevanz ist, gilt es zu berücksichtigen, dass es sich nun um mindestens zwei Identitätsdiskurse handelt, die auf zwei höchst unterschiedlich strukturierten Erinnerungskulturen beruhen und letztere gleichzeitig gestalten. Der gleiche Erinnerungsort kann, wenn er die Identitäten zweier Gesellschaften ›bedienen‹ soll, nicht der gleiche bleiben, sondern muss sich zwangsläufig verwandeln – ein Hinweis auf die notwendige inhaltliche Flexibilität von Erinnerungsorten. Dies im konkreten Fall zu verfolgen, ist gerade das intellektuell Reizvolle an diesem bilateralen Unternehmen, gibt es doch keine ›richtigen‹ oder ›falschen‹, sondern eben nur unterschiedliche Erinnerungsorte, die um einen Ort / ein Ereignis / eine Person usw. entstehen. Hermann Heimpels (1901-1988) lakonischer Satz: »Daß es Nationen gibt, ist historisch das europäische an Europa«31, wird heute zwar kaum jemand32 mehr so ohne Weiteres unterschreiben; trotzdem ist nicht zu übersehen, dass von Noras Version des Erinnerungsorts bis zum transnationalen Ansatz von Moritz Csáky die Wovon Erinnerungsorte (nicht) erzählen 21 Nation als die Gruppe, von der aus gedacht wird, kaum zu vermeiden ist.33 Das ließe sich auch bei bilateral konzipierten Erinnerungsorten wie den vorliegenden nicht bewerkstelligen. Gegenüber dem nicht selten erhobenen Vorwurf einer legitimierenden Renaissancebemühung um die Nation sei allerdings Folgendes bemerkt: Wir betrachten ›deutsch‹ und ›polnisch‹ als gedankliche Abbreviaturen, die sowohl vor- als auch postnationale sowie regionale und grenzüberschreitende Aspekte der Erinnerungskulturen implizieren. Die Nation ist für uns kein fraglos a priori gültiger Rahmen, sondern einer der möglichen Rahmen. Die Nation ist also nicht ein Desiderat, nicht eine Konstruktion, zu der wir mit unserem Projekt die Bausteine liefern wollen oder deren symbolische Einheit wir zu rekonstruieren versuchen, sondern eine bestehende Teilrealität. Wir gehen davon aus, dass es in Mitteleuropa unter anderen zwei Großgruppen bzw. Gesellschaften gibt, die sich nicht nur zu ihrer internen Verständigung zweier recht unterschiedlicher Sprachen bedienen (des Polnischen und des Deutschen), sondern sich selbst auch als zwei unterschiedliche Nationen imaginieren (um die Terminologie Benedict Andersons, *1936, zu benutzen). In jeder dieser Großgruppen gestaltet sich das Verständnis von dem, was Nation sei, höchst unterschiedlich, und dieses Nationsverständnis geht mit anderen Identitätselementen höchst vielfältige Mischungen ein, bildet also komplexe Identitätskonstruktionen heraus. Das Konstrukt ›Nation‹ wird demnach in unserem Projekt weder als ›wesenhaft‹ bestätigt noch soll es zugunsten irgendeines anderen Konstrukts überwunden werden. Keineswegs auch fragten wir nur nach gesamtgesellschaftlichen Identitäten, die oft als nationale Identität bezeichnet werden, sondern auch nach zahlreichen Teilidentitäten, seien sie regional, lokal, religiös, konfessionell, ethnisch, ständisch, sozial, genderbezogen oder weltanschaulich. Sie bei der Analyse der Erinnerungsorte entsprechend zu berücksichtigen und die (nationalen) Gesellschaften nicht als monolithische Sozial- und Diskurskörper zu sehen, war ein ständiges Anliegen bei der Durchführung unseres Projekts. Dieser Aspekt kommt in den einzelnen Texten in unterschiedlichem Ausmaß zum Tragen. Unterschiedlich wird auch die Rolle anderer Erinnerungsschichten als der deutschen und der polnischen berücksichtigt. Im Zentrum unserer Aufmerksamkeit steht natürlich die deutsch-polnische Beziehungsgeschichte, in vielen Fällen jedoch handelt es sich um grenzüberschreitende Erinnerungsorte: Über die Habsburger oder die Schlacht bei Tannenberg (Grunwald) 1410 im exklusiv deutsch-polnischen Kontext zu schreiben, würde zu kurz greifen. Daher findet der Leser auch einige Absätze über Erinnerungsgeschichten anderer als nur der polnischen (bzw. deutschen) Nachbarn. Als roter Faden ziehen sich zwei Gedanken durch die ganze Publikation – zum einen die Frage nach deutsch-polnischen Gemeinsamkeiten und Unterschieden; zum anderen die Frage: Wann, wo, wie und warum spielte der Bezug auf Deutschland und die deutsche Kultur eine Rolle in der Formulierung und Entwicklung der Erinnerungskultur in Polen? Sowie umgekehrt: Wann, wo, wie und warum spielte der Bezug auf Polen und die polnische Kultur eine Rolle in der Formulierung und 22 Hans Henning Hahn und Robert Traba Entwicklung der Erinnerungskultur in Deutschland? Diesen Fragen gingen unsere Autoren nach, indem sie unterschiedliche gemeinsame, geteilte (Band 1 und 2) und parallele (Band 3) deutsch-polnische Erinnerungsorte untersuchten. Gemeinsame Erinnerungsorte suggerieren, dass die Funktionen der Erinnerungsorte weitgehend gleich oder ähnlich sind. Geteilte Erinnerungsorte haben zwar dasselbe Erinnerungsobjekt, unterscheiden sich aber in den Funktionen für den Identitätshaushalt und damit in ihrer Rolle in der Erinnerungskultur. Hier decken sie sich höchstens partiell, oft überhaupt nicht. Die bilaterale Behandlung von Erinnerungsorten und damit Erinnerungskulturen zwingt dazu, sich mit dem Miteinander, dem Nebeneinander und dem Gegeneinander mindestens zweier unterschiedlich strukturierter komplexer Identitätskulturen auseinanderzusetzen. Es ist legitim, sich hier zu fragen: Erkenntnisfortschritte für wen und auf welcher Ebene? Dass über Identität ohne Alterität wenig ausgesagt werden kann, liegt auf der Hand. Daraus ergibt sich, dass zunächst einmal der Vergleich und das Herausstellen der Unterschiede im Umgang mit den einzelnen Erinnerungsorten bestimmte Charakteristika der beiden Erinnerungskulturen und -diskurse deutlich machen. Ein größerer Erkenntnisfortschritt noch scheint in der Betonung der Beziehungshaftigkeit jeglichen Erinnerns zu liegen. Die Erkenntnis, dass nicht nur kein Mensch, dass nicht nur keine Gesellschaft, sondern auch kein Diskurs, selbst wenn Letzterer das kollektive Erinnern betrifft, eine Insel ist, mag zwar als Allgemeinplatz erscheinen, konkret untermauert aber bringt dies Einsichten nicht nur in eine Gemeinsamkeit, sondern auch in die Zusammengehörigkeit von Vielfalt und Unterschiedlichkeit. Es geht also um Erkenntnisfortschritte nicht nur über die einzelnen Erinnerungskulturen und nicht nur über das paradigmatische Konzept des Funktionierens von Erinnerungsorten (obwohl das keineswegs zu verachten ist), sondern darüber hinaus um Erkenntnisse zur direkten oder indirekten Beziehungshaftigkeit des Erinnerns und damit zu jeglichen kultur- und mentalitätsgeschichtlichen Vorgängen – letztlich also um das Funktionieren von Beziehung selbst als wechselseitige Bedingtheit. Es genügt nicht, Erinnerungsorte einfach zu beschreiben. Um ihre Identitätsrelevanz überhaupt zu erkennen, werden sie immer auf ihre diesbezüglichen Funktionen hin untersucht. Das betrifft auch die Historizität der Erinnerungsorte, denn diese drückt sich ja vor allem darin aus, dass die Funktionen eines Erinnerungsortes sich historisch entsprechend den sich wandelnden Identitätsbedürfnissen einer Gesellschaft verändern. »Erinnerungsorte sind sie nicht dank ihrer materiellen Gegenständlichkeit, sondern wegen ihrer symbolischen Funktion.«34 Mit anderen Worten: Jede Untersuchung von Erinnerungsorten, die über die bloße Deskription hinausgeht, fragt nach der Funktionalität, und zwar sowohl im Identitätshaushalt der einzelnen Gesellschaft als auch – im Falle unseres bilateralen Ansatzes – für die Beziehungen zwischen diesen Gesellschaften. Insofern gehen wir weiter als François und Schulze, denn die identitätsrelevante Funktion meint mehr als nur eine symbolische Funktion. Sie spielt sich zwar auf der Ebene des Symbolischen ab, ist aber mit ihrer Wovon Erinnerungsorte (nicht) erzählen 23 Identitätsrelevanz bestimmend für die soziale Kohäsion einer Gesellschaft und trotz der oben angedeuteten Instabilität von Identität von einer nicht zu unterschätzenden historischen Wirkmächtigkeit. Die oben skizzierte Einteilung der Erinnerungsorte orientiert sich ausschließlich an der Funktionalität. Auf der Basis dieser Überlegungen und gewissermaßen logisch aus dem bilateralen Ansatz heraus wurde in dem Projekt Deutsch-Polnische Erinnerungsorte | Polsko-niemieckie miejsca pamie˛ ci eine neue Variante von Erinnerungsorten entwickelt, die in der bisherigen wissenschaftlichen Literatur noch nicht behandelt worden ist, nämlich die parallelen Erinnerungsorte. Hier handelt es sich nicht um Erinnerungsorte, die in beiden Gesellschaften zu finden sind. Parallele Erinnerungsorte beziehen sich auf völlig unterschiedliche ›historische Phänomene‹, das reale Objekt der Erinnerung ist also jeweils ein anderes, auf der Ebene der Funktionalität aber ergeben sich Parallelen, die allerdings wiederum zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen für die jeweilige Erinnerungskultur führen können. Konkret meint dies: Erinnerungsorte, die nur in der einen Gesellschaft vorkommen und in ihr eine spezifische Funktion für deren Identitäts- und Erinnerungshaushalt erfüllen, werden mit Erinnerungsorten der anderen Gesellschaft zusammengestellt, die dort vergleichbare Funktionen haben. Die Variante parallele Erinnerungsorte ist ausschließlich bei einem bilateralen Ansatz der Erforschung und Beschreibung von Erinnerungsorten möglich und wurde deshalb auch als dessen besonderes Kennzeichen entwickelt. Gerade an den parallelen Erinnerungsorten lässt sich demonstrieren, worin der historische Erkenntniswert der analytischen Untersuchung von Erinnerungsorten besteht: Zum einen wird deutlich, in welchen Konstruktionsprozessen kollektive Erinnerung diskursiv entsteht und wirkt – das Erkenntnisziel ist hier, den Mechanismus der Konstruktion des jeweiligen Erinnerungsortes sowie dessen Funktion sowohl in den beiden Gesellschaften (Erinnerungsgemeinschaften) als auch im Kontext der wechselseitigen Wahrnehmung und der deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte offenzulegen und insofern dekonstruierend zu analysieren. Dieser Konstruktionscharakter wird auch durch die Aufarbeitung der Geschichte der einzelnen Erinnerungsorte und damit durch deren konsequente Historisierung aufgedeckt. Zum anderen werden die oberflächlichen Gemeinsamkeiten dekonstruiert, wenn ein Erinnerungsort, der im kollektiven Gedächtnis beider Gesellschaften anzutreffen ist, in deren Identitätshaushalten unterschiedliche Funktionen erfüllt und daher auch unterschiedliche Inhalte transportiert. Dies darf als ein normaler Vorgang gelten, denn es handelt sich ja um zwei unterschiedliche Erinnerungsgemeinschaften. In der Geschichte zweiten Grades ist der funktionale Ansatz bisher noch nirgendwo in diesem Ausmaß praktiziert worden. Gerade deshalb führt die Expedition in die Bilateralität bei der Erforschung von Erinnerungskulturen zu neuen Erkenntnismöglichkeiten auf mehreren Ebenen. Die Zusammenführung von Erinnerungsgeschichte und Beziehungsgeschichte als paradigmatische Ansätze erweist sich nicht nur auf der methodologischen Ebene als sinnvoll. 24 Hans Henning Hahn und Robert Traba Das Prinzip der Beziehungshaftigkeit geht bei Beziehungen zwischen Gesellschaften meist noch von nachbarschaftlichen Beziehungen aus. Allerdings führen all die Prozesse, die gemeinhin als Globalisierung bezeichnet werden, sowie die rapiden Veränderungen menschlicher Kommunikations- und Verkehrsmöglichkeiten dazu, dass Nachbarschaft für Beziehungen immer weniger ausschlaggebend wird. Welche Auswirkungen diese Entwicklung auf Erinnerungsorte, das Identitätsverhalten und schließlich auf Erinnerungskulturen von Gesellschaften haben wird, ist wohl kaum vorauszusagen. So wie Noras nationale Erinnerungsorte eine leicht nostalgische Note haben (die lieux de mémoire ersetzen die nicht mehr oder zumindest in deutlich geringerer Zahl vorhandenen milieux de mémoire), so ist es durchaus möglich, dass bilaterale Erinnerungsorte einst an die Stelle immer weniger bedeutsamer Nachbarschaften treten werden. Erinnerung und Geschichte Gesellschaften, ja ganze Völker haben Geschichte; Gesellschaften haben auch Erinnerungen an die Vergangenheit. Ist das das Gleiche? Auf den ersten Blick scheint es so, aber bei näherem Hinschauen ergeben sich doch erhebliche Unterschiede. Die simple Feststellung, dass Berichte über vergangene Ereignisse widersprüchlich zu sein pflegen, warf immer wieder Probleme auf, nicht nur für Historiker. Auf die Dauer konnte es kaum akzeptabel sein, solche Widersprüche auf sich beruhen zu lassen. Also entwickelte man ein intellektuelles Instrumentarium, mit dessen Hilfe man herauszufinden versuchte, welcher Bericht oder welche Quelle vertrauenswürdiger und damit der Wahrheit des tatsächlich Geschehenen näher sei. Aus diesem Bemühen heraus ist Geschichte als wissenschaftliche Disziplin entstanden; ihre Produkte, auf kritisch geprüfte Quellen gestützt, galten und gelten als ›wahrer‹, zumindest als vertrauenswürdiger im Vergleich zu bloßen Erinnerungen, selbst wenn letztere schriftlich vorlagen. Allerdings – der Geschichtswissenschaft fehlt so manches, was direkte Erinnerungen auszeichnet: die Unmittelbarkeit des Erlebnisses, die Vollständigkeit einer umfassenden Erzählung, die direkte Deutung und der sofortige Sinnbezug, kurz der direkte Gegenwartsbezug, denn ich erinnere mich hier und heute nach meinen heutigen Bedürfnissen. Geschichtsschreibung aber soll sachbezogen, also objektiv im eigentlichen Sinne des Wortes geschrieben sein – und dabei geht nicht selten verloren, dass Geschichte (›das Geschehene‹) von den Handelnden und Betroffenen in all ihrer Subjektivität erlebt wird. Dabei ist nicht das eine (Geschichtsschreibung) besser als das andere (Erinnerung), sondern beides antwortet auf unterschiedliche Fragen und erfüllt unterschiedliche Bedürfnisse. Nicht selten wird zwar Geschichte und somit auch das Œuvre der Geschichtsschreibung metaphorisch als Erinnerung der Menschheit oder einer Gesellschaft bezeichnet – quasi als Selbstrechtfertigung einer Disziplin, deren Ergebnisse außerhalb der Fachwelt oft nur recht fragmentarisch wahrgenommen werden. Dennoch Wovon Erinnerungsorte (nicht) erzählen 25 besteht weitgehend Einstimmigkeit darüber, dass Geschichte und Erinnerung zwei grundsätzlich verschiedene Dinge sind, die lediglich die Vergangenheit als ihr Objekt gemeinsam haben. Diese für fast 300 Jahre geltende Unterscheidung wurde in den letzten Jahrzehnten zwar nicht aufgehoben, ist aber doch in eine gewisse Dynamik des Flimmerns geraten, nicht zuletzt seitdem die sichere Wahrnehmbarkeit der Welt in Zweifel gezogen wird – die Welt ist nicht mit ihrer Wahrnehmung identisch. Gleichzeitig ist der Alltag der Menschen immer stärker in den Fokus des Interesses geraten. Seitdem wird Erinnerung als Kunde vom Geschehen wieder ernster genommen. Dieser Vorgang konnte an der modernen Geschichtswissenschaft nicht spurlos vorübergehen, denn es gehört nun einmal zu deren Ansprüchen, keinen Bereich des menschlichen und gesellschaftlichen Lebens auszulassen, sondern alles zu ›historisieren‹. Dazu kamen noch zwei weitere Aspekte: Zum einen gehören Erinnerungen für jeden Historiker zu den Quellen, die er ebenso wie alle anderen Quellen einer werkstattgerechten Kritik unterwerfen muss – und da sich weiterhin die Geschichtswissenschaft niemals nur mit Ereignissen und Strukturen befasst hat, sondern immer auch mit Kultur, Wissen und Denken in ihren / seinen je historischen Verläufen, liegt es auf der Hand, dass sie zum anderen auch die Rolle weiterer Phänomene im geistigen und mentalen Leben menschlicher Gesellschaften zum Objekt ihres Interesses macht. Spätestens dann ›dämmerte‹ es vielen Historikern, dass menschliche Gesellschaften nicht nur von politischen und wirtschaftlichen Interessen geleitet werden, dass nicht nur Fakten und Strukturen das menschliche Dasein bestimmen, sondern dass es offensichtlich Ebenen der Realität gibt, die wir als wirkungsmächtig anerkennen müssen, auch wenn die Regeln zweckrationalen Handelns dort nicht den ersten Ausschlag geben. Allerdings lässt es unser wissenschaftliches Selbstverständnis nicht zu, interessenpolitisch schwer erklärbare Phänomene einfach als den Nachweis von Gottes Wirken in dieser Welt zu deklarieren. Denn weder geht es um Metaphysik noch um Transzendenz, sondern um symbolische Dimensionen, deren menschliche Gesellschaften offensichtlich bedürfen und deren Existenz wir mühelos konstatieren können, die aber als Produkte zwischenmenschlicher Interaktion in den Griff der Erkenntnis zu bekommen ein nicht einfaches Unterfangen ist. Pierre Nora hat dafür den oben schon genannten Begriff der Geschichte zweiten Grades geprägt, eine Formel, die selbst zwar wiederum fast schon inflationär benutzt wird, die aber inhaltlich zu präzisieren noch nicht allzu schwer sein sollte. Gemeint ist nämlich: Es wäre an der Zeit, dass sich die Geschichtswissenschaft mit den symbolischen Dimensionen des gesellschaftlichen Lebens und aller menschlichen Kulturen beschäftigt – wie entstehen sie und – vor allem – welche Funktionen üben sie aus, warum benötigen wir sie? Da dies kein ausschließlich geschichtswissenschaftliches Problem darstellt, befassen sich auch andere Disziplinen damit – die Ethnologie, die Anthropologie, die Sozialpsychologie, die Soziologie u. a. Jede von ihnen muss Methoden entwickeln, 26 Hans Henning Hahn und Robert Traba wie man diese Dimensionen erforschen und rational erklären, also gewissermaßen ›entzaubern‹ kann. Dazu ist auch die Geschichtswissenschaft aufgerufen, und diesem methodischen Desiderat kommt sie seit mehreren Jahrzehnten in einer – mitunter durchaus verwirrenden – Debatte nach. Das Stichwort ›entzaubern‹ provoziert einen notwendigen Exkurs: Max Weber (1864-1920) war es, der diesen Terminus als letztendliches Postulat an jegliche Sozialwissenschaft einführte: Die zunehmende Intellektualisierung und Rationalisierung bedeutet also nicht eine zunehmende allgemeine Kenntnis der Lebensbedingungen, unter denen man steht. Sondern sie bedeutet etwas anderes: das Wissen davon oder den Glauben daran: [sic!] daß man, wenn man nur wollte, es jederzeit erfahren könnte, daß es also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe, die da hineinspielen, daß man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne. Das aber bedeutet: die Entzauberung der Welt. Nicht mehr, wie der Wilde, für den es solche Mächte gab, muß man zu magischen Mitteln greifen, um die Geister zu beherrschen oder zu erbitten. Sondern technische Mittel und Berechnung leisten das. Dies vor allem bedeutet Intellektualisierung als solche.35 Bedeutet die hier angesprochene Erforschung der symbolischen Dimensionen historischen, politischen und sozialen Lebens eine ›Entzauberung‹ im von Weber formulierten Sinne? Zunächst wäre eine vorbehaltlose Bejahung naheliegend, denn gerade darauf liefe die Geschichte zweiten Grades ja hinaus. Und Phänomene wie kollektive Erinnerung, Stereotypen oder Mythen nach ihrer Rolle in menschlichen Gesellschaften zu befragen, trägt gewiss zu einer Rationalisierung unseres Wissens über gesellschaftliche und kulturelle Vorgänge bei – doch heißt das auch, dass wir sie damit »durch Berechnen beherrschen« können? Die Beherrschung von Gesellschaften durch berechnende Manipulation mithilfe von Mythen, Stereotypen und Erinnerungskonstruktionen ist angesichts der Bedeutung, die wir heute dem Diskursgeschehen einer Gesellschaft zumessen, ein unüberschaubares Phänomen. Die Gleichsetzung von Begriffen wie Intellektualisierung, Rationalisierung, Entzauberung der Welt und Beherrschung durch Berechnen mag da doch einige Warnlichter aufleuchten lassen – verweist sie doch gewissermaßen auf die dunkle Seite nicht nur der aufklärerischen Entzauberungsformel, sondern vielleicht zugleich auf die Geschichte vom Zauberlehrling, der das Eigenleben seiner wissenschaftlichen Formeln nicht voraussieht. Für die Geschichtswissenschaft ergeben sich – nach heutigem Stand – drei Forschungsfelder für eine Geschichte zweiten Grades. Auf allen dreien geht es in unterschiedlichem Maße um die Kohäsion von Gesellschaften, also um deren Identitätsverhalten. Im Mittelpunkt stehen Stereotype (im Sinne von Fremd- und Eigenbildern)36, moderne Mythen aller Art37 und schließlich Erinnerungsorte, also Phänomene der kollektiven Erinnerung. Ausschlaggebend sind dabei Fragen nach deren Rollen und Funktionen in den einzelnen Gesellschaften. Die Identitätsrelevanz haben sie alle drei gemeinsam, ansonsten aber handelt es sich um unter- Wovon Erinnerungsorte (nicht) erzählen 27 schiedliche Phänomene, die deshalb keineswegs als Synonyma zu sehen und methodisch gleich zu behandeln sind. Von den beiden Autoren dieser Einführung hat der deutsche Autor die moderne Stereotypenforschung in Polen kennengelernt (Adam Schaff, 1913-2006; Tomasz Szarota, *1940; Kazimierz Wajda, *1930) und sich dann darum bemüht, in Deutschland mit seinen Mitarbeitern eine neue Methodologie der Historischen Stereotypenforschung zu entwickeln. Auch die Beschäftigung mit moderner Mythenforschung gehört zu den Bereichen der Geschichte zweiten Grades, die Teil der Vorgeschichte dieses Projekts sind. Die hier skizzierte Entwicklung vollzog sich in einem wissenschaftsgeschichtlichen Kontext, der sich am besten mit der Geschichte der Versuche, das kollektive Gedächtnis zu konzeptualisieren, verständlich machen lässt. Narrationen und Auswahlfragen, oder: Wo ist die polnische Wirtschaft? Was können die deutsch-polnischen Erinnerungsorte auf empirischer und narrativer Ebene Neues in die Historiographie oder – breiter noch – in die Rezeption einer gegenseitigen Wahrnehmung der Deutschen und Polen im europäischen Kontext einbringen? Wir möchten versuchen, eine Antwort auf diese Frage zu geben, indem wir näher auf inhaltlich-praktische Überlegungen eingehen, die aus den definitorischen Prinzipien und unserer Definition von Erinnerungsorten hervorgehen, und die Basis legen für den Auswahlprozess der deutsch-polnischen Erinnerungsorte, den Inhalt und ihre Deutungsräume. Der Erörterung der theoretischen Mäander muss eine Platzierung der Erinnerungsorte auf der gemeinsamen Achse mit Stereotypen und Mythen in der konkreten deutsch-polnischen Dimension folgen. Eine klare Grenze zwischen diesen drei Begriffen ziehen zu wollen, wird immer ein ebenso vorläufiges wie unbefriedigendes Unterfangen bleiben, da sie naturgemäß gemeinsame Bereiche einnehmen, gegenseitig aufeinander einwirken und erst ihre Summe die Rezeption der Geschichte zweiten Grades schließt. In Bezug auf die Trennung von Mythen und Erinnerungsorten hat Heidi Hein-Kircher eine – nach Möglichkeit – klare Linie im vierten Band der vorliegenden Reihe gezogen. Anstatt allerdings politische Mythen »als eine Sonderform von Erinnerungsorten zu verstehen«38, präferieren wir die Formulierung, dass Erinnerungsorte zu politischen Gründungsmythen werden können. Dies tritt dann ein, wenn sie von der besonderen Kraft eines emotionalen Engagements und eines gesellschaftlichen Bedürfnisses sowie einer Mobilisierung von Massenmedien, politischer Propaganda usw. begleitet werden. Es kann auch zur umgekehrten Variante kommen: Im Potential des Erinnerungsorts findet sich der politische Mythos, was am Beispiel der Türkei sichtbar wird, die im 17. und 18. Jahrhundert vor allem als Kristallisationspunkt der »Europa bedrohenden Barbarei« assoziiert wurde, gegen welchen sich der Mythos von Polen als antemurale christianitatis entwickelte. Am besten wohl ist die untrennbare Verbindung zwischen bei- 28 Hans Henning Hahn und Robert Traba den Begriffen in den Entstehungsprozessen der Erinnerungsorte / Gründungsmythen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen zu erkennen – in der verlorenen Heimat respektive in den Wiedergewonnenen Gebieten. Heute erfüllen die Wiedergewonnenen Gebiete nicht mehr die Rolle eines Gründungsmythos, nichtsdestoweniger bleiben sie immer noch ein wichtiger Erinnerungsort der Polen, der gleichwohl seinen gesellschaftlichen Einfluss verloren hat (vgl. bei den weiter unten ausgeführten definitorischen Prinzipien das dritte und vierte Prinzip). Anders als der Gründungsmythos, der seinen Kulminationspunkt, seine Dauer und sein definitives Erlöschen hat, können Erinnerungsorte ihre Konjunkturen haben, die neben der Initiation, der Dauer und der Verdrängung oder dem Vergessen dazu führen, dass sie aufs Neue im kommunikativen Gedächtnis wiederhergestellt werden können, was etwa die Geschichte der östlichen Gebiete Polens, der Kresy, belegt. Nicht jeder politische Mythos muss die ›spezifische Form‹ eines Erinnerungsortes annehmen. Ein Beispiel ist die ›Auferstehung aus Ruinen‹, der ›Sieg‹ (über den Faschismus) oder die ›Befreiung‹, die es in unserer Liste von Erinnerungsorten nicht gibt, die sich in verschiedenen Erinnerungsorten zum Teil aber wiederfinden. Die Logik unserer Definition der Erinnerungsorte schloss neben den Mythen auch Stereotype aus, selbst solch populäre wie: der ›deutsche Hochmut‹, die ›preußische Disziplin‹, die ›deutsche Ordnung‹, der ›deutsche Humor‹ oder die ›schöne Polin‹, der ›Pole – Katholik‹, der ›polnische Reichstag‹ oder die ›polnische Wirtschaft‹, die unter der deutschen Bezeichnung auch in der polnischen Sprache Verwendung findet (anstelle oder als Äquivalent der polnischen ›Unordnung‹, ›Schludrigkeit‹ usw.). Die Auseinandersetzung betrifft in diesem Fall das Wesen der Definition beider Begriffe sowie – vor allem konkret – das Fehlen des Erinnerungsorts ›polnische Wirtschaft‹ in unserer Liste. Der Vorschlag einer Einbeziehung der ›polnischen Wirtschaft‹ würde die definitorische Logik des Projekts (welche sich, zwecks Einhaltung der narrativen Disziplin, in einem linearen Diskurs konsequent von Nora, Pomian, Csáky, François und Schulze – um nur die wichtigsten zu nennen – weiterentwickelt39) auf zweifache Weise sprengen. Hubert Orłowskis (*1937) Vorschlag also, die Erinnerungsorte vor allem um die Kategorie des ›Feldes‹ von Pierre Bourdieu (1930-2002) zu erweitern oder gar zu ›rekonstruieren‹, läuft auf eine Alternative oder den Vorschlag hinaus, ein völlig anderes Projekt zu konzipieren als die von uns beschriebenen Erinnerungsorte.40 Dieses Dilemma sollen unsere zukünftigen Leser und andere Forscher lösen. Unseres Erachtens hat Bourdieu eine allzu komplexe und in sich kohärente Theorie entworfen, als dass man sie partiell in unser Projekt aufnehmen könnte.41 Seine Inspirationen waren für das Konzeptualisierungsteam und für viele Autoren hingegen ein offensichtlicher, zusätzlicher Wert, der den Vorstellungshorizont erweiterte, u. a. um die Rolle »des Kampfes um die symbolische Herrschaft«. Es war auch nicht unbedingt nötig, auf Bourdieu zurückzugreifen, um festzustellen, dass die soziale Wirklichkeit »in Dingen und in Gehirnen«42 existiert, da viel früher bereits Florian Znaniecki (1882-1958) eine ähnliche Theorie entwickelt hatte, in der er sich auf den »humanistischen Ko- Wovon Erinnerungsorte (nicht) erzählen 29 effizienten« berief. Er forderte die Berücksichtigung des Bewusstseinsfaktors in allen Forschungen zu sozialen Interaktionen. Indem er das gesellschaftliche Faktum von den in den Köpfen existierenden Fakten unterschied, bestimmte er den humanistischen Koeffizienten als Bedeutung, die die Menschen den Dingen und Situationen geben, mit denen sie in der Erfahrung in Berührung kommen. Kurz gesagt, wenn wir uns auch nicht so sehr in Bourdieus Theorien (oder in Alfred Schütz’ (1899-1959) Begriff der Lebenswelt) vertieften, wofür Orłowski plädiert hatte, so versuchten wir doch, diese Forschungsperspektive zumindest teilweise zu berücksichtigen, nur, dass sie dem Hauptsinn der Erinnerungsorte untergeordnet war. Keinesfalls aber haben wir – weder im Zuge der Auswahl der Erinnerungsorte, noch in ihrer Analyse – versucht, »sorgfältig [die] Unvergleichbarkeit des deutschpolnischen (bzw. polnisch-deutschen) Raums [zu artikulieren]«.43 Im Gegenteil: Eine solche Aufgabe stünde im Widerspruch zu unserem Verständnis der Berufung des Historikers und dem antinormativen Charakter dieses Werks. Der deutsch-polnische Charakter der vorgeschlagenen Studien hatte zum Zweck, in den verflochtenen binationalen Geschichten die Universalität der Verhandlungs- und Verfestigungsprozesse von Erinnerungsorten aufzuzeigen. Unserem Verständnis nach handelte es sich bei den Trägern von Erinnerungsorten mehrheitlich um Medien oder politische und gesellschaftliche Akteure eines kollektiven Speicherprozesses von Erinnerung. Die ›polnische Wirtschaft‹ erfüllte weder die Rolle eines Trägers noch die eines Erinnerungsorts. Ihre Wirkungskraft auf die nachbarliche Wahrnehmung der Polen durch die Deutschen ist freilich nicht zu überschätzen. In seinem Schüsselbeitrag zum Verständnis dieses Phänomens konstatiert Orłowski richtigerweise, dass es nicht möglich ist, die Rolle zu erfassen, die der Begriff – zugleich Stereotyp, Metapher und eine historisch durch vielfältige Konnotationen angereicherte Figuration – ›polnische Wirtschaft‹ im deutsch-polnischen Erfahrungsbereich gespielt hat. […] Aus diesem Grund ist diese Phrase in der sozialen Kommunikation vielfältig einsetzbar: als Phrase ohne Nebenbedeutungen, als Stereotyp oder gar als Topos oder eben als regionalhistorische Metapher.44 Wie also hätte ein solches Metastereotyp (ein semantisches Hybrid) in die Definition der Erinnerungsorte passen sollen? Die Allmacht der ›polnischen Wirtschaft‹ in der Vereinnahmung des deutschen Diskurses über die Polen – wie dies Orłowski verstehen möchte – eliminiert sie im Hinblick auf die Erfüllung einer weiteren Funktion. Die Frage muss auch rhetorisch bleiben, da die ›polnische Wirtschaft‹ im Grunde genommen mehr oder minder unmittelbar den Großteil der Beiträge durchzieht, in denen Erinnerungsorte aus der modernen Epoche der Nationalismen interpretiert werden, indem sie die zivilisatorisch-axiologische Asymmetrie der wechselseitigen Wahrnehmung betont. Unsere Definition von Erinnerungsorten und unsere methodologische Herangehensweise zu diesen Forschungen machte es möglich – wie wir nach Michael G. Müller (*1950) wiederholen möchten –, »auf der Ebene der Rekonstruktion kollektiver Erinnerungen [...] präzise [zu] zeigen, wie und warum historische Ereignisse, 30 Hans Henning Hahn und Robert Traba an denen Polen und Deutsche als kollektive Akteure beteiligt waren, in divergente nationale Geschichtsnarrative übersetzt wurden«.45 Nur so viel und doch so viel! Indem wir die ursprüngliche Bedeutung der lieux de mémoire, deren Ziel die Erarbeitung eines Kanons des französischen Gedächtnisses gewesen war, dekonstruierten, waren wir uns im Klaren darüber, dass eine Reproduktion von Erinnerungsorten sie indirekt wieder festigen kann. In unserem Versuch, diese nicht zu vermeidende Nebenerscheinung der Beschäftigung mit der Geschichte zweiten Grades im Allgemeinen zu minimieren, nutzten wir drei ›Notausgänge‹. Den ersten stellt die Definition der Erinnerungsorte selbst dar, die Fokussierung auf Mechanismen, die zu einer Herauskristallisierung und Festigung kollektiver Vorstellungen über die Vergangenheit führen. Diese Herangehensweise pointiert schließlich die Ergänzung der Beschreibung von deutsch-polnischen Erinnerungsorten um den dritten Band der Reihe: Parallelen. Mit unserem auf Funktionalität basierenden Ansatz wollten wir die Universalität und Allgemeinheit solcher gedanklicher Konstruktionen wie der Konzeption der Erinnerungsorte hervorheben. Zweitens versuchten wir nach Konsultationen mit den Autoren, die Titel der einzelnen Beiträge jeglichen normativen Sinngehalts zu entledigen. Bei einer Lektüre lediglich der Beitragstitel in der vorliegenden Form würde sich ein Fragenkatalog ergeben, ein Raum zur Auseinandersetzung und zum Dialog, nicht aber – so hoffen wir – fixierende Denkfiguren, die in den Schlagwörtern selbst enthalten wären. Drittens luden wir die Autoren dazu ein, von der traditionellen Form eines akademischen Textes zugunsten eines nachdenklichen Essays Abstand zu nehmen, dessen Kern die Beschreibung der Entstehung und Dauer eines Erinnerungsortes wäre. Den Ballast der Theorien, Methoden, komplizierter wissenschaftlicher Diskurse verlagerten wir in separate Bände oder auch in die Einführungen. Mithilfe einer leserfreundlichen Poetik der Beiträge wollten wir unsere zukünftige Leserschaft in eine interaktive Beziehung zum Text setzen, dem Motto folgend: »Es handelt sich nicht um eine obligatorische Interpretation, sondern nur um einen der möglichen Deutungsvorschläge.« Ob und wie der von uns vorgeschlagene Ansatz rezipiert wird, werden unsere Leser entscheiden. Die Rekonstruktion jedenfalls festigt nicht notwendigerweise die ›nationale Identitätskrankheit‹, sondern sie kann durch die Sensibilisierung auf die Spezifik der Geschichte – der eigenen wie auch der der Nachbarn – ein wirksames Heilmittel gegen festgefahrene Denkschemata werden. Die Auswahl der Erinnerungsorte ist weder erschöpfend noch normativ. Es stimmt allerdings, dass sie zu verschriftlichen und dem Leser in Buchform vorzulegen nichts anderes ist als ein Akt willkürlicher Auswahl. Ergänzen wir: Jeder Autor ist zu einer solchen Selektion verurteilt gewesen. Um den normativen Charakter dieser Auswahl abzumildern, sollte die Selektionsmethode auf wissenschaftlichen Voraussetzungen beruhen sowie sachlich und transparent durchgeführt werden. Voll und ganz teilen wir die wissenschaftliche Skepsis, dass es »schwierig sei«, die konkrete Wirkung von Erinnerungsorten »empirisch nachzuweisen, gar exakt zu vermessen«46, wie es ebenso ein Ding der Unmöglichkeit wäre, messbar aufzuzeigen, dass Erinnerungs-
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