Prof. Dr. Renate Kastorff Viehmann

Warum Baugeschichte?
Tizian malte in der Mitte des 16. Jahrhunderts die
„Allegorie der Klugheit“. Das Bild zeigt zwei Dreifachgesichter, oben sind esMenschenköpfe, unten
Tiergesichter. Im Zentrum steht der Mensch - damals der Mann - in seinen mittleren Lebensjahren,
der der Gegenwart und den Betrachtern ins Auge sieht und dem wir verantwortliches Handeln,
praktische Vernunft, Entscheidungsfähigkeit und die Kraft zum Standhalten zutrauen. Das
entsprechende Tiergesicht ist der Löwe. Richtiges Reagieren auf Probleme, die zur Lösung
anstehen, erfordert Bedächtigkeit und Erfahrung, mit Blick zurück in die
Vergangenheit.
Der Maler benutzt das Profil eines alten Menschen, eines Greises, und das Wolfsgesicht - denn der
Wolf zerreist, was ihm begegnet - um an die Bedeutung des Vergangenen für Gegenwärtiges zu
erinnern. Agieren in der Gegenwart wirkt jedoch nie in die Geschichte zurück, immer in die Zukunft.
Der Auftrag an Architektur und Städtebau lautet, Zukünftiges zu gestalten, nicht Vergangenheiten
zurückzuholen. Auf dem Gemälde wird die Zukunft durch den jungen Mann im Profil symbolisiert. Er
ist ungestüm, manchmal auch unbedächtig (deshalb die Disziplinierung durch den Blick in die
Vergangenheit) und wagemutig. Vielleicht wie der Hund, der hechelnd und unbedacht hinter all
dem, was die Zukunft bringen könnte, herhetzt.
Der Blick in die Geschichte ist also - im Denken des frühneuzeitlichen Künstlers - nicht das
Wesentliche, um in der Zeit seinen Mann oder seine Frau zu stehen, aber er ist notwendig, wollen
Mann und Frau klug und bedächtig handeln.
Wir erinnern um nicht zu vergessen; wir brauchen Vorstellungskraft, wenn wir planen und
entwerfen. Leon Battista Alberti bezeichnete in diesem Zusammenhang das Auge sinngemäß als
das wichtigste „Instrument“ des Architekten (heute auch der Architektin). Das Fach Baugeschichte
trägt dazu bei, historische Bauten und Stadtstrukturen zu sehen. Und in der Tat kann Mann und
Frau an der vielgestaltigen, manchmal einfach klassischen, manchmal von fernen Epochen
erzählenden, oftmals regelhaften, ab und zu auch sehr subjektivistsich aufgefassten historischen
Architektur das Auge und den Verstand schulen. Ohne das sehende Auge, das sich insbesondere
dem schon Gebauten widmet, gibt es in der Architektur kein Erkennen und kein Verstehen. Nur wer
neun Gebäude analysiert hat - so Frank Lloyd Wright - kann das zehnte bauen.