Graham Jusletterhot! - FURER & KARRER Rechtsanwälte

Barbara Graham-Siegenthaler
Die EU-Erbrechtsverordnung und deren
Auswirkungen auf die Nachlassplanung in der
Schweiz
Die EU-Erbrechtsverordnung, welche für Erbfälle ab dem 17. August 2015 Geltung
erlangt hat, ist bei grenzüberschreitenden Erbfällen eminent wichtig. Es gilt sie
auch aus Sicht der Schweiz zu berücksichtigen. Die neue EU-Erbrechtsverordnung
harmonisiert das internationale Privatrecht der EU-Mitgliedstaaten in grenzüberschreitenden Erbfällen. Sie führt einheitliche Regeln für Fragen der Zuständigkeit
und des anwendbaren Rechts ein. Grundsätzlich soll nun nur noch eine einzige
Behörde für den gesamten Nachlass zuständig sein und ein einheitliches Erbrecht
auf den Nachlass Anwendung finden, unabhängig davon, wo sich das Nachlassvermögen befindet.
Beitragsarten: Beiträge
Rechtsgebiete: Erbrecht; IPRG; Europarecht
Zitiervorschlag: Barbara Graham-Siegenthaler, Die EU-Erbrechtsverordnung und deren
Auswirkungen auf die Nachlassplanung in der Schweiz, in: Jusletter 21. September 2015
ISSN 1424-7410, http://jusletter.weblaw.ch, Weblaw AG, [email protected], T +41 31 380 57 77
Barbara Graham-Siegenthaler, Die EU-Erbrechtsverordnung und deren Auswirkungen auf die Nachlassplanung in
der Schweiz, in: Jusletter 21. September 2015
Inhaltsübersicht
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
1.
Einleitung
Anwendungsbereich der EU-Erbrechtsverordnung
Grundzüge der EuErbVO
3.1. Gleichlauf der Anknüpfung von Zuständigkeit und anwendbarem Recht
3.2. Grundsatz der Nachlasseinheit
3.3. Gewöhnlicher Aufenthalt als zentraler Anknüpfungspunkt
3.4. Vorrang internationaler Abkommen
Der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts
4.1. Grundlagen
4.2. Fallkonstellationen
Internationale Zuständigkeit nach der EuErbVO
5.1. Grundzüge der Regelung
5.2. Allgemeine Zuständigkeit am letzten gewöhnlichen Aufenthaltsort
5.3. Belegenheitsort (subsidiäre Zuständigkeit)
5.4. Forum legis und Gerichtsstandvereinbarung
5.5. Rügelose Einlassung
5.6. Weitere Zuständigkeiten
5.7. Einzelfragen
Anwendbares Recht nach der EuErbVO
6.1. Regelanknüpfung (objektive Anknüpfung)
6.2. Ausweichklausel
6.3. Reichweite des Erbstatuts
6.4. Rechtswahl (subjektive Anknüpfung)
6.4.1. Muster für eine Rechtswahlklausel
6.4.2. Voraussetzungen der Rechtswahl
6.4.3. Fiktion einer Rechtswahl
6.5. Praxishinweise
6.6. Recht eines Drittstaates
6.6.1. Universelle Anwendung (erga omnes)
6.6.2. Renvoi
6.7. Ausnahmen vom anwendbaren Recht
Verhältnis zwischen EU-Mitgliedstaaten und der Schweiz
7.1. Allgemeine Würdigung der EuErbVO aus Sicht der Nachlassplanung
7.2. Zusammenfallen von letztem Wohnsitz und letztem gewöhnlichem Aufenthalt
7.3. Auseinanderfallen von letztem Wohnsitz und letztem gewöhnlichem Aufenthalt
7.4. Subsidiäre schweizerische Heimatgerichtszuständigkeit
7.5. Zuständigkeit aufgrund von Nachlassvermögen in einem EU-Mitgliedstaat
7.6. Ausschluss von Vermögenswerten vom Verfahren
7.7. Würdigung
Fazit und Folgerungen für die Beratung
Einleitung
[Rz 1] Seit dem 17. August 2015 muss damit gerechnet werden, dass die EU-Erbrechtsverordnung
(abgekürzt EuErbVO1 ) auf Erbfälle Anwendung findet. Bei der erbrechtlichen Planung ist es unerlässlich, diesen neuen Rechtszustand zu berücksichtigen. Dies bildet der Anlass, um im Folgenden
1
Verordnung über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Annahme und Vollstreckung öffentlicher Urkunden in Erbsachen sowie zur Einführung
eines Europäischen Nachlasszeugnisses vom 4. Juli 2012, Nr. 650/2012, ABl EU v. 27.7.2012 Nr. L 201, S.
107 ff. und ABl EU v. 12.2.2013, Nr. 41, S. 16.
2
Barbara Graham-Siegenthaler, Die EU-Erbrechtsverordnung und deren Auswirkungen auf die Nachlassplanung in
der Schweiz, in: Jusletter 21. September 2015
die neuen erbrechtlichen Bestimmungen der EuErbVO darzustellen, wobei das Schwergewicht des
Beitrages auf die Grundzüge, den Inhalt sowie die Anwendbarkeit der EU-Erbrechtsverordnung
in der Schweiz gelegt werden sowie insbesondere auf die Frage der Auswirkungen dieser Bestimmungen auf die erbrechtliche Planung in der Schweiz.2 Die EuErbVO regelt im Wesentlichen zwei
zentrale Fragen: (1) Welcher Staat ist bei einem grenzüberschreitenden Erbfall für die Nachlassabwicklung und Erbstreitigkeiten zuständig und (2), welches nationale Erbrecht ist auf den Erbfall
anwendbar.3
[Rz 2] In Ziff. 2 wird der Anwendungsbereich der EuErbVO beleuchtet. Anschliessend werden die
wichtigsten Grundzüge und Neuerungen der Verordnung unter die Lupe genommen (Ziff. 3). Der
zentrale Begriff der EuErbVO ist der gewöhnliche Aufenthalt. Dieser wird in der anschliessenden
Ziff. 4 behandelt. In Ziff. 5 schliesslich wird die Zuständigkeitsordnung der EuErbVO ausführlich
dargestellt. Ziff. 6 behandelt sodann die Regeln zur Bestimmungen des anwendbaren Rechts der
Verordnung. In Ziff. 7 wird das Verhältnis zwischen EU-Mitgliedstaaten und der Schweiz untersucht
und die wichtigsten Unterschiede beleuchtet. Abschliessend wird ein Fazit gezogen mit Hinweisen
für die erbrechtliche Planung (Ziff. 8).
2.
Anwendungsbereich der EU-Erbrechtsverordnung
[Rz 3] Die Europäische Erbrechtsverordnung Nr. 650/2012 vom 4. Juli 2012 (EuErbVO) hat allgemeine Geltung, wie dies für Verordnungen der EU üblich ist. Ihr Regelungsbereich umfasst die
Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen
und die Annahme und Vollstreckung öffentlicher Urkunden in Erbsachen sowie die Einführung
eines Europäischen Nachlasszeugnisses.4 Die EuErbVO ist in sämtlichen Teilen verbindlich und in
den Mitgliedstaaten der EU unmittelbar anwendbar. Allerdings ist eine Ausnahme für das Vereinigte Königreich, Irland und Dänemark zu machen. Diese Staaten nehmen an der EuErbVO nicht
teil. Es ist somit eine Anwendbarkeit in 25 EU-Mitgliedstaaten gegeben.5 Für diese Staaten ersetzt die EuErbVO die bisherigen Regeln des Internationalen Privatrechts und des Internationalen
Zivilprozessrechts im Bereich des Erbrechts.
[Rz 4] Von eminenter Bedeutung für die Schweiz ist die Tatsache, dass die Bestimmungen der
EuErbVO auch im Verhältnis zu Drittstaaten, wie der Schweiz, gelten.6 Allerdings ist es für die
Schweiz keine direkte Anwendung der EuErbVO, zu welcher sie verpflichtet ist.7 Wegen ihrem
weitreichenden Anwendungsbereich ist die EuErbVO jedoch auch von der Schweiz zu berücksichtigen.
2
Vgl. zum IPR des Erbrechts und zur EuErbVO ausführlich Barbara Graham-Siegenthaler, Anhang IPR,
in: Daniel Abt/Thomas Weibel (Hrsg.), Praxiskommentar Erbrecht, Nachlassplanung, Nachlassabwicklung,
Willensvollstreckung, Prozessführung, Basel, 3. Aufl., 2015, auf den sich dieser Beitrag stützt.
3
Vgl. z.B. den Kurzüberblick von Kinga M. Weiss/Domino Hofstettter, Walder Wyss Rechtsanwälte,
Newsletter Nr. 117, August 2015.
4
Vgl. zum sachlichen Anwendungsbereich der EU-Erbrechtsverordnung Ivo Schwander, Die EUErbrechtsverordnung, AJP 2014, S. 1084 ff., S. 1085; Catherine Grun Meyer /Thomas Sprecher, Aspekte
der neuen EU-Erbrechtsverordnung und ihres Bezugs zur Schweiz, ZGBR 2015, S. 145 ff., S. 147.
5
Vgl. Kinga M. Weiss/Manuel Bigler, Die EU Erbrechtsverordnung – Neue Herausforderungen für die internationale Nachlassplanung aus Schweizer Sicht, successio 2014, S. 163 ff., S. 164; Schwander, Erbrechtsverordnung (Fn. 4), S. 1085; Grun Meyer/Sprecher (Fn. 4), S. 146.
6
Vgl. Schwander, Erbrechtsverordnung (Fn. 4), S. 1086.
7
Vgl. Grun Meyer/Sprecher (Fn. 4), S. 147.
3
Barbara Graham-Siegenthaler, Die EU-Erbrechtsverordnung und deren Auswirkungen auf die Nachlassplanung in
der Schweiz, in: Jusletter 21. September 2015
[Rz 5] Der sachliche Anwendungsbereich der EuErbVO – und damit eine Liste von dem Erbstatut unterliegenden Rechtsfragen – findet sich in Art. 23 Abs. 2 EuErbVO enthalten (vgl. dazu
nachstehend). Nicht geregelt werden in der EuErbVO die Fragen des materiellen Erbrechts. In der
EuErbVO findet sich grundsätzlich kein Sachrecht.8
[Rz 6] Die EuErbVO ist bereits vor drei Jahren, nämlich am 16. August 2012, in Kraft getreten.
Sie findet jedoch erst auf Erbfälle, welche ab dem 17. August 2015 eingetreten sind, Anwendung.9
Was die Frage der vorausschauenden Nachlassplanung betrifft, so hätte die EuErbVO bereits viel
früher berücksichtigt werden müssen.10 Praktisch gesehen hätte sicherlich im Rahmen der Testamentserrichtung überprüft werden müssen, ob das Testament sowohl bei Tod vor als auch bei Tod
am oder nach dem 17. August 2015 die angestrebte Wirksamkeit hat.11 Dies ist zumindest dann
unerlässlich, wenn ein internationaler Bezug zu einem EU-Staat nicht klar ausgeschlossen werden
kann. Wurde dieser zusätzliche Schritt bei der Nachlassplanung bisher unterlassen, wäre es nun
zumindest fahrlässig, dies weiterhin zu tun. Es ist davon auszugehen, dass ein solches Unterlassen
unliebsame Folgen haben könnte.
[Rz 7] Die EuErbVO bringt zahlreiche Neuerungen mit sich. Was ihre Anwendbarkeit betrifft, so
kann diese kurz auf den folgenden Nenner gebracht werden: Sie kommt auf den Nachlass schweizerischer oder ausländischer Staatsangehöriger zur Anwendung, wenn diese im Zeitpunkt des Todes in
einem der Mitgliedstaaten der EU (ohne Dänemark, Irland und UK) den gewöhnlichen Aufenthalt
haben. Die Zuständigkeit kann sich aber auch z.B. daraus ergeben, dass sich Vermögenswerte in
einem dieser EU-Staaten befinden und der Erblasser (oder die Erblasserin) im Zeitpunkt des Todes
zwar in der Schweiz wohnt, aber entweder die Staatangehörigkeit dieses Mitgliedstaates hat oder
in den fünf Jahren vor dem Tod noch in diesem Mitgliedstaat gewöhnlichen Aufenthalt gehabt
hatte.12
[Rz 8] Aufgrund eines einfachen Fragenkatalogs kann geprüft werden, ob bei der vorgesehenen
Nachlassplanung die EuErbVO berücksichtigt werden muss oder nicht:
(1) Ist der künftige Erblasser oder die künftige Erblasserin (auch) Angehöriger bzw. Angehörige
eines EU-Mitgliedstaates (ausser Dänemark, Irland oder UK)?
(2) Hatte der künftige Erblasser oder die künftige Erblasserin in den letzten fünf Jahren in einem
der betreffenden EU-Mitgliedstaaten seinen bzw. ihren gewöhnlichen Aufenthalt? Beabsichtigt
er oder sie künftig in einem dieser Staaten den gewöhnlichen Aufenthalt zu begründen?
(3) Hat der künftige Erblasser oder die künftige Erblasserin Vermögen in einem dieser EU-Mitgliedstaaten oder wird er (oder sie) solches voraussichtlich in der Zukunft haben?13
[Rz 9] Wird eine dieser Fragen mit ja beantwortet, so ist dringend zu raten, auch die EuErbVo
und die Neuerungen, welche diese für die erbrechtliche Planung mit sich gebracht hat, in die
erbrechtsplanerischen Überlegungen miteinzubeziehen.
8
Vgl. Agnes Dormann, Das schweizerische internationale Privatrecht und die europäische Erbrechtsverordnung im Vergleich, in: DACH Europäische Anwaltsvereinigung, Die EU-Erbrechtsverordnung Nr. 650/2012
und deren Auswirkungen auf diverse Länder, 2014, S. 79 ff., S. 81.
9
Art. 83 Abs. 1 und Art. 84 EuErbVO; vgl. Grun Meyer/Sprecher (Fn. 4), S. 146.
10
Vgl. Weiss/Bigler (Fn. 5), S. 166.
11
Vgl. Schwander, Erbrechtsverordnung (Fn. 4), S. 1085.
12
Art. 10 EuErbVO; vgl. Schwander, Erbrechtsverordnung (Fn. 4), S. 1086; Grun Meyer/Sprecher (Fn. 4),
S. 147.
13
Vgl. Schwander, Erbrechtsverordnung (Fn. 4), S. 1086.
4
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der Schweiz, in: Jusletter 21. September 2015
3.
Grundzüge der EuErbVO
3.1.
Gleichlauf der Anknüpfung von Zuständigkeit und anwendbarem Recht
[Rz 10] Gemäss der EuErVO wird die internationale Zuständigkeit in Erbsachen wie auch die
Rechtsnachfolge von Todes wegen (das anwendbare Erbstatut) grundsätzlich am letzten gewöhnlichen Aufenthalt des Erblassers (oder der Erblasserin) angeknüpft.14 Damit wird ein ausserordentlich wichtiges Ziel der EuErbVO – ja des internationalen Privatrechts im Allgemeinen – erreicht.
So soll es inskünftig regelmässig zu einem Gleichlauf von ius und forum kommen. Dies hat den Vorteil, dass das zuständige Gericht im Regelfall sein eigenes formelles wie materielles Recht anwenden
kann.15
3.2.
Grundsatz der Nachlasseinheit
[Rz 11] Eine weitere wichtige Errungenschaft der EuErbVO besteht darin, dass sie Klarheit bezüglich der Erbmasse schafft. Sie verwirklicht zudem weitgehend das Prinzip der Nachlasseinheit,
indem sich die Erbfolge für den gesamten, weltweiten Nachlass, d.h. sowohl für bewegliches als
auch unbewegliches Nachlassvermögen, grundsätzlich nach dem Recht des letzten gewöhnlichen
Aufenthalts des Erblassers (oder der Erblasserin) richtet.16 Eine Nachlassspaltung wird dadurch
inskünftig in den meisten Fällen vermieden.17 Zu diesem Grundsatzentscheid der EuErbVO gibt
es allerdings Ausnahmen. Wird von diesem Grundsatz abgewichen, so muss dies allerdings in der
EuErbVO explizit statuiert werden, ansonsten der Regelfall zum Tragen kommt.18
3.3.
Gewöhnlicher Aufenthalt als zentraler Anknüpfungspunkt
[Rz 12] Die grosse Neuerung der EuErbVO besteht darin, dass diese neu den letzten gewöhnlichen
Aufenthaltsort als zentralen Anknüpfungspunkt vorsieht und dass dieser nun EU-weit in allen
Erbrechtsfälle (ausser in den abseits stehenden Staaten) zur Anwendung gelangt.19 Damit wurde
gewissermassen ein Quantensprung im internationalen Erbrecht erzielt. Zumindest in denjenigen
Erbfällen, bei denen der Erblasser oder die Erblasserin vor seinem bzw. ihrem Tod keine gültige
Rechtswahl getroffen hat, kommt somit immer – unabhängig von der Staatsangehörigkeit des Erblassers bzw. der Erblasserin – das Recht des Staats zur Anwendung, in dem der Erblasser bzw. die
Erblasserin im Zeitpunkt seines (bzw. ihres) Todes seinen (bzw. ihren) gewöhnlichen Aufenthalt
hatte.
[Rz 13] Diese objektive Anknüpfung der Rechtsnachfolge von Todes wegen am letzten Aufenthaltsort war innerhalb der EU bisher nicht selbstverständlich, und sicherlich auch nicht unbestritten,
gingen doch einige bedeutende Staaten vom Staatsangehörigkeitsprinzip aus (wie etwa Deutsch-
14
Art. 4 und Art. 21 Abs. 1 EuErbVO.
15
Vgl. Weiss/Bigler (Fn. 5), S. 166; vgl. dazu auch Erwägung 27 zur EuErbVO. Vgl. zudem Grun Meyer/Sprecher (Fn. 4), S. 145 f.; Schwander, Erbrechtsverordnung (Fn. 4), S. 1089 f.
16
Art. 4 und 21 Abs. 1 EuErbVO; vgl. Schwander, Erbrechtsverordnung (Fn. 4), 1086 und 1092; Grun Meyer/Sprecher (Fn. 4), S. 146.
17
Vgl. Weiss/Bigler (Fn. 5), S. 166.
18
Siehe Art. 10 Abs. 2 EuErbVO; vgl. Schwander, Erbrechtsverordnung (Fn. 4), S. 1086 und 1090 ff.
19
Vgl. Art. 4 und 21 EuErbVO.
5
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land). Diese Konfliktsituation führte in der Vergangenheit zu den bekannten «Störfällen des IPR»,
und konnte sowohl negative wie positive Kompetenzkonflikte zur Folge haben. Neu gilt nun für
alle EU-Mitgliedstaaten das Aufenthaltsprinzip, was für die Schweiz bedeutet, dass eine starke
Annäherung an das schweizerische internationale Erbrecht konstatiert werden kann (vgl. dazu
ausführlicher nachstehend unter Ziff. 7).
3.4.
Vorrang internationaler Abkommen
[Rz 14] Die EuErbVO bringt eine grosse Vereinfachung bei internationalen Erbrechtsfällen mit sich,
was sehr zu begrüssen ist. Allerdings muss beachtet werden, dass mit dem Inkrafttreten der EuErbVO nicht automatisch keine anderen Abkommen mehr auf deren Anwendbarkeit hin überprüft
werden müssen. Die EuErbVO sieht nämlich explizit vor, dass internationale Abkommen im Bereich des internationalen Erbrechts, insbesondere auch das Haager Testamentsübereinkommen20 ,
der Anwendung der EuErbVO grundsätzlich vorgehen.21 Dies entspricht der schweizerischen Regelung (Art. 93 Bundesgesetz über das Internationale Privatrecht [IPRG]).
4.
Der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts
4.1.
Grundlagen
[Rz 15] Definiert wird der für die EuErbVO zentrale Begriff des letzten gewöhnlichen Aufenthalts
im Text der EuErbVO nicht. Es ist davon auszugehen, dass dieser Terminus somit für die Zwecke
der Verordnung autonom auszulegen ist.22
[Rz 16] In den Erwägungen 23 und 24 zur EuErbVO wird erläutert, dass bei der Bestimmung
des gewöhnlichen Aufenthalts eine Gesamtbeurteilung der Lebensumstände des Erblassers (bzw.
der Erblasserin) in den Jahren vor seinem (bzw. ihrem) Tode (vergangenheitsbezogen) und im
Zeitpunkt seines (bzw. ihres) Todes (gegenwartsbezogen) vorzunehmen ist. Der gewöhnliche Aufenthaltsort einer Person soll eine enge und feste Bindung zum betreffenden Staat erkennen lassen.
Es sind dabei sämtliche relevanten Tatsachen zu berücksichtigen, insbesondere die Dauer und die
Regelmässigkeit eines Aufenthalts im betreffenden Staat sowie die damit zusammenhängenden
Umstände und Gründe des Aufenthalts. In die Beurteilung können dabei auch die Staatsangehörigkeit, der Lageort des Nachlassvermögens, die Sprachkenntnisse sowie die familiären und sozialen
Bindungen des Erblassers (bzw. der Erblasserin) einfliessen.23
[Rz 17] Bei der Bestimmung des letzten gewöhnlichen Aufenthalts sind – in Abweichung zur schweizerischen Wohnsitzdefinition – zunächst einzig objektive Kriterien massgebend. Ein rechtsgeschäftlicher oder subjektiver Wille zur Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts ist weder erforderlich
noch beachtlich.24 Abgesehen von dieser negativen Formulierung dürfte zurzeit jedoch noch einiges
20
Haager Übereinkommen über das auf die Form letztwilliger Verfügungen anzuwendende Recht vom 5. Oktober 1961.
21
Art. 75 Abs. 1 EuErbVO; vgl. Schwander, Erbrechtsverordnung (Fn. 4), S. 1087; Grun Meyer/Sprecher
(Fn. 4), S. 149.
22
Vgl. Dormann (Fn. 8), S. 84, m.H.; Grun Meyer/Sprecher (Fn. 4), S. 148.
23
Vgl. Schwander, Erbrechtsverordnung (Fn. 4), S. 1087; Dormann (Fn. 8), S. 84.
24
Vgl. Weiss/Bigler (Fn. 5), S. 167, m.H.
6
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an Unsicherheit bezüglich der begrifflichen Schärfe dieses Begriffs und dessen Anwendung in der
Praxis vorliegen. Zu erwarten ist, dass es bald zu entsprechenden Rechtsfällen im Zusammenhang
mit der Anwendung der EuErbVO in diesem Bereich kommen wird, und dass dann der EuGH
die Gelegenheit haben wird, für eine gemeinschaftsweite einheitliche Auslegung des Begriffs zu
sorgen.25 Allerdings dürften dazu einige Rechtsfälle zuerst nötig sein, bis dies der Fall sein wird.
4.2.
Fallkonstellationen
[Rz 18] Bereits heute können gewisse Fallkonstellationen aufgeführt werden, welche als typische
Problemkonstellationen des internationalen Erbrechts gelten können. Von besonderem Interesse
bei der Bestimmung des letzten gewöhnlichen Aufenthalts sind sicherlich die typischen Grenzfälle.
Es handelt sich bspw. um Fälle, in denen der gewöhnliche Aufenthalt zum Todeszeitpunkt umstritten ist, etwa wenn Erblasser oder die Erblasserin erst kurz vor ihrem (bzw. seinem) Ableben ihren
(bzw. seinen) Aufenthaltsort noch kurzfristig geändert hat. Zudem gehören zu den typischen Fallkonstellationen, welche Fragen der Anknüpfung im internationalen Erbrecht aufwerfen, diejenigen,
in denen der Erblasser oder die Erblasserin – aus welchen Gründen auch immer – an mehreren
Orten wohnhaft war oder zumindest mehrere relevante Bezüge zu verschiedenen Rechtsordnungen
vorliegen. In der Judikatur finden sich etwa die folgenden Fallgruppen:
[Rz 19] Berufspendler: Bei diesen fallen der privat genutzte Wohnraum im Heimatstaat und ein
(zweiter) Wohnsitz am Arbeitsort auseinander. Bei dieser Kategorie von «Arbeitsmigranten» wird
davon ausgegangen, dass der massgebliche gewöhnliche Aufenthalt grundsätzlich in demjenigen
Staat weiterbesteht, wo sich ihr privat genutzter Wohnsitz befindet, sofern der Wohnsitz am Arbeitsort aus rein beruflichen Motiven begründet wurde und eine enge feste Bindung (etwa eine
soziale Verbindung zu Freunden und Familie) zum Heimatstaat weiterhin unterhalten wurde.
[Rz 20] Private Langzeitpendler (bspw. «Mallorca-Rentner» oder Weltenbummler): Bei diesen liegen
(mindestens) zwei Wohnsitze vor, welche von diesen privat genutzt werden, wobei ein verbleibender Wohnsitz im Heimatstaat beibehalten wird. Vorausgesetzt ist jeweils, dass auch effektiv eine
regelmässige Rückkehr in den Heimatstaat erfolgt, ansonsten sich der gewöhnliche Aufenthalt am
neuen Wohnsitz (Aufenthaltsort) anbietet.
[Rz 21] Aufenthalte in Pflegeheimen u.ä.: Bei Aufenthalten in Kliniken oder Kurorten wird davon
ausgegangen, dass sich der gewöhnliche Aufenthalt regelmässig weiterhin im Ursprungsland befindet. Ein Eintritt in eine Klinik oder ein Heim gilt für sich allein (noch) nicht als genügender Grund,
um den rechtlich relevanten gewöhnlichen Aufenthalt dorthin zu verlegen. Es wird jedoch in der
Judikatur angemerkt, dass in diesen Fällen grundsätzlich eine Gesamtbeurteilung der Lebensumstände des Erblassers bzw. der Erblasserin anzustreben ist. Vor allzu schematischen Lösungen ist in
diesen Fällen abzuraten. Diese Entwicklung lässt sich auch in der schweizerischen Rechtsprechung
und Lehre zum letzten Wohnsitz nachzeichnen.26
[Rz 22] In Grenzfällen ist im Rahmen der Nachlassplanung eine Rechtswahl bzw. eine Dokumentation der Umstände zu empfehlen, die für die Begründung des gewöhnlichen Aufenthalts in einem
25
Vgl. Schwander, Erbrechtsverordnung (Fn. 4), S. 1090.
26
Vgl. etwa Urteil des Bundesgerichts 2C.678/2013 vom 28. April 2014; Urteil des Bundesgerichts 2C.680/2013
vom 28. April 2014 E. 2.2 ff.; Urteil des Bundesgerichts 2P.49/2007 vom 3. August 2007, E. 2.2 ff.; Urteil
des Bundesgerichts 137 II 122 vom 25. Januar 2011 E. 3.6; Urteil des Bundesgerichts 136 II 405 vom 24. Juli
2010 E. 4.3 ff.; Urteil des Bundesgerichts 133 V 309 vom 19. Juni 2007.
7
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der Schweiz, in: Jusletter 21. September 2015
bestimmten Staat sprechen (sog. confessio iuris).27
5.
Internationale Zuständigkeit nach der EuErbVO
5.1.
Grundzüge der Regelung
[Rz 23] Die internationale Zuständigkeit der Gerichte und Behörden für Erbsachen wird im 2.
Kapitel der EuErbVO geregelt. Abgesehen von der internationalen Zuständigkeit gilt es noch die
örtliche, sachliche und funktionelle Zuständigkeit festzulegen. Diese Bereiche werden allerdings
nicht von der EuErbVO geregelt. Für diese ist weiterhin das Recht des international zuständigen
Mitgliedstaats massgebend.
[Rz 24] Die EuErbVO kennte keine Unterscheidung zwischen streitigen und nicht-streitigen Verfahren (freiwillige Gerichtsbarkeit), wie sie das schweizerische Recht macht.28
5.2.
Allgemeine Zuständigkeit am letzten gewöhnlichen Aufenthaltsort
[Rz 25] Für Entscheidungen in Erbsachen sind, wie bereits erwähnt, grundsätzlich die Gerichte und
Behörden des Mitgliedstaats zuständig, in welchem der Erblasser oder die Erblasserin seinen bzw.
ihren letzten gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Dies gilt für den gesamten Nachlass des Erblasser
oder der Erblasserin.29
5.3.
Belegenheitsort (subsidiäre Zuständigkeit)
[Rz 26] Im Bezug zu Drittstaaten wie der Schweiz kann in Abweichung vom Aufenthaltsprinzip die
subsidiäre Zuständigkeit am Belegenheitsort relevant werden. Hatte der Erblasser oder die Erblasserin seinen bzw. ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Zeitpunkt seines (bzw. ihres) Todes in einem
Drittstaat wie bspw. der Schweiz, so sind die Gerichte und Behörden desjenigen EU-Mitgliedstaats
zuständig, in dem sich Nachlassvermögen des Erblassers (oder der Erblasserin) befindet. Das in
einem EU-Mitgliedstaat belegene Nachlassvermögen wirkt in diesem Fall zuständigkeitsbegründend.30
[Rz 27] Diese Zuständigkeit erstreckt sich auf den gesamten weltweiten Nachlass, sofern der Erblasser (oder die Erblasserin) entweder die Staatsangehörigkeit des Belegenheitsstaats besass oder wenn
der Erblasser (oder die Erblasserin) dort vor weniger als fünf Jahren vor Anrufung des Gerichts seinen (bzw. ihren) vorhergehenden gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Andernfalls ist die Zuständigkeit
auf diejenigen Vermögenswerte beschränkt, die sich im betreffenden EU-Mitgliedstaat befinden. In
27
Vgl. das Muster einer confessio iuris unter Ziff. 6.5.
28
Weiss/Bigler (Fn. 5), S. 169; vgl. Schwander, Erbrechtsverordnung (Fn. 4), S. 1087.
29
Art. 4 und Art. 21 Abs. 1 EuErbVO; vgl. zur Definition des gewöhnlichen Aufenthalts unter Ziff. 4.
30
Art. 10 EuErbVO. Vgl. Schwander, Erbrechtsverordnung (Fn. 4), S. 1087; Grun Meyer/Sprecher (Fn. 4),
S. 148.
8
Barbara Graham-Siegenthaler, Die EU-Erbrechtsverordnung und deren Auswirkungen auf die Nachlassplanung in
der Schweiz, in: Jusletter 21. September 2015
diesem Fall kommt es zu einer Nachlassspaltung, welche in Kauf genommen wird.31
[Rz 28] Um eine solche weitreichende Nachlasszuständigkeit der EU-Nachlassbehörden sowie allfällige Kompetenzkonflikte zu verhindern, ist im Einzelfall zu prüfen, ob zu Lebzeiten ein Handlungsbedarf besteht, bspw. durch Veräusserung der Vermögenswerte oder Umstrukturierung des
Vermögens. Nachlassvermögen besteht in der Regel aus beweglichem und unbeweglichem Vermögen. Zudem kann es auch Rechte (Forderungen, Immaterialgüterrechte etc.) beinhalten. Bei solchen
unterschiedlichen Arten von Nachlasswerten kommt es in diesen Fällen zu einem Auseinanderfallen
von ius und forum. Der in der Regel gewünschte Gleichlauf kann auf verschiedene Arten hergestellt werden: durch eine Rechtswahl, wenn die subsidiäre Zuständigkeit auf Art. 10 Abs. 1 lit. a
EuErbVO beruht oder es zu einer Zuständigkeitsverschiebung nach Art. 4 ff. EuErbVO kommt,
oder wenn die Ausweichklausel angewendet werden kann.32
5.4.
Forum legis und Gerichtsstandvereinbarung
[Rz 29] Die EuErbVO sieht die Möglichkeit einer Rechtswahl vor, was bisher nicht zum internationalen Standard gehörte. Die Rechtswahl ist jedoch auf die Wahl des Rechts desjenigen Staats
beschränkt, dem der Erblasser (oder die Erblasserin) (a) zum Zeitpunkt der Rechtswahl oder (b)
zum Zeitpunkt des Todes angehört und muss in der Form der Verfügung von Todes wegen erfolgen.
Mit der Rechtswahl verbunden kann auch eine Gerichtsstandsvereinbarung werden.
[Rz 30] Die EuErbVO hat insofern eine beachtliche Neuerung eingeführt, indem sie eine Rechtswahl
zugunsten des Heimatrechts zulässt.33 Doppelbürger dürfen ohne Einschränkung das Recht eines
ihrer Heimatsstaaten wählen. Bei Vorliegen einer Rechtswahl wird der Grundsatz des Gleichlaufs
von ius und forum regelmässig durchbrochen. Dies ist zumindest dann der Fall, wenn es sich
beim gewählten Recht um das Recht eines Drittstaats – wie etwa des schweizerischen Rechts –
handelt.34 Bezüglich der Gerichtszuständigkeit wird nämlich weiterhin an den letzten gewöhnlichen
Aufenthalt bzw. den Belegenheitsort angeknüpft.35 Die Wiederherstellung dieses Gleichlaufs kann
auf folgenden Wegen erzielt werden:
• Die Parteien können eine Gerichtsstandsvereinbarung (Prorogation) vorsehen. Sie können die
ausschliessliche Zuständigkeit der Gerichte des Heimatstaats vereinbaren, dessen Recht gewählt
wurde.36
• Es besteht zudem die Möglichkeit einer rügelosen Einlassung. Das angerufene Gericht bleibt
diesfalls zuständig, wenn sich die (nicht durch die Gerichtsstandvereinbarung gebundenen)
Parteien auf das Verfahren einlassen, ohne die fehlende Zuständigkeit des Gerichts zu rügen.37
• Das Gericht kann sich unter Umständen unzuständig erklären, wenn seines Erachtens die Gerichte des EU-Mitgliedstaats des gewählten Rechts besser in der Sache entscheiden können. Die
31
Vgl. Weiss/Bigler (Fn. 5), S. 169; Schwander, Erbrechtsverordnung (Fn. 4), S. 1087; Grun Meyer/Sprecher (Fn. 4), S. 148. Dabei regelt Abs. 1 die «subsidiäre Allzuständigkeit» und Abs. 2 die
«subsidiäre beschränkte Zuständigkeit».
32
Weiss/Bigler (Fn. 5), S. 170; Grun Meyer/Sprecher (Fn. 4), S. 148 f.
33
Art. 22 Abs. 1 EuErbVO; vgl. Schwander, Erbrechtsverordnung (Fn. 4), S. 1088.
34
Vgl. Dormann (Fn. 8), S. 88.
35
Weiss/Bigler (Fn. 5), S. 170.
36
Art. 5 Abs. 1 EuErbVO; vgl. Weiss/Bigler (Fn. 5), S. 171.
37
Art. 9 Abs. 1 EuErbVO.
9
Barbara Graham-Siegenthaler, Die EU-Erbrechtsverordnung und deren Auswirkungen auf die Nachlassplanung in
der Schweiz, in: Jusletter 21. September 2015
Parteien (oder eine Partei allein) können (bzw. kann) einen entsprechenden Antrag stellen.38
• Die Parteien können auch die Zuständigkeit des angerufenen Gerichts, dessen Recht gewählt
wurde, ausdrücklich anerkennen.39
[Rz 31] Hat der Erblasser oder die Erblasserin eine Rechtswahl nach Art. 22 EuErbVO zugunsten
der Rechtsordnung eines EU-Mitgliedstaats getroffen, so können «die betroffenen Parteien vereinbaren, dass für die Entscheidungen in Erbsachen ausschliesslich ein Gericht oder die Gerichte
dieses Mitgliedstaates zuständig sein sollen». Allerdings schliesst dieser Wortlaut die Wahl der
schweizerischen Gerichte aus.
[Rz 32] Was unter den «betroffenen Parteien» zu verstehen ist, wird in Erwägungen 28 zur EuErbVO ausgeführt. Danach muss von Fall zu Fall bestimmt werden, ob die Vereinbarung zwischen
sämtlichen vom Nachlass betroffenen Parteien geschlossen werden muss, oder ob einige von ihnen
sich darauf einigen könnten, eine spezifische Frage beim gewählten Gericht anhängig zu machen.
Dies gilt allerdings nur dann, wenn die gerichtliche Entscheidung die Rechte der anderen Parteien am Nachlass nicht berührt. Die Gerichtsstandvereinbarung muss schriftlich oder in der Form
elektronischer Übermittlung mit dauerhafter Aufzeichnung erfolgen. Sie muss mit Datum und Unterschrift versehen werden.40
[Rz 33] Auch das schweizerische IPRG lässt Gerichtsstandsvereinbarungen zu. Allerdings ist bei der
Anwendung von Art. 5 IPRG zu beachten, dass bei erbrechtlichen Angelegenheiten ein Ausschluss
zu beachten ist, sofern im Ausland belegene Grundstücke betroffen sind, soweit der ausländische
Staat für diese eine ausschliessliche (hier: zwingende) Zuständigkeit beansprucht.
5.5.
Rügelose Einlassung
[Rz 34] Eine Gerichtszuständigkeit kann auch dadurch geschaffen werden, indem eine Partei vor
dem Gericht eines EU-Mitgliedstaats klagt, dessen Rechtsordnung der Erblasser oder die Erblasserin gewählt hat, und die anderen Parteien dessen Zuständigkeit ausdrücklich anerkennen.41
Haben z.B. nicht alle Parteien eine Gerichtsstandsvereinbarung unterzeichnet, kann diese fehlende
Zustimmung durch rügelose Einlassung geheilt werden.42
5.6.
Weitere Zuständigkeiten
[Rz 35] Die EuErbVO sieht zudem eine Notzuständigkeit (forum necessitatis) für den Fall vor,
dass kein Gericht eines EU-Mitgliedstaats sich als zuständig erachtet und die Verfahrenseinleitung
in einem Drittstaat, zu dem ein enger Bezug besteht, nicht zumutbar oder gar unmöglich ist.43
Vorausgesetzt ist diesfalls ein ausreichender Bezug zum Staat des angerufenen Gerichts.
38
Art. 6 lit. a EuErbVO.
39
Art. 7 lit. c EuErbVO.
40
Art. 5 Abs. 1 EuErbVO. Vgl. Schwander, Erbrechtsverordnung (Fn. 4), S. 1088; Dormann (Fn. 8), S. 89.
41
Art. 7 Bst. c EuErbVO.
42
Art. 9 Abs. 1 EuErbVO; vgl. Schwander, Erbrechtsverordnung (Fn. 4), S. 1088; Dormann (Fn. 8), S. 90.
43
Art. 11 EuErbVO; vgl. Schwander, Erbrechtsverordnung (Fn. 4), S. 1088.
10
Barbara Graham-Siegenthaler, Die EU-Erbrechtsverordnung und deren Auswirkungen auf die Nachlassplanung in
der Schweiz, in: Jusletter 21. September 2015
5.7.
Einzelfragen
[Rz 36] Der Umfang des Erbstatuts wird in Art. 23 EuErbVO geregelt.44 Im Gegensatz zum
schweizerischen IPR kennt die EuErbVO kein eigentliches separates Eröffnungsstatut.45
[Rz 37] Die EuErbVO enthält zudem Bestimmungen zum Zeitpunkt der Rechtshängigkeit, zur
Prüfung der Zuständigkeit von Amtes wegen und zur Zulässigkeit der Verfahrenseinleitung, zur
Rechtshängigkeit im Zusammenhang stehender Verfahren (Verfahrenssistierung, Unzuständigkeitserklärung) sowie zu vorsorglichen Massnahmen.46
[Rz 38] Das angerufene Gericht kann auf Antrag einer Partei beschliessen, dass über einen oder
mehrere in Drittstaaten gelegene Vermögenswerte nicht entschieden wird, wenn zu erwarten ist,
dass die Entscheidung in Bezug auf diese Vermögenswerte im betreffenden Drittstaat nicht anerkannt oder vollstreckt wird.47
[Rz 39] Einstweilige Massnahmen (einschliesslich Sicherungsmassnahmen) können bei einem anderen Gericht als dem in der Hauptsache zuständigen Gericht beantragt werden. Voraussetzung
ist in diesem Fall, dass die Vollstreckbarkeit bzw. Realisierungsmöglichkeit im betreffenden Staat
gegeben ist.48
6.
Anwendbares Recht nach der EuErbVO
6.1.
Regelanknüpfung (objektive Anknüpfung)
[Rz 40] Die EuErbVO enthält eine lückenlose Regelung des Erbstatuts in den Art. 2–8. Damit wird
ein einheitliches IPR des Erbrechts geschaffen.49 Diese vereinheitlichten Kollisionsregeln müssen von
den EU-Mitgliedstaaten auch im Verhältnis zu Drittstaaten wie der Schweiz angewendet werden.50
[Rz 41] Gemäss der Grundregel der EuErbVO untersteht die Rechtsnachfolge von Todes wegen
dem Recht des Staats, in dem der Erblasser (oder die Erblasserin) im Todeszeitpunkt seinen (bzw.
ihren) gewöhnlichen Aufenthalt hatte.51 Das so bestimmte anwendbare Recht (Erbstatut) gilt
grundsätzlich für die gesamte Rechtsnachfolge von Todes wegen. Damit wird eine Nachlassspaltung
gestützt auf die EuErbVO inskünftig weitgehend vermieden.52
44
Grun Meyer/Sprecher (Fn. 4), S. 151 f.
45
Siehe Art. 92 Abs. 2 IPRG; vgl. Schwander, Erbrechtsverordnung (Fn. 4), S. 1094.
46
Art. 14 ff. EuErbVO; vgl. Weiss/Bigler (Fn. 5), S. 172.
47
Man spricht von einer sog. «negativen Anerkennungsprognose nach Drittstaatenrecht»; vgl. Art. 12 Abs. 1
EuErbVO; vgl. dazu Weiss/Bigler (Fn. 5), S. 173 f.; Schwander, Erbrechtsverordnung (Fn. 4), S. 1088 f.
48
Art. 19 EuErbVO; vgl. Schwander, Erbrechtsverordnung (Fn. 4), S. 1089.
49
vgl. Schwander, Erbrechtsverordnung (Fn. 4), S. 1091 ff.
50
Art. 20 EuErbVO zur erga omnes-Anwendung; vgl. Dormann (Fn. 8), S. 81; Rembert Süss, Testamente
und Erbverträge mit Auslandsberührung, in: Tanck/Krug (Hrsg.), Anwaltsformulare und Testamente, 5. A.,
Bonn 2015, S. 679 ff, S. 696, Rz. 50.
51
Art. 21 Abs. 1 EuErbVO.
52
Weiss/Bigler (Fn. 5), S. 173; vgl. im Verhältnis zu Deutschland Süss, Testamente (Fn. 50), Rz 328 ff.; vgl.
dazu ferner Ziff. 3.2.
11
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der Schweiz, in: Jusletter 21. September 2015
6.2.
Ausweichklausel
[Rz 42] Ergibt sich ausnahmsweise aus der Gesamtheit der Umstände, dass der Erblasser (oder
die Erblasserin) offensichtlich eine engere Verbindung zu einem anderen als dem Staat des letzten
Aufenthalts hatte, so untersteht der Nachlass dem Recht dieses Staats.53 Auswirkungen hat dies
einzig auf das anwendbare Recht, nicht jedoch auf die internationale Zuständigkeit. Damit wird
der Gleichlauf von ius und forum durchbrochen.
[Rz 43] Praktisch dürften diese Fälle klar zu den Ausnahmefällen gehören. Es scheinen kaum Fälle
denkbar, bei welchen diese Ausweichklausel greift, da schon zur Bestimmung des gewöhnlichen
Aufenthalts eine besonders enge und feste Verbindung zu einem Staat nötig ist.54 Abgrenzungsschwierigkeiten könnten etwa bei Grenzgängern, bei zeitlich begrenztem Auslandaufenthalt, bei
sog. «Mallorca-Rentnern» oder bei einem Gefängnisaufenthalt auftreten.55
[Rz 44] Ein Vergleich zum schweizerischen IPR zeigt eine vergleichbare Sachlage,56 wobei auch hier
diese Ausnahmeklausel in Rechtsprechung und Lehre praktisch kaum eine Rolle spielt.57
6.3.
Reichweite des Erbstatuts
[Rz 45] Dem Erbstatut unterliegen gemäss Art. 23 Abs. 2 EuErbVO insbesondere die Gründe für
den Eintritt des Erbfalls sowie dessen Zeitpunkt und Ort (lit. a), die Berufung der Berechtigten,
die Bestimmung ihrer jeweiligen Anteile und etwaiger ihnen vom Erblasser (oder der Erblasserin)
auferlegter Pflichten sowie die Bestimmung sonstiger Rechte am Nachlass, einschliesslich der Nachlassansprüche des überlebenden Ehegatten oder Lebenspartners (lit. b), die Erbfähigkeit (lit. c),
die Enterbung und die Erbunwürdigkeit (lit. d), der Übergang der Vermögenswerte, Rechte und
Pflichten (lit. e), die Rechte der Erben, Testamentsvollstrecker und anderer Nachlassverwalter,
insbesondere im Hinblick auf die Veräusserung von Vermögen und die Befriedigung der Gläubiger
(lit. f), die Haftung für Nachlassverbindlichkeiten (lit. g), der verfügbare Teil des Nachlasses, die
Pflichtteile und andere Beschränkungen der Testierfreiheit (lit. h), die Ausgleichung und Anrechnung unentgeltlicher Zuwendungen (lit. i) sowie die Teilung des Nachlasses (lit. j).58
6.4.
Rechtswahl (subjektive Anknüpfung)
[Rz 46] Der Erblasser (oder die Erblasserin) kann die Regelanknüpfung ausschliessen, indem er
(bzw. sie) für die Erbfolge von Todes wegen das Recht des Staats wählt, dessen (bzw. deren) Staatsangehörigkeit er (bzw. sie) im Zeitpunkt der Rechtswahl oder seines (bzw. ihres) Todes besitzt.59
Eine solche Rechtswahl gilt jeweils für den gesamten weltweiten Nachlass. Eine Teilrechtswahl, wie
53
Art. 21 Abs. 2 EuErbVO.
54
Weiss/Bigler (Fn. 5), S. 174; vgl. Dormann (Fn. 8), S. 91 f.
55
Vgl. Dormann (Fn. 8), S. 92, m.H.
56
Vgl. Art. 15 Abs. 1, Art. 90 Abs. 1 und Art. 91 Abs. 1 IPRG.
57
Vgl. Schwander, Erbrechtsverordnung (Fn. 4), S. 1093.
58
Vgl. Grun Meyer/Sprecher (Fn. 4), S. 151 f.
59
Art. 22 Abs. 1 EuErbVO.
12
Barbara Graham-Siegenthaler, Die EU-Erbrechtsverordnung und deren Auswirkungen auf die Nachlassplanung in
der Schweiz, in: Jusletter 21. September 2015
sie gemäss Art. 87 Abs. 2 IPRG möglich ist, kennt die EuErbVO nicht.60
[Rz 47] Bei einer Rechtswahl – wie auch bei Anwendung der Ausweichklausel aufgrund engerer
Verbindung zu einem anderen Staat – gilt die Verweisung als Sachnormverweisung.61 Eine Rechtswahl, die vor dem Stichtag (17. August 2015) vorgenommen wurde, kann aufgrund der Vorwirkung
der EuErbVO auch weiterhin Bestand haben.62
[Rz 48] Es ist bei einer Rechtswahl von Drittstaatenrecht mit gewissen Problemen zu rechnen. So ist
eine Rechtswahl im Verhältnis zu Drittstaaten wie der Schweiz nicht in jedem Fall empfehlenswert,
da sie ein Auseinanderfallen von ius und forum bewirken. Aufgrund der Rechtsunsicherheit bei
der Ermittlung des (fremden) Drittstaatenrechts – wie etwa des schweizerischen Rechts – könnten
problematische Auswirkungen in der Praxis die Folge sein.63
6.4.1.
Muster für eine Rechtswahlklausel
[Rz 49] Eine Rechtswahlklausel empfiehlt sich etwa dann, wenn bspw. der gewöhnliche Aufenthalt
nach dem Tod nur schwer feststellbar ist bzw. umstritten sein könnte. Zudem kann eine vorsorgliche
Rechtswahl sinnvoll sein, wenn der Testator Angehöriger seines Aufenthaltsstaats ist und einen
Wegzug nicht ausschliessen kann. Damit kann die Rechtssicherheit für die ex ante-Bestimmung
des Erbstatuts erhöht werden.64
«Ich, Myrta Muster, geboren am [Datum], bin deutsche Staatsbürgerin und wähle für
die Erbfolge in meinen gesamten Nachlass sowie für Fragen der Wirksamkeit des vorliegenden Testaments das deutsche materielle Recht, unabhängig vom Ort meines gewöhnlichen Aufenthalts im Zeitpunkt meines Todes.»
6.4.2.
Voraussetzungen der Rechtswahl
[Rz 50] Wird eine Rechtswahl beabsichtigt, ist an folgendes zu denken: Es kann nur das Recht eines
Staats gewählt werden, dessen Staatsangehörigkeit der Erblasser (oder die Erblasserin) entweder
im Zeitpunkt der Rechtswahl oder im Zeitpunkt des Todes besitzt. Mehrstaatlern steht die Wahl
eines beliebigen Heimatrechts offen.65
[Rz 51] Die Rechtswahl muss zwingend in einer gültigen letztwilligen Verfügung von Todes wegen
enthalten sein. Sie hat aus der Verfügung ausdrücklich oder konkludent hervorzugehen.66 Allerdings
genügt es bspw., wenn spezielle Rechtsinstitute bezeichnet werden oder der Erblasser oder die Erblasserin sonstwie eindeutig vor dem Hintergrund seines (bzw. ihres) Heimatrechts testiert.67 Die
materiellen Voraussetzungen einer Rechtswahl unterstehen dem gewählten Recht.68 Die Rechts-
60
Weiss/Bigler (Fn. 5), S. 174, m.H.; Grun Meyer/Sprecher (Fn. 4), S. 152; vgl. ferner Süss, Testamente
(Fn. 50), Rz 331 ff.
61
Art. 21 i.V.m. Art. 34 Abs. 2 EuErbVO.
62
Art. 83 Abs. 12 EuErbVO.
63
Kinga M. Weiss/Manuel Bigler, Deutscher Anwaltspiegel, März 2013, S. 28.
64
Art. 22 Abs. 1 EuErbVO; vgl. Schwander, Erbrechtsverordnung (Fn. 4), S. 1094.
65
Art. 22 Abs. 1 EuErbVO; Schwander, Erbrechtsverordnung (Fn. 4), S. 1094.
66
Art. 22 Abs. 2 EuErbVO; vgl. Schwander, Erbrechtsverordnung (Fn. 4), S. 1094.
67
Vgl. Weiss/Bigler (Fn. 5), S. 175, m.H.; Schwander, Erbrechtsverordnung (Fn. 4), S. 1094.
68
Schwander, Erbrechtsverordnung (Fn. 4), S. 1094; Dormann (Fn. 8), S. 93. Denkbar wäre auch eine autono-
13
Barbara Graham-Siegenthaler, Die EU-Erbrechtsverordnung und deren Auswirkungen auf die Nachlassplanung in
der Schweiz, in: Jusletter 21. September 2015
wahlmöglichkeiten aufgrund der EuErbVO gehen weiter als diejenigen des IPRG.69
[Rz 52] Bei einem Errichtungsdatum einer letztwilligen Verfügung vor dem 17. August 2015 sind
die Übergangsbestimmungen in Art. 83 Abs. 2 EuErbVO zu beachten. Die formellen und materiellen Anforderungen ergeben sich grundsätzlich aus Art. 22 EuErbVO. Es besteht ein weitgehender
Bestandesschutz, wenn das IPR des Staats beachtet wurde, in dem der Erblasser (oder die Erblasserin) im Zeitpunkt der Rechtswahl seinen (bzw. ihren) letzten gewöhnlichen Aufenthalt hatte
oder dessen Staatangehörigkeit er (bzw. sie) hatte.
6.4.3.
Fiktion einer Rechtswahl
[Rz 53] Wurde die Verfügung von Todes wegen vor dem 17. August 2015 nach dem Recht, welches
der Erblasser hätte wählen können, errichtet, fingiert die EuErbVO eine entsprechende Rechtswahl. Hat somit eine Schweizer Erblasserin in der Schweiz ein Testament nach schweizerischem
Recht errichtet ohne explizite Rechtswahl, und verlegt sie anschliessend ihren gewöhnlichen Aufenthalt nach Deutschland, wo sie dann verstirbt, fingiert die EuErbVO eine Rechtswahl zugunsten
des schweizerischen Rechts.70 Die deutschen Nachlassbehörden müssen entsprechend Schweizer
Erbrecht anwenden. Ist diese Rechtsfolge nicht gewünscht, müsste dies in der Verfügung von Todes
wegen klargestellt werden.
6.5.
Praxishinweise
[Rz 54] Es kann sich empfehlen, von einer confessio iuris Gebrauch zu machen. Darunter ist eine
Sachverhaltsdarstellung des Erblassers (oder der Erblasserin) durch nachhaltige und verständliche
Dokumentation von Fakten in einer Verfügung von Todes wegen zu verstehen.71 Der Erblasser
(oder die Erblasserin) kann damit zu Lebzeiten dem dereinstigen Rechtsanwender objektive und
subjektive Anhaltspunkte mitliefern, welche diesem die Entscheidfindung bei der Anwendung des
massgebenden Anknüpfungskriteriums (also etwa des gewöhnlichen Aufenthalts) erleichtern können. Zwar sind solche confessiones iuris für den Rechtsanwender nicht bindend, sie können aber
u.U. bei Schwierigkeiten der Sachverhaltsermittlung nützlich sein. Empfehlenswert ist es, bei den
Sachverhaltsinformationen die früheren, derzeitigen und geplanten zukünftigen Lebensumstände
zu erläutern.72
[Rz 55] Formulierungsbeispiel:73
«Ich, [Name Vorname], geb. [Datum], bin […] Staatsbürger, verbringe seit [Datum] die
meiste Zeit in [Ort/Land], wo ich regelmässig Freunde treffe und Besuch empfange.
Meinen Wohnsitz in [Ort] habe ich am [Datum] vollständig aufgegeben. Heute befinden sich mein Lebensmittelpunkt und mein gewöhnlicher Aufenthalt ausschliesslich in
me Auslegung.
69
Vgl. Ziff. 7.1 und 7.7.
70
Art. 83 Abs. 4 EuErbvVO.
71
Weiss/Bigler (Fn. 5), S. 177, m.H.
72
Weiss/Bigler (Fn. 5), S. 177.
73
Vgl. Kinga M. Weiss, Unterlagen zum Vortrag vom 2.9.2014, gehalten in Basel, S. 33.
14
Barbara Graham-Siegenthaler, Die EU-Erbrechtsverordnung und deren Auswirkungen auf die Nachlassplanung in
der Schweiz, in: Jusletter 21. September 2015
[Ort]. Diesen will ich auch dauerhaft beibehalten. Auf meinen Nachlass und die Rechtwirksamkeit des vorliegenden Testaments ist somit […] materielles Recht anwendbar.»
6.6.
Recht eines Drittstaates
6.6.1.
Universelle Anwendung (erga omnes)
[Rz 56] Das gemäss EuErbVO bezeichnete Recht ist auch dann anzuwenden, wenn es nicht das
Recht eines EU-Mitgliedstaats ist, d.h., wenn es sich um Drittstaatenrecht handelt.74 Somit werden
die Nachbarstaaten der Schweiz u.U. schweizerisches Recht als Drittstaatenrecht anwenden müssen.
6.6.2.
Renvoi
[Rz 57] Bei den Verweisungen der EuErbVO handelt es sich grundsätzlich um Sachnormverweisungen, sodass Rück- und Weiterverweisungen (sog. Renvoi) i.d.R. ausgeschlossen sind. Dies gilt
dann uneingeschränkt, wenn die Verweisung auf das Recht eines EU-Mitgliedstaats erfolgt.75 In
diesem Fall kommt direkt das Recht des Staats zur Anwendung, in dem der Erblasser seinen letzten
gewöhnlichen Aufenthalt hatte.
[Rz 58] Anders verhält es sich hingegen, wenn das Recht eines Drittstaats – wie der Schweiz – durch
die EuErbVO berufen wird. In diesem Fall sind die im dortigen Kollisionsrecht enthaltenen Rückund Weiterverweisungen zu berücksichtigen,76 falls sie auf das Recht eines Mitgliedstaats zurückoder auf Drittstaatenrecht weiterverweisen, das seinerseits diese Verweisung annimmt.77 Die Verweisung auf das Recht des letzten gewöhnlichen Aufenthalts des Erblassers (oder der Erblasserin)
in einem Drittstaat gilt in diesem Fall zunächst als Gesamtverweisung.78
[Rz 59] Ein Renvoi ist allerdings in den Fällen einer Rechtswahl,79 einer Ausweichklausel und
in gewissen anderen Fällen ausgeschlossen, da bei diesen Fällen von einer Sachnormverweisung
ausgegangen wird.
6.7.
Ausnahmen vom anwendbaren Recht
[Rz 60] Die EuErbVO enthält einen Ordre public-Vorbehalt,80 welcher wie üblich nur zurückhaltend angewendet werden sollte.81 Die Anwendung des berufenen fremden Rechts müsste im
konkreten Fall ein geradezu unerträgliches Ergebnis nach sich ziehen, damit es durch den Ordre
public-Vorbehalt korrigiert wird.82
74
Art. 20 EuErbVO; vgl. Grun Meyer/Sprecher (Fn. 4), S. 152 f.
75
Vgl. Schwander, Erbrechtsverordnung (Fn. 4), S. 1095.
76
Art. 34 Abs. 1 EuErbVO.
77
Vgl. Schwander, Erbrechtsverordnung (Fn. 4), S. 1095.
78
Vgl. Dormann (Fn. 8), S. 92, m.H.
79
Art. 21 Abs. 2 EuErbVO.
80
Art. 35 EuErbVO.
81
Vgl. Schwander, Erbrechtsverordnung (Fn. 4), S. 1095, z.B. bei Grundrechtverletzungen insbesondere die
Diskriminierungsverbote.
82
Vgl. Dormann (Fn. 8), S. 99, m.H.
15
Barbara Graham-Siegenthaler, Die EU-Erbrechtsverordnung und deren Auswirkungen auf die Nachlassplanung in
der Schweiz, in: Jusletter 21. September 2015
[Rz 61] Was den für die Schweiz besonders interessanten Aspekt des Pflichtteilsrechts und dessen
Verletzung betrifft, so hielt der Kommissionsentwurf noch ausdrücklich fest, es liege keine Ordre
public-Widrigkeit vor, wenn das anzuwendende Recht den Pflichtteilsanspruch anders regle als das
Recht am Ort des angerufenen Gerichts.
[Rz 62] Die EuErbVO kennt zudem – wie das IPRG in Art. 18 und 19 – einen Vorbehalt zugunsten
nationaler Eingriffsnormen (lois d’
application immédiate). Als Beispiel für eine solche Eingriffsnorm
wird das österreichische Anerbenrecht, das für Erbhöfe Eingriffscharakter hat, genannt.83
7.
Verhältnis zwischen EU-Mitgliedstaaten und der Schweiz
7.1.
Allgemeine Würdigung der EuErbVO aus Sicht der Nachlassplanung
[Rz 63] Aus schweizerischer Sicht sind zunächst die Ähnlichkeiten in der Anknüpfungstechnik und
der Auswahl der Anknüpfungskriterien sowie das liberale, weitergehende Rechtswahlrecht des Erblassers (bzw. der Erblasserin) in der EuErbVO positiv zu vermerken.84 Die mit der EuErbVO
geschaffene Einheitlichkeit der Kollisionsregeln der EU-Mitgliedstaaten erleichtert die Planung erheblich, indem nun neu alle Mitgliedstaaten dieselben Kollisionsregeln anwenden. Damit entfallen
insbesondere, z.B. im Verhältnis zwischen Frankreich, Schweden und Deutschland, vormals bestehende heikle Renvoi-Probleme.85
[Rz 64] Testamente und Erbverträge müssen nun allerspätestens seit dem 17. August 2015 sorgfältig
auf ihre Wirksamkeit unter Berücksichtigung der EuErbVO überprüft werden. Nur noch bis zum
17. August 2015 kam hinsichtlich der Mitgliedstaaten nationales IPR und IZPR zur Anwendung.86
[Rz 65] Eine Rechtswahl war bereits vor dem Stichtag vom 17. August 2015 möglich und wirksam.
Hatte der Erblasser (oder die Erblasserin) das auf seine (bzw. ihre) Rechtsnachfolge von Todes
wegen anzuwendende Recht vor dem 17. August 2015 gewählt, so bleibt diese Rechtwahl wirksam,
wenn sie die Voraussetzungen der EuErbVO, des Aufenthaltsrechts oder des Staatangehörigkeitsrechts erfüllte.87 Diese alternative intertemporale Kollisionsregel erleichtert die Rechtswahlgültigkeit ganz deutlich.88
7.2.
Zusammenfallen von letztem Wohnsitz und letztem gewöhnlichem
Aufenthalt
[Rz 66] Gemäss schweizerischem internationalem Erbrecht ist der letzte Wohnsitz des Erblassers
(bzw. der Erblasserin) das zentrale Anknüpfungskriterium. Dabei handelt es sich um den Ort, an
welchem sich der Erblasser (bzw. die Erblasserin) zuletzt mit der Absicht dauernden Verbleibens
83
Vgl. Dormann (Fn. 8), S. 98, m.H.
84
So auch Schwander, Erbrechtsverordnung (Fn. 4), S. 1096; vgl. ferner Süss, Testamente (Fn. 50), Rz 323 ff.
85
Vgl. Schwander, Erbrechtsverordnung (Fn. 4), S. 1096.
86
Vgl. Schwander, Erbrechtsverordnung (Fn. 4), S. 1096 f.
87
Art. 83 Abs. 2 EuErbVO.
88
Vgl. Schwander, Erbrechtsverordnung (Fn. 4), S. 1096; vgl. ferner für Deutschland Süss, Testamente (Fn.
50), Rz 56 ff.
16
Barbara Graham-Siegenthaler, Die EU-Erbrechtsverordnung und deren Auswirkungen auf die Nachlassplanung in
der Schweiz, in: Jusletter 21. September 2015
aufhielt.89
[Rz 67] In den meisten Fällen dürfte der letzte gewöhnliche Aufenthaltsort i.S. der EuErbVO
mit dem letzten Wohnsitz i.S. des IPRG übereinstimmen.90 Nach beiden Rechtsquellen kommt
es auf den Lebensmittelpunkt der Person des Erblassers (bzw. der Erblasserin) an, sodass in der
überwiegenden Anzahl der Fälle Kongruenz im Ergebnis resultieren dürfte.91 Allerdings ist nicht zu
verkennen, dass der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts der EuErbVO in den Erwägungen 23 und
24 zur EuErbVO speziell definiert wurde, und zwar mit einem deutlichen Akzent auf den aktuellen
Lebensverhältnissen bzw. den Verhältnissen der letzten rund fünf Jahre vor dem Ableben.92
[Rz 68] Nichtsdestotrotz ist zu erwarten, dass inskünftig aus Schweizer Sicht bei Nachlässen mit
EU-Bezug weniger Nachlasskonflikte auftreten werden als bisher – aufgrund der unterschiedlichen
Anknüpfungskriterien, wie etwa im Verhältnis zu Ländern, welche das Staatsangehörigkeitsprinzip
kannten (wie Deutschland).93 In den meisten Fällen dürfte der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts mit jenem des letzten Wohnsitzes übereinstimmen. Allerdings sind Diskrepanzen etwa
bei Grenzgängern, «Mallorca-Rentnern», Personen mit Wanderleben, bei Auslandstudien und dgl.
nicht auszuschließen. Erblassern mit einem EU-Bezug ist daher zu raten, die letztwillige Verfügung
mit einer sog. confessio iuris94 zu versehen, um zumindest die notwendigen Fakten zur Bestimmung
des gewöhnlichen Aufenthaltsorts ausreichend dokumentiert zu haben.95
[Rz 69] Bei letztem Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt des Erblassers (oder der Erblasserin)
in der Schweiz dürften allerdings positive Kompetenzkonflikte weiterhin auftreten, insbesondere
aufgrund der Belegenheit von Nachlasswerten in einem EU-Mitgliedstaat und der weiten Zuständigkeitsregelung in Art. 10 EuErbVO (subsidiäre Zuständigkeit). Danach ist der Belegenheitsstaat
für die Regelung des gesamten Nachlasses zuständig, wenn der Erblasser entweder Staatsangehöriger des betreffenden Mitgliedstaats war (Abs. 1 lit. a), oder wenn er vor weniger als fünf Jahren dort
seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte (Abs. 1 lit. b). Bei Fehlen dieser Voraussetzungen beschränkt
sich die Zuständigkeit des Belegenheitsstaats auf das dortige Nachlassvermögen (Abs. 2).
[Rz 70] Nachlassvermögen in einem EU-Staat wirkt in allen diesen Fällen zuständigkeitsbegründend, wobei es sich um unbewegliches oder bewegliches Vermögen (z.B. Hausrat, Aktien) oder
Forderungen des Erblassers oder der Erblasserin (z.B. Kontoguthaben) handeln kann, welche zur
Zuständigkeit des Belegenheitsstaats führen können. Hinzu kommt in diesen Konstellationen die
Problematik, dass der zuständige EU-Mitgliedstaat fremdes Drittrecht (wie eben etwa schweizerisches Recht) auf die Nachlassabwicklung anwenden müsste (gemäss der Regelanknüpfung am
letzten gewöhnlichen Aufenthalt; siehe Art. 21 Abs. 1 EuErbVO). Dies allein kann bereits Anlass dafür sein, zufällige oder unnötige zuständigkeitsbegründende Berührungspunkte zu einem
EU-Mitgliedstaat zu Lebzeiten beseitigen zu wollen.96
89
Art. 20 Abs. 1 lit. a IPRG.
90
Vgl. Weiss/Bigler (Fn. 5), S. 180 m.H.; Schwander, Erbrechtsverordnung (Fn. 4), S. 1090; vgl. ferner Süss,
Testamente (Fn. 50), Rz 323 ff.
91
Vgl. jedoch nachstehend sowie Ziff. 7.3.
92
Schwander, Erbrechtsverordnung (Fn. 4), S. 1090. Vgl. auch Ziff. 4.1.
93
Es handelt sich um eine Konstellation von Wohnsitz vs. Staatsangehörigkeit bzw. Belegenheitsort; vgl.
Weiss/Bigler (Fn. 5), S. 180.
94
Vgl. dazu Ziff. 6.5.
95
Kinga M. Weiss/Manuel Bigler, Deutscher Anwaltsspiel, März 2013, S. 28.
96
Kinga M. Weiss/Manuel Bigler, Deutscher Anwaltspiegel, März 2013, S. 28.
17
Barbara Graham-Siegenthaler, Die EU-Erbrechtsverordnung und deren Auswirkungen auf die Nachlassplanung in
der Schweiz, in: Jusletter 21. September 2015
[Rz 71] Ein weiteres Handicap besteht darin, dass die EuErbVO nicht regelt, wie das fremde Drittstaatenrechtrecht (in diesem Fall schweizerisches Recht) festzustellen ist. Unklar erscheint somit
zurzeit noch, ob die Parteien am Nachweis mitwirken dürfen (oder müssen) oder ob die Gerichte
die Ermittlung und Anwendung des ausländischen Rechts als ihre Aufgabe ansehen werden.
[Rz 72] Aus Schweizer Sicht kann ein Kompetenzkonflikt bei einem Ausländer mit Wohnsitz in der
Schweiz allenfalls durch eine Rechtswahl zugunsten seines Heimatrechts verbunden mit einer einseitigen Zuständigkeitsanordnung zugunsten der Heimatbehörden verhindert werden.97 Dies müsste
sicherlich grundsätzlich empfohlen bzw. in Betracht gezogen und geprüft werden.
7.3.
Auseinanderfallen von letztem Wohnsitz und letztem gewöhnlichem
Aufenthalt
[Rz 73] Zu unterschiedlichen Beurteilungen von Wohnsitz i.S. des IPRG und gewöhnlichem Aufenthaltsort i.S. der EuErbVO kann es kommen, weil die EuErbVO – wie erwähnt – objektiven
Umständen bzw. vergangenheitsbezogenen Momenten den Vorrang gibt, während das IPRG der
subjektiven Absicht bzw. dem zukünftigen Moment grösseres Gewicht zumisst.98
[Rz 74] Eine (geringe) Anzahl von Konstellationen von forum running zwischen den Erben, entweder in einen der EU-Staaten oder in die Schweiz, ist denkbar, insbesondere etwa dann, wenn der
Erblasser oder die Erblasserin aus Sicht des schweizerischen IPRG erst seit kurzem seinen (bzw.
ihren) Wohnsitz in der Schweiz hatte. In diesem Fall würde in einem EU-Mitgliedstaat, in dem der
Erblasser (bzw. die Erblasserin) bis zu seinem (bzw. ihrem) Wegzug in die Schweiz jahrzehntelang
gewohnt hatte, dieser Bezug stärker gewichtet werden. Massgebend wäre unter dem Anwendungsbereich der EuErbVO insbesondere die auf fünf Jahre zurückbezogene (vergangenheitsbezogene)
Sicht.99
[Rz 75] Beispiel: Ein Deutscher zieht mit seiner Familie in die Schweiz mit der Absicht, hier auf
unbestimmte Zeit zu leben. Aufgrund von beruflichen Verpflichtungen kehrt er regelmässig tageweise nach Deutschland zurück. Es wäre durchaus denkbar, dass deutsche Gerichte den gewöhnlichen
Aufenthalt gemäss der EuErbVO in Deutschland annehmen würden. Die schweizerischen Gerichte
hingegen würden mit grosser Wahrscheinlichkeit den Wohnsitz gemäss Art. 20 Abs. 1 lit. a IPRG
(i.V.m. Art. 86 Abs. 1 und Art. 90 IPRG) in der Schweiz bejahen mit der Folge der schweizerischen
Nachlasszuständigkeit und der Anwendbarkeit von schweizerischem Recht.100
[Rz 76] Es käme somit zu einem positiven Kompetenzkonflikt. Beide Staaten erklären sich für zuständig und wenden in Ermangelung einer Rechtwahl ihr materielles Erbrecht an.101 Das deutsche
Urteil würde anschliessend in der Schweiz nicht anerkannt, da die Anknüpfung an den letzten
Aufenthaltsort des Erblassers (bzw. der Erblasserin) nicht einer anerkannten schweizerischen Anknüpfung entspricht.102
97
Vgl. auch die Tabelle bei Weiss/Bigler (Fn. 5), S. 180 ff.
98
Vgl. Weiss/Bigler (Fn. 5), S. 184; Dormann (Fn. 8), S. 84.
99
So auch Schwander, Erbrechtsverordnung (Fn. 4), S. 1090.
100 Vgl. das Beispiel bei Dormann (Fn. 8), S. 84.
101 Art. 90 Abs. 1 IPRG; Art. 21 Abs. 1 EuErbVO.
102 Art. 96 IPRG; vgl. Kinga M. Weiss/Manuel Bigler, Deutscher Anwaltspiegel, März 2013, S. 28; vgl. fer-
ner Süss, Testamente (Fn. 50), Rz 328 ff.
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Barbara Graham-Siegenthaler, Die EU-Erbrechtsverordnung und deren Auswirkungen auf die Nachlassplanung in
der Schweiz, in: Jusletter 21. September 2015
[Rz 77] Im umgekehrten Fall, wenn nach deutscher Sicht der letzte gewöhnliche Aufenthalt in der
Schweiz liegt und nach schweizerischer Sicht der letzte Wohnsitz in Deutschland, entsteht an sich
ein negativer Kompetenzkonflikt.
[Rz 78] Beispiel: Bei Nachlasswerten in Deutschland käme aufgrund einer subsidiären Zuständigkeit nach Art. 10 EuErbVO eine Nachlassabwicklung der deutschen Gerichte und Behörden infrage,
wobei auf diese erbrechtliche Abwicklung schweizerisches Recht zur Anwendung gelangen würde.103
Aus Schweizer Sicht allerdings müsste auf diesen Fall deutsches materielles Erbrecht zur Anwendung gelangen.104 War der Erblasser bzw. die Erblasserin nicht Schweizer Bürger (bzw. Bürgerin),
hätte er (bzw. sie) die Möglichkeit einer Rechtswahl zugunsten seines (bzw. ihres) Heimatrechts.
Diese Möglichkeit gälte es sicher zur Verhinderung des aufgezeigten unerfreulichen Resultats ernsthaft zu prüfen.105
7.4.
Subsidiäre schweizerische Heimatgerichtszuständigkeit
[Rz 79] Bei dem in einem EU-Mitgliedstaat wohnhaft gewesenen Schweizer könnte – aus schweizerischer Sicht – die schweizerische Heimatgerichtszuständigkeit nach Art. 87 Abs. 1 IPRG angerufen
werden. Die an die EuErbVO gebundenen Mitgliedstaaten müssen sich jedoch nach Art. 4 EuErbVO für zuständig ansehen, was zu einem positiven Kompetenzkonflikt führen würde. Diese
Reglung korreliert mit der schweizerischen Regelung insofern, als diese die primäre Zuständigkeit
am Wohnsitz des Erblassers festlegt.106
[Rz 80] Aus schweizerischer Optik konnte der mit letztem Wohnsitz im Ausland versterbende
Schweizer gestützt auf Art. 87 Abs. 2 und Art. 91 Abs. 2 IPRG eine Zuständigkeitswahl (bezüglich
seines ganzen Nachlasses oder des in der Schweiz gelegenen Nachlasses) treffen. Nach Eröffnung des
Erbgangs können die Erben zudem gestützt auf Art. 5 IPRG einen Gerichtsstand in der Schweiz
vereinbaren. Inwieweit eine solche Zuständigkeitswahl international durchsetzbar sein würde, blieb
allerdings in der Vergangenheit fraglich.
[Rz 81] Für die EU-Staaten der EuErbVO sehen nun die Art. 5 und 22 EuErbVO in ähnlicher Weise
wie nach schweizerischem Recht vor, dass der Erblasser sein Heimatrecht wählen kann und diesfalls seine Erben auch die Gerichte dieses EU-Mitgliedstaats als zuständig vereinbaren können.107
Damit müsste – aufgrund der Parallelität der Regelung – die schweizerische Gesetzesbestimmung
international an Durchsetzungsfähigkeit gewonnen haben.
7.5.
Zuständigkeit aufgrund von Nachlassvermögen in einem EU-Mitgliedstaat
[Rz 82] Eine Gerichtszuständigkeit für den gesamten Nachlass kann aufgrund von Art. 10 Abs. 1
EuErbVO in einem EU-Mitgliedstaat bestehen, in dem der Erblasser (bzw. die Erblasserin) Nachlassvermögen hinterlässt, sofern (a) der Erblasser den gewöhnlichen Aufenthalt in einem Dritt-
103 Art. 21 Abs. 1 EuErbVO.
104 Gemäss Art. 91 Abs. 1 IPRG i.V.m. Art. 34 Abs. 1 lit. a EuErbVO; vgl. Kinga M. Weiss/Manuel Bigler,
Deutscher Anwaltspiegel, März 2013, S. 28.
105 Vgl. ferner die Fälle möglicher Kompetenzkonflikte bei Grun Meyer/Sprecher (Fn. 4), S. 150 f.
106 Schwander, Erbrechtsverordnung (Fn. 4), S. 1091; vgl. Dormann (Fn. 8), S. 85.
107 Schwander, Erbrechtsverordnung (Fn. 4), S. 1091; vgl. Grun Meyer/Sprecher (Fn. 4), S. 153.
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Barbara Graham-Siegenthaler, Die EU-Erbrechtsverordnung und deren Auswirkungen auf die Nachlassplanung in
der Schweiz, in: Jusletter 21. September 2015
staat (wie etwa der Schweiz) hatte und (b) der Erblasser entweder die Staatsangehörigkeit des
EU-Mitgliedstaats hatte oder vorher (auf fünf Jahre zurückgerechnet) gewöhnlichen Aufenthalt
gehabt hatte.108 Im Verhältnis zur Schweiz als Drittstaat wirkt diese Vermögenslagezuständigkeit
als alternative Zuständigkeit, von der klagende Erben Gebrauch machen können.
[Rz 83] Damit kann es zu Zuständigkeitskonflikten kommen.109 Diese Konstellationen, welche zahlenmässig nicht selten sein dürften, sind planerisch unbedingt im Auge zu behalten.110
[Rz 84] Beispiel: Eine deutsche Staatsangehörige verlegt ihren Wohnsitz von Deutschland in die
Schweiz. Sie besitzt weiterhin Vermögenswerte in Deutschland und der Schweiz. Fünf Jahre darauf verstirbt sie. Es kommt zum Nachlasskonflikt: Die schweizerischen Gerichte und Behörden am
letzten Wohnsitz sind gemäss Art. 86 IPRG für die Nachlassabwicklung zuständig. Gemäss EuErbVO hingegen ist die Zuständigkeit der deutschen Gerichte für den gesamten Nachlass vorgesehen,
da die Erblasserin Vermögenswerte in Deutschland besass und zum Todeszeitpunkt die deutsche
Staatsbürgerschaft innehatte.111
[Rz 85] Würde ein Erbe zuerst ein deutsches Gericht anrufen, käme für die Schweiz Art. 9 IPRG
zur Anwendung, und das Verfahren müsste von einem schweizerischen Gericht ausgesetzt werden,
da zu erwarten wäre, dass das deutsche Gericht in angemessener Frist eine Entscheidung fällt, die
in der Schweiz anerkannt werden könnte. Im umgekehrten Fall ist die Rechtslage nicht restlos klar,
da die EuErbVO nur den Fall regelt, dass Gerichte verschiedener EU-Mitgliedstaaten angerufen
werden, nicht jedoch den Fall, dass eine Klage zuerst vor einem Nicht-EU-Staat anhängig gemacht
wurde. Die Gefahr von zwei widersprechenden Urteilen in Bezug auf den Nachlass kann in diesem
Fall nicht ausgeschlossen werden. Es ist nicht zu erwarten, dass das Gericht in einem EU-Staat bei
einer früheren Klageeinreichung in einem Drittstaat das Verfahren aussetzen würde.112
7.6.
Ausschluss von Vermögenswerten vom Verfahren
[Rz 86] Gemäss Art. 86 Abs. 2 IPRG besteht ein Vorbehalt der Zuständigkeit eines Staats, der für
Grundstücke auf seinem Gebiet die ausschliessliche Zuständigkeit vorsieht. Die EuErbVO geht in
ihrem Art. 12 insofern weiter, als alle Vermögenswerte, die in einem Drittstaat belegen sind, von
der Entscheidung des Nachlassgerichts ausgenommen werden können, sofern zu erwarten ist, dass
die Entscheidung in Bezug auf diese im Belegenheitsstaat nicht anerkannt oder vollstreckt werden
kann. Der Ausschluss erfolgt auf Antrag einer der Parteien.113
108 Schwander, Erbrechtsverordnung (Fn. 4), S. 1091; Grun Meyer/Sprecher (Fn. 4), S. 148 f.
109 Vgl. das Beispiel bei Schwander, Erbrechtsverordnung (Fn. 4), S. 1091: in der Schweiz wohnhafter Ausländer
mit Vermögen im Ausland oder auch ein in der Schweiz wohnafter Schweizer, der im Laufe der letzten fünf
Jahre vor seinem Tod gewöhnlichen Aufenthalt in einem EU-Mitgliedstaat hatte.
110 Vgl. dazu auch Grun Meyer/Sprecher (Fn. 4), S. 153.
111 Dormann (Fn. 8), S. 86.
112 Dormann (Fn. 8), S. 86.
113 Vgl. das Beispiel bei Dormann (Fn. 8), S. 84 und 87.
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Barbara Graham-Siegenthaler, Die EU-Erbrechtsverordnung und deren Auswirkungen auf die Nachlassplanung in
der Schweiz, in: Jusletter 21. September 2015
7.7.
Würdigung
[Rz 87] Es ist zu erwarten, dass die EuErbVO für EU-Mitgliedstaaten zu einer deutlichen Vereinfachung bei der Abwicklung von grenzüberschreitenden Nachlässen führt. Im Verhältnis zu Drittstaaten zeichnen sich jedoch gewisse Anwendungsprobleme ab, da u.a. vom Prinzip der durchgängigen
Gesamtabwicklung abgerückt wird.114
[Rz 88] Die einheitlichen Regeln der EuErbVO unterscheiden sich nicht grundlegend von denjenigen
des IPRG. Die EuErbVO eröffnet Erblassern mit Wohnsitz in der Schweiz, die einen gewissen Bezug zu einem EU-Mitgliedstaat aufweisen (z.B. Staatsangehörigkeit, früherer Aufenthaltsort oder
Vermögenslageort), zusätzliche Gestaltungsmöglichkeiten, die weit über das IPRG hinausgehen. Es
ist davon auszugehen, dass die Schweiz aufgrund von Art. 96 IPRG die Folgen dieser Gestaltungsmöglichkeiten gemäss der EuErbVO grundsätzlich anzuerkennen hat.115
8.
Fazit und Folgerungen für die Beratung
[Rz 89] Durch die EuErbVO wurden die Rechtssicherheit und die Vorhersehbarkeit bei internationalen Erbrechtsfällen erhöht. Die Planung und die Abwicklung internationaler Erbfälle in Europa
wurden zudem vereinfacht. Allerdings wird erst der Praxistest zeigen, wie weit diese Vereinfachungen und Erleichterungen tatsächlich gehen.
[Rz 90] Mit der EuErbVO wurden zudem die Rechtswahl im europäischen Erbrecht und die Möglichkeit von Erbverträgen in allen Mitgliedstaaten eingeführt, was für französische und italienische
Erblasserinnen und Erblasser bisher nicht denkbar war. Damit wurde der Gestaltungsspielraum
bei der Nachlassplanung deutlich erweitert.116 Als Folge davon dürfte sich – zumindest in gewissen
Fällen – der Beratungsbedarf erhöhen.
[Rz 91] Aus schweizerischer Sicht ist es bei Bezügen zu einem EU-Mitgliedstaat unerlässlich, die
aufgrund der EuErbVO neue Rechtslage bei der Planung einzubeziehen. Wie die vorstehende Darstellung gezeigt hat, ändern sich mit dem Inkrafttreten der EuErbVO u.U. nicht nur die Zuständigkeiten und das anwendbare Recht. Es bestehen nun auch neue Wahlmöglichkeiten, welche es im
Einzelnen zu prüfen gilt.
[Rz 92] Im Vordergrund steht bei der Beratung sicherlich die Frage einer Rechtswahlklausel, welche
im Regelfall zu empfehlen wäre, nachdem nun davon ausgegangen werden kann, dass diese auch im
europäischen Ausland Anerkennung findet. Bei der Entscheidung des anwendbaren Erbrechts sind
die Unterschiede in den materiellen Erbrechten der einzelnen, möglicherweise mit dem Nachlass befassten Staaten, insbesondere hinsichtlich gesetzlicher Erbfolge, Pflichtteilsrecht, Erbfähigkeit, Enterbung, Erbunwürdigkeit und Haftung für Nachlassverbindlichkeiten sowie Willensvollstreckung,
zu berücksichtigen. Zudem ist bei verheirateten Personen und solchen in registrierten Partnerschaften auf einen Gleichlauf des anwendbaren Güter- und Erbrechts zu achten.
[Rz 93] Keine grundsätzlichen Änderungen bestehen hingegen bei den nachfolgend aufgeführten
Ausgangsfragestellungen, welche in jedem Fall zu klären waren und dies auch weiterhin sein wer-
114 Kinga M. Weiss/Manuel Bigler, Deutscher Anwaltspiegel, März 2013, S. 27.
115 Schwander, Erbrechtsverordnung (Fn. 4), S. 1103.
116 Vgl. Dormann (Fn. 8), S. 105.
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Barbara Graham-Siegenthaler, Die EU-Erbrechtsverordnung und deren Auswirkungen auf die Nachlassplanung in
der Schweiz, in: Jusletter 21. September 2015
den:117
1. Wo befindet sich der Wohnsitz bzw. der gewöhnliche Aufenthalt der Person (nachmalige Erblasser oder Erblasserin)? Sind diese am selben Ort oder nicht? Ist eine Verschiebung von Wohnsitz
oder gewöhnlichem Aufenthalt geplant?
2. Welche Staatsangehörigkeit(en) besteht/bestehen? Ist eine Einbürgerung geplant?
3. Welches Ehegüterrechtsstatut gilt zurzeit und allenfalls in Zukunft? Empfiehlt sich eine Rechtswahl (und wenn ja, würde diese in den relevanten Staaten anerkannt)?
4. Wo befinden sich international Vermögenswerte? Bestehen Vermögenswerte in einem EuErbVOMitgliedstaat, sodass die subsidiäre Zuständigkeit dieses Staats zum Zuge kommen könnte?
5. Wurde bereits eine Verfügung von Todes wegen errichtet? Entspricht diese inhaltlich und formal
noch den aktuellen Gegebenheiten und Wünschen?
Barbara Graham-Siegenthaler, Prof. Dr. LL.M. Rechtsanwältin, Partnerin bei Furer & Karrer Rechtsanwälte
117 Checkliste; vgl. auch Dormann (Fn. 5), S. 104 f.
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