Vermutung des Mehrfachkonsums von Cannabis

VGH München, Beschluss v. 16.12.2015 – 11 CS 15.2377
Titel:
Vermutung des Mehrfachkonsums von Cannabis anhand des THC-Werts
Normenketten:
VwGO § 80 III
StVG § 3 I 1
FeV §§ 11 VII, 46 I, III
§ 80 Absatz 3 Satz 1 VwGO
VwGO § 80 III
StVG § 3 I 1
FeV §§ 11 VII, 46 I, III
Schlagworte:
vorläufiger Rechtsschutz, EU-Fahrerlaubnis, Drogenkonsum, Cannabis, THC, Sofortvollzug,
Kraftfahreignung, Blutuntersuchung, Verwertbarkeit, LSD
Tenor
I.
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.500,- Euro festgesetzt.
Gründe
I.
1
Der Antragsteller wendet sich gegen die sofortige Vollziehbarkeit der Aberkennung des Rechts, von seiner
österreichischen Fahrerlaubnis der Klassen AM und B im Bundesgebiet Gebrauch zu machen.
2
Am 24. Juni 2015 unterzog die Polizei den Antragsteller in N.-U. einer Verkehrskontrolle. Da er sehr
angespannt und zittrig wirkte sowie eine verzögerte Wahrnehmung zeigte, wurde ein Alkotest durchgeführt,
der eine Atemalkoholkonzentration von 0,00 mg/l ergab. Nachdem der Antragsteller angegeben hatte, er
habe am Abend des 23. Juni 2015 einen Joint geraucht und am vergangenen Wochenende LSD
konsumiert, ordnete die Polizei eine Blutentnahme an.
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Nach dem ärztlichen Bericht vom 24. Juni 2015 wurde dem Antragsteller um 19.40 Uhr Blut entnommen.
Der äußerliche Anschein des Einflusses von Drogen wurde als nicht merkbar bis leicht eingeschätzt. Der
Antragsteller habe angegeben, am 20. Juni 2015 LSD und am 23. Juni 2015 um 20.00 Uhr Cannabis
konsumiert zu haben.
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Die Untersuchung der Blutprobe durch das Institut für Rechtsmedizin im Universitätsklinikum ... ergab eine
Konzentration 8,4 ng/ml Tetrahydrocannabinol (THC) und 210,7 ng/ml THC-Carbonsäure (THC-COOH).
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Mit Bescheid vom 19. August 2015 erkannte die Fahrerlaubnisbehörde im Landratsamt N.-U.
(Fahrerlaubnisbehörde) dem Antragsteller nach vorheriger Anhörung das Recht ab, von seiner
österreichischen Fahrerlaubnis in Deutschland Gebrauch zu machen (Nr. 1 des Bescheids), forderte ihn
unter Androhung eines Zwangsgelds auf, den österreichischen Führerschein bis spätestens 4. September
2015 vorzulegen (Nrn. 2 und 3) und ordnete den Sofortvollzug hinsichtlich der Nr. 1 des Bescheids an (Nr.
4). Der Antragsteller sei ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen, da er gelegentlich Cannabis
konsumiere und kein Trennungsvermögen bestehe. Am 3. September 2015 legte der Antragsteller seinen
Führerschein vor und der Sperrvermerk wurde angebracht.
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Über die gegen den Bescheid vom 19. August 2015 erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht Augsburg
noch nicht entschieden (Az.: Au 7 K 15.1388). Den Antrag auf Aussetzung der sofortigen Vollziehung hat
das Verwaltungsgericht abgelehnt. Die Begründung des Sofortvollzugs entspreche den formellen
Anforderungen des § 80 Abs. 2 Nr. 4, Abs. 3 VwGO. Die Interessenabwägung gehe zulasten des
Antragstellers aus. Der Bescheid sei voraussichtlich rechtmäßig, da der Antragsteller nicht geeignet zum
Führen von Kraftfahrzeugen sei. Er habe selbst zugegeben, am Abend des 23. Juni 2015 einen Joint
geraucht zu haben. Darüber hinaus müsse er einige Stunden vor der Blutentnahme erneut
Cannabisprodukte konsumiert haben, da die THC-Konzentration von 8,4 ng/ml in seinem Blut anders nicht
erklärt werden könne. Dass unterschiedliche Zeitpunkte für die Blutentnahme in der Akte genannt seien,
führe nicht zu eine Unverwertbarkeit der Blutprobe.
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Dagegen wendet sich der Antragsteller mit seiner Beschwerde, der der Antragsgegner entgegentritt. Die
Begründung des Sofortvollzugs entspreche nicht den Voraussetzungen des § 80 Abs. 3 VwGO. Ein zweiter
Konsumakt sei nicht nachgewiesen. Es erfolge auch keine tragfähige Auseinandersetzung mit den
verschiedenen angegebenen Uhrzeiten der Blutentnahme.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen und die vorgelegten
Behördenakten Bezug genommen.
II.
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Die zulässige Beschwerde, bei deren Prüfung der Verwaltungsgerichtshof gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6
VwGO das form- und fristgerechte Beschwerdevorbringen berücksichtigt, ist nicht begründet. Die Klage des
Antragstellers wird voraussichtlich keinen Erfolg haben.
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1. Die Anordnung des Sofortvollzugs genügt den formellen Anforderungen. Nach § 80 Absatz 3 Satz 1
VwGO ist in den Fällen des § 80 Absatz 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO das besondere Interesse an der sofortigen
Vollziehung des Verwaltungsakts schriftlich zu begründen. Dabei sind an den Inhalt der Begründung keine
zu hohen Anforderungen zu stellen (Schmidt in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 80 Rn. 43).
Insbesondere bei Kraftfahrern, denen die erforderliche Eignung zum Führen eines Kraftfahrzeugs fehlt, ist
das Erlassinteresse regelmäßig mit dem Vollzugsinteresse identisch (Schmidt, a. a. O. § 80 Rn. 36). Ein
solcher Fall lag hier aus Sicht des Antragsgegners vor. Er hat vor diesem Hintergrund unter Nr. 3 des
Bescheids vom 19. August 2015 das besondere Interesse am sofortigen Vollzug unter Bezug auf den
Einzelfall hinreichend begründet. Im gerichtlichen Verfahren erfolgt keine materielle Überprüfung der
Begründung der Behörde nach § 80 Absatz 3 Satz 1 VwGO, sondern es wird eine eigenständige
Interessenabwägung durchgeführt.
11
2. Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 des Straßenverkehrsgesetzes vom 5. März 2003 (StVG, BGBl I S. 310), zuletzt
geändert durch Gesetz vom 8. Juni 2015 (BGBl I S. 9042), und § 46 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung über die
Zulassung von Personen zum Straßenverkehr vom 18. Dezember 2010 (Fahrerlaubnis-Verordnung - FeV,
BGBl I S. 1980), im Zeitpunkt des Bescheiderlasses zuletzt geändert durch Verordnung vom 16. Dezember
2014 (BGBl. I S. 2213), hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich der
Inhaber einer Fahrerlaubnis als ungeeignet oder nicht befähigt zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist.
Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken begründen, dass der Inhaber einer Fahrerlaubnis zum Führen
eines Kraftfahrzeugs ungeeignet oder bedingt geeignet ist, finden die §§ 11 bis 14 FeV entsprechend
Anwendung (§ 46 Abs. 3 FeV). Gemäß § 11 Abs. 7 FeV unterbleibt die Anordnung zur Beibringung eines
Gutachtens, wenn die Nichteignung des Betroffenen zur Überzeugung der Fahrerlaubnisbehörde feststeht.
Nach Nr. 9.2.2 der Anlage 4 zu §§ 11, 13 und 14 FeV ist ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen, wer
bei gelegentlicher Einnahme von Cannabis den Konsum und das Fahren nicht trennen kann. Dies ist beim
Antragsteller der Fall.
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Gelegentlicher Konsum von Cannabis im Sinne von Nr. 9.2.2 der Anlage 4 zur FeV liegt dann vor, wenn der
Betroffene in zumindest zwei selbstständigen Konsumvorgängen Cannabis zu sich genommen hat und
diese Konsumvorgänge einen gewissen, auch zeitlichen Zusammenhang aufweisen (BVerwG, U.v.
23.10.2014 - 3 C 3/13 - DAR 2014, 711 Rn. 16 ff.).
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Angesichts der Einlassungen des Antragstellers bei der Verkehrskontrolle und der Blutentnahme am 24.
Juni 2015 sowie seinen schriftsätzlichen Ausführungen steht im vorliegenden Fall fest, dass er am Abend
des 23. Juni 2015 um ca. 20 Uhr Cannabis konsumiert hat. Nach dem Befundbericht des
Universitätsklinikums Ulm vom 3. Juli 2015 steht ebenfalls fest, dass er einige Stunden vor der
Blutentnahme am 24. Juni 2015 Cannabis konsumiert und mit einem Wert von 8,4 ng/ml
Tetrahydrocannabinol (THC) im Blut ein Kraftfahrzeug geführt hat. Damit liegen schon zwei
Konsumvorgänge vor und der Antragsteller kann den Konsum von Cannabis und das Führen eines
Kraftfahrzeugs nach Nr. 9.2.2 der Anlage 4 zur FeV nicht trennen. Darüber hinaus spricht auch der bei dem
Antragsteller gefundene hohe Wert von 210,7 ng/ml THC-COOH für einen zumindest gelegentlichen
Cannabisgebrauch. Nach den vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnissen kann jedenfalls bei
festgestellten THC-COOH-Konzentrationen, die über 150 ng/ml liegen, der Beweis für einen häufigeren
Konsum von Cannabis als erbracht angesehen werden (vgl. BayVGH, B.v. 27.3.2006 - 11 CS 05.1559 juris, B.v. 21.4.2006 - 11 CS 05.1475 - juris; B.v. 23.9.2008 - 11 CS 08.1622 - juris; B.v. 11.8.2010 - 11 CS
10.1187 - juris).
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Der Vortrag des Antragstellers, ein zweiter Konsumvorgang sei nicht nachgewiesen, kann demgegenüber
nicht überzeugen. Der Senat hat bereits entschieden, dass aus einem THC-Wert, der in einer Blutprobe
festgestellt wurde, im Wege der Rückrechnung nicht mit jener Genauigkeit ermittelt werden kann, wie hoch
der THC-Spiegel zu einem bestimmten, vor der Blutentnahme liegenden Zeitpunkt war, wie das z. B. beim
Rauschmittel „Alkohol“ möglich ist (vgl. B.v. 27.9.2010 - 11 CS 10.2007 - juris Rn. 10). Auf die Erkenntnisse
über das Abbauverhalten von THC darf aber insoweit zurückgegriffen werden, als sich aus ihnen gleichsam im Wege des Ausschlussverfahrens - „negative“ Aussagen dergestalt herleiten lassen, dass ein
für einen bestimmten Zeitpunkt eingeräumter oder sonst feststehender Konsum von Cannabis keinesfalls
(alleine) für die Konzentrationen ursächlich gewesen sein kann, die in einer später gewonnenen Blutprobe
vorhanden waren.
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Der psychoaktive Wirkstoff THC wird bei inhalativem Konsum von Cannabis sehr schnell vom Blut resorbiert
und ist nach einem Einzelkonsum sechs bis zwölf Stunden im Blut nachweisbar (Beurteilungskriterien Urteilsbildung in der Fahreignungsbegutachtung - Hrsg.: Deutsche Gesellschaft für
Verkehrspsychologie/Deutsche Gesellschaft für Verkehrsmedizin, 3. Aufl. 2013, S. 247). Im Rahmen der
Maastricht-Studie wurde ebenfalls festgestellt, dass bei der überwiegenden Zahl der Cannabiskonsumenten
THC im Blut relativ schnell abgebaut wird und bereits nach sechs Stunden nur noch THC-Werte zwischen 1
und 2 ng/ml festgestellt werden konnten (vgl. BayVGH, B.v. 13.5.2013 - 11 ZB 13.523 - NJW 2014, 407 Rn.
19 ff. m. w. N.). Der Cannabiskonsum des Antragstellers, der sich in der am 24. Juni 2015 um ca. 20 Uhr
entnommenen Blutprobe niedergeschlagen hat, muss deshalb angesichts der gemessenen Konzentration
von 8,4 ng/ml THC im Blut offensichtlich im Laufe des 24. Juni 2015 stattgefunden haben (vgl. auch
BayVGH, B.v. 13.5.2013 a. a. O. Rn. 21; B.v. 5.3.2009 - 11 CS 08.3046 - juris Rn. 15).
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Soweit der Antragsteller vorträgt, das Ergebnis der Blutuntersuchung sei nicht verwertbar, da sich den
Akten nicht mit letzter Sicherheit entnehmen lassen, zu welchem Zeitpunkt das Blut entnommen worden sei,
kann dem nicht gefolgt werden. Es trifft zwar zu, dass hinsichtlich des genauen Zeitpunkts der
Blutentnahme Abweichungen vorhanden sind. Der ärztliche Bericht nennt als Entnahmezeitpunkt 19.40 Uhr.
Demgegenüber geht der Polizeibericht des PM ... von 19.58 Uhr und der ebenfalls von PM ... ausgefüllte
Antrag auf Feststellung des Drogengehalts im Blut von 20.10 Uhr aus. Es ist aber schon nicht ersichtlich,
aus welchen Gründen die Untersuchung des Bluts wegen dieser geringfügigen Abweichungen hinsichtlich
des Entnahmezeitpunkts oder wegen der widersprüchlichen Angabe zur Zahl der entnommenen Proben
nicht verwertbar sein sollte. Im Zweifel müsste wohl von dem für den Antragsteller günstigsten Zeitpunkt
ausgegangen werden. Eine Blutuntersuchung ist grundsätzlich nur dann unverwertbar, wenn sie nicht
fachkundig erstellt wurde (vgl. Beurteilungskriterien, S. 262 ff.). Dafür bestehen aber keinerlei Hinweise. Der
Antragsteller trägt weder vor, dass die Blutprobe nicht von ihm stammen würde, noch sind den Akten
diesbezügliche Anhaltspunkte zu entnehmen. Im Gutachten des Universitätsklinikums wird ausdrücklich
ausgeführt, die Blutprobe sei mit einem Aufkleber versehen gewesen, der den Namen und das
Geburtsdatum des Antragstellers trug. Eine Verwechslung erscheint damit ausgeschlossen. Auch sonstige
Unregelmäßigkeiten sind nicht ersichtlich.
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3. Im Übrigen ist der Antragsteller auch nach Nr. 9.1 der Anlage 4 zur FeV fahrungeeignet, da er neben dem
Cannabiskonsum noch andere Betäubungsmittel einnimmt. Er hat selbst angegeben, am Wochenende vor
der Verkehrskontrolle Lysergsäurediethylamid (LSD) konsumiert zu haben. Dabei handelt es sich um das
unter dem Namen Lysergid als nicht verkehrsfähiges Betäubungsmittel in Anlage I zu § 1 Abs. 1 des
Betäubungsmittelgesetzes gelistete N,N-Diethyl-6-methyl-9,10-didehydroergolin-8β-carboxamid.
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4. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 3, § 52 Abs. 1 GKG i. V. m. den Empfehlungen in Nrn. 1.5
und 46.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 (abgedruckt in Kopp/Schenke,
VwGO, 21. Aufl. 2015, Anh. § 164 Rn. 14).
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).