D. Eugster ua (Hrsg.): Das Imaginäre des Kalten - H-Soz-Kult

D. Eugster u.a. (Hrsg.): Das Imaginäre des Kalten Krieges
Eugster, David; Marti, Sibylle (Hrsg.): Das
Imaginäre des Kalten Krieges. Beiträge zu einer
Kulturgeschichte des Ost-West-Konfliktes in Europa. Essen: Klartext Verlag 2015. ISBN: 978-38375-1275-5; VII, 298 S.
Rezensiert von: Jan Hansen, Institut für
Geschichtswissenschaften,
HumboldtUniversität zu Berlin
Der Kalte Krieg war ein imaginärer Krieg.
Er fand weniger auf Schlachtfeldern, sondern vor allem in den Köpfen der Menschen
statt. Er beruhte auf Einbildungskraft und
war dort am präsentesten, wo sich die Zeitgenossen von Feindbildern leiten ließen. So total der Kalte Krieg in den Alltag der Gesellschaften hineinreichte, so stark beruhte er auf
der gedanklichen Zweiteilung der Welt. Die
Zürcher Historiker Sibylle Marti und David
Eugster haben nun einen Sammelband vorgelegt, der das Imaginäre des Kalten Krieges
als „produktiven Suchbegriff“ und „theoretischen Scheinwerfer“ nutzbar zu machen versucht. Marti und Eugster interessieren sich
für die symbolischen Strukturen, Praktiken
und materiellen Dimensionen dieser Auseinandersetzung. Sie argumentieren, „dass der
Kalte Krieg in Europa seine Virulenz und Persistenz gerade dadurch entfaltete, weil er permanent ausgemalt, inszeniert und materialisiert wurde“ (jeweils S. 4). Damit schließen sie
an neueste Debatten in den Cold War Studies
an.
Der Band besteht aus vier inhaltlichen Teilen. Zunächst geht es um jene Metaphern, die
die Blockbildung in den Köpfen begünstigten.
Philipp Sarasin analysiert den Kalten Krieg
als „Krieg der Grenzziehung“ (S. 20). Er stellt
heraus, dass die ideologische Auseinandersetzung diskursiv „gemacht“ wurde – nicht
zuletzt, indem Begriffe wie „der Westen“ und
„das Abendland“ nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und mit Rückgriff auf ältere Traditionen ihre uns heute geläufige ideologische Aufladung erfuhren. Dadurch konstituierten sie eine vom Ostblock abgrenzbare westliche Identität. Sarasin stützt sich
auf exemplarische Zeitschriftenquellen und
auf die Häufigkeitskurven des „Google Books
Ngram Viewers“. Während er an anderer Stelle ausführlich die Reichweite und die Gren-
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zen dieses Zugangs diskutiert hat1 , führt er
hier wie nebenbei vor, was digitale Werkzeuge für eine kluge geschichtswissenschaftliche
Analyse zu leisten vermögen.
In einer ähnlichen Stoßrichtung befasst sich
Silvia Berger Ziauddin mit der „Ambivalenz
des Bunkers“ in der Schweiz. Sie untersucht
die Atomschutzarchitektur jenes Landes, das
sich schon früh als Insel im unruhigen Meer
der Weltpolitik begriff. Analog zu diesem
Topos verstanden die Schweizerinnen und
Schweizer ihre Bunkeranlagen als „Überlebensinseln“ oder gleich als Arche Noah. Berger Ziauddin argumentiert, dass sich der Bunker in den frühen 1980er-Jahren aber „zunehmend in einen dynamischen Kraft- und Gegenraum [verwandelte], der die durch den
Kalten Krieg geprägten Wahrnehmungssysteme unterminierte“ (S. 72). Als die Friedensbewegung in der Schweiz den Cold War
Consensus zu hinterfragen begann, wurde
der Bunker zum Ort gesellschaftlich imaginierter Dystopien. In die populären weltgesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen wollte das Selbstbild der Schweiz als Insel sowieso nicht mehr so recht passen. Das stellte
die Schweizer Gesellschaft vor fundamentale
Identitätsfragen, mit deren Beantwortung sie
sich schwertat.
Symbolisierte der Bunker in den 1980erJahren das Aufbegehren gegen die herrschende Kalte-Kriegs-Ordnung, verweist dies einmal mehr auf den Umbruchcharakter jenes
Jahrzehnts. Eine solche Deutung zieht sich
wie ein roter Faden durch den Band. Sie klingt
an mehreren Stellen an, ohne aber systematisch gefasst und ausformuliert zu werden.
Dabei liegt es auf der Hand, dass die Erosion des Denk- und Deutungsmusters „Kalter
Krieg“ den politischen Diskurs in den 1980erJahren tiefgreifend prägte. Der Eiserne Vorhang hatte sich schon früher als durchlässig
erwiesen, doch erst jetzt wurde er auch gesamtgesellschaftlich hinterfragt (beispielsweise in der Friedensbewegung). Der Kalte Krieg
gab den Zeitgenossen keine Antworten mehr
auf die wahrgenommenen Probleme der Ge1 Philipp Sarasin, Sozialgeschichte vs. Foucault im Goog-
le Books Ngram Viewer. Ein alter Streitfall in einem
neuen Tool, in: Pascal Maeder / Thomas Mergel / Barbara Lüthi (Hrsg.), Wozu noch Sozialgeschichte? Eine
Disziplin im Umbruch, Göttingen 2012, S. 151–174.
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genwart; er war selbst zum Problem geworden.2
Dass der Cold War Consensus bereits in
den 1950er-Jahren erodierte, macht der nächste Teil des Sammelbandes klar, in dem es
um Sozialfiguren als diskursive Typisierungen geht. Hier destillieren Günther Stocker
und Stefan Maurer in einem ausgezeichneten
Aufsatz „Figuren des Dritten in der österreichischen Kultur des Kalten Krieges“ heraus.
Sie betonen, dass das strikt dualistisch organisierte Denksystem des Kalten Krieges permanent Figuren des Dritten produzierte. Diese Figuren – „Fellow Traveller“, „trojanische
Pferde“, „Neutralisten“, um nur die bekanntesten zu nennen – stellten mit der Binarität
das zentrale Denkmodell des Zeitalters infrage. Sie ließen sich keiner Seite klar zuordnen
und wurden deshalb als bedrohlich wahrgenommen. Waren sie aber erst einmal als Verräter denunziert, konnten sie wieder in die dichotomischen Strukturen eingefügt werden.
Der folgende Teil analysiert die Emotionskultur des Kalten Krieges. Unter anderem
zeigt Sophie Lorenz in ihrem Beitrag über
die DDR-Solidaritätskampagne für die USamerikanische Bürgerrechtlerin Angela Davis, dass im Ost-West-Konflikt nicht nur
die schon gut dokumentierte „Nuclear Fear“
wichtig war. Auch Gefühle wie Gemeinschaftsdenken, Stolz oder Zuneigung konstituierten das emotionale Regime der Zeitgenossen, das die binäre Struktur des Kalten
Krieges aufnahm. Lorenz beschreibt anschaulich, wie sich der Solidaritätsbegriff in der
DDR wandelte, als es darum ging, die von
der Partei verordnete Solidarität mit Davis zu
inszenieren. Diese Transformation ist nur zu
verstehen – das macht Lorenz klar –, wenn
man das Spannungsfeld von offiziell verordneten Solidaritätskampagnen und ihrer eigensinnigen Aneignung in der Bevölkerung einbezieht.3
In einem abschließenden Teil versuchen
die Autorinnen und Autoren das Theorem
der Simulation nutzbar zu machen, das
sie nach Jean Baudrillard etwas umständlich als „Simulakren“ fassen. Klarer wird
der heuristische Mehrwert dieses Konzepts
bei Sibylle Marti, die die „Imaginationen
und Praxis totaler Landesverteidigung in
der Schweiz“ beleuchtet. Sie versteht Übun-
gen zur Landesverteidigung als Simulationen, „die eine Wirklichkeit konstituierende
Wirkung zu entfalten vermochten und den
Kalten Krieg in der Schweiz dadurch perpetuierten“ (S. 245). In ihrem methodisch innovativen Beitrag verknüpft Marti die Geschichte von Wahrnehmungs- und Deutungsmustern mit Anregungen aus der Praxeologie. Sie
führt aus, dass die Übungen zur Landesverteidigung erst in ihrer spezifischen performativen Ausgestaltung den Sinn erzeugten,
mit dem sich der Kalte Krieg in den Köpfen
der Schweizerinnen und Schweizer verankerte. So sollten Menschen aus möglichst allen
Bevölkerungsschichten an den Übungen teilnehmen, damit „die Vorstellung der totalen
Verteidigung“ (S. 265) im Alltag präsent blieb.
Wenn damit längst nicht alle Aufsätze des
Sammelbandes angesprochen sind, soll das
nicht heißen, dass die anderen Beiträge weniger lesenswert seien. Im Gegenteil: Sie eröffnen wichtige neue Fragehorizonte und präsentieren erste Forschungsergebnisse. Zu bemängeln ist kaum etwas. Allein die Tatsache,
dass die Herausgeber mit der Schweiz und
Österreich Länder in den Blick nehmen, die
für gewöhnlich nicht im Mittelpunkt von Studien über den Kalten Krieg stehen, mag etwas
erstaunen. Bei genauerem Hinsehen entpuppt
sich dieser Fokus aber als kluge Selbstbeschränkung. Denn über die peripheren Länder des Ost-West-Konfliktes haben die Autorinnen und Autoren etwas wirklich Neues
zu sagen. Sie legen dar, wie sehr die dichotome Spaltung der Welt darauf beruhte, dass
sie imaginiert, inszeniert und materialisiert
wurde. Ihre Thesen und Befunde können als
Ausgangspunkt dienen, um den Kalten Krieg
aus einer bislang unterbelichteten Perspekti2 Dazu
bald systematisch: Jan Hansen, Abschied vom
Kalten Krieg? Die Sozialdemokraten und der Nachrüstungsstreit (1977–1987), München 2016; mit ersten Befunden: Jan Hansen / Christian Helm / Frank Reichherzer, Transatlantic Flows and Complex Entanglements of Protest in the 1980s. Introduction, in: dies.
(Hrsg.), Making Sense of the Americas. How Protest
Related to America in the 1980s and beyond, Frankfurt
am Main 2015, S. 13–29, bes. S. 23f.
3 Siehe auch Sophie Lorenz, „Heldin des anderen Amerikas“. Die DDR-Solidaritätsbewegung für Angela
Davis, 1970–1973, in: Zeithistorische Forschungen /
Studies in Contemporary History 10 (2013), S. 38–60,
URL:
<http://www.zeithistorische-forschungen.de
/1-2013/id=4590> (20.06.2015).
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D. Eugster u.a. (Hrsg.): Das Imaginäre des Kalten Krieges
ve neu zu erzählen. Sibylle Marti und David Eugster haben einen methodisch und konzeptionell überzeugenden Sammelband vorgelegt. Er beweist, dass der Kalte Krieg noch
lange nicht ausgeforscht ist.
HistLit 2015-3-005 / Jan Hansen über Eugster, David; Marti, Sibylle (Hrsg.): Das Imaginäre des Kalten Krieges. Beiträge zu einer Kulturgeschichte des Ost-West-Konfliktes in Europa. Essen 2015, in: H-Soz-Kult 02.07.2015.
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