Frankfurter Allgemeine Zeitung – 19.08.2000 Rezension: Belletristik

Frankfurter Allgemeine Zeitung – 19.08.2000
Rezension: Belletristik – Mein Klassenkampf
Lernziel Antifaschismus: "Die Welle" in deutschen Schulen
Dieses Buch ist nicht geheim. Und doch wird es vor allem in geschlossenen Zirkeln
gelesen. Dieses Buch ist nicht bekannt. Und doch wurden allein in Deutschland in
fünfzehn Jahren fast zwei Millionen Exemplare davon verkauft. Dieses Buch hat
keine Folgen. Und doch wird es mit aller Sorgfalt studiert, weil es angeblich für die
Verbesserung der Welt wirbt und die Leser anhält, "über die gruppen- und
individualpsychologischen
Auswirkungen
von
kollektivem
Anpassungsdruck
nachzudenken". In allen Bundesländern steht Morton Rhues "Die Welle" (Verlag Otto
A. Maier, Ravensburg / "The Wave" bei Klett in Stuttgart) auf den Empfehlungslisten
der Kultusminister für den Sozialkundeunterricht in der Sekundarstufe II. Im Jahr
1981 in den Vereinigten Staaten erschienen, 1984 auf deutsch veröffentlicht und
seitdem immer wieder nachgedruckt, ist dieser Roman eines der erfolgreichsten
Taschenbücher überhaupt und wurde in Deutschland über Jahre hinweg nur vom
Bürgerlichen Gesetzbuch überflügelt.
Dieses kleine Buch ist eine allegorische Erzählung über den Sieg und die
Überwindung des jugendlichen Rechtsradikalismus. Es erzählt von einer Klasse an
einer amerikanischen Oberschule, der es, wie ihren Altersgenossen an allen
Oberschulen der westlichen Welt, aufgegeben ist, über Grund und Entstehung des
Faschismus nachzudenken. Als das Grübeln nicht hilft, verfällt der Geschichtslehrer
auf das Mittel des Experiments: Er unterwirft seine Schüler einem militärischen Drill,
er gründet eine Bewegung, er gibt ihr eine Grußform und ein graphisches Symbol.
"Macht durch Disziplin, Macht durch Gemeinschaft, Macht durch Handeln", steht nun
auf der Tafel. Und siehe da: Die Klasse ist begeistert, die Bewegung breitet sich aus,
die Football-Mannschaft ist "wie umgekrempelt" und plötzlich in der Lage, "künftig
alle
Pokale
zu
gewinnen",
ein
kleiner
Jude
wird
nach
der
Schule
zusammengeschlagen, und Robert Billings, der Sonderling und Außenseiter der
Klasse, ist auf einmal der "Leibwächter" seines Lehrers und der schärfste Anführer
der Bewegung.
Und alles würde so weitergehen, und die Welle würde über der ganzen Welt
zusammenschlagen, riefe der Lehrer am Ende nicht mit einer einzigen, mutigen Tat
den bösen Geist in die Flasche zurück: Er läßt seine Schüler in das riesenhaft
vergrößerte Gesicht von Adolf Hitler blicken - die Welle, so endet die Geschichte,
verebbt auf einen Schlag, der Sonderling hockt weinend in einer Ecke, und der
verprügelte Jude erholt sich rasch. Morton Rhue schließt mit dem gröbsten Trick, der
in der Literatur zur Verfügung steht, mit einem "deus ex machina", der einen harten
Widerspruch verbirgt: Denn dieses Bild ist natürlich das gleiche, das die Massen
vorher fasziniert hat.
Dieses Buch ist so erfolgreich, weil es ein Märchen von der Verführung und der
Verführbarkeit durch die Macht erzählt: "Das Verhalten der deutschen Bevölkerung
ist ein Rätsel: Warum haben sie nicht versucht, das Geschehen aufzuhalten? Wie
konnten sie behaupten, von alledem nichts gewußt zu haben? Die Antworten auf
diese Fragen kennen wir nicht." Der Lehrer läßt die Schüler geradesitzen, und sie
sind angetan. Er läßt sie zum Antworten aufstehen, und sie sind begeistert. Er
gründet eine Gemeinschaft, und es gibt kein Halten mehr. Alles, was man nach
dieser Idee braucht, um über Nacht einen totalitären Staat herbeizuzaubern, ist ein
charismatischer Mensch mit ausreichend schlechten Absichten. Dann kommt das
Unheil und nimmt von alleine seinen Lauf. Der Faschismus - der in diesem Buch für
alle Arten des autoritären Staates steht - kommt über die Kinder wie Magie, er ist ein
Bann, der überall und zu jeder Zeit über jeden Menschen verhängt werden kann.
Dieser Roman, so heißt es in allen Kommentaren, beruhe auf einer wahren
Begebenheit, die sich in den späten sechziger Jahren an einer Oberschule im
kalifornischen Palo Alto zugetragen haben soll. Als der leibhaftige Lehrer und sein
Autor vor einigen Jahren durch deutsche Schulen "mit fremdenfeindlichen
Tendenzen" reisten, gaben sie die Parole aus "Life ist the opposite of fascism" "Leben ist das Gegenteil von Faschismus". Und die deutschen Schüler erfuhren, daß
an der Geschichte nur eine Episode erfunden ist: der Widerstand eines jugendlichen
Liebespaars. Leider sei kein Wort davon wahr.
"Wau", meldet sich heute eine deutsche Schülerin namens "Katzimausi" auf einer
Internet-Seite, die ganz der Verbreitung gelöster Hausaufgaben gewidmet ist, "mir
hat dieses Buch sehr gut gefallen. Ich kann mir jetzt noch besser vorstellen, wie die
Leute damals manipuliert wurden." Für den Erfolg des Buches ist es entscheidend,
daß am Anfang dieser Geschichte ein wirkliches Ereignis, eine Erfahrung des
amerikanischen "learning by doing", stehen soll - ergänzt um das traurige Ende, daß
jener Lehrer im wirklichen Leben nach dieser Geschichte seine Stelle verlor. Warum
aber begnügen sich die Kinder mit der Lektüre dieser Geschichte, warum verwandeln
sie sie nicht in darstellendes Spiel? Weil der Reiz dieses Buches die gefahrlose
Identifikation mit der Verwandlung der Klasse in einen Verband der Hitlerjugend ist.
Der Roman "Die Welle" ist an den deutschen Schulen so populär, weil man ihn für
eine Art mobile Schluckimpfung gegen den jugendlichen Rechtsradikalismus hält.
Vielleicht steht er deshalb in Sachsen als Pflichtlektüre in den Lehrplänen für das
Fach Englisch. Faschismus sei Zauber, lehrt Morton Rhue und sucht die
Immunisierung. Deswegen weicht er Gründen aus, wo immer er ihnen begegnen
könnte. Es gibt in diesem Buch keine Krise, aber eine Ideologie der starken
Gemeinschaft, es gibt den radikalen Untertanen, aber keinen enttäuschten
Nationalismus. Die Liebe zur Unterwerfung und zur Gewalt ist einfach da, so als sei
diese bei Faschisten nicht mit der Vorstellung verbunden, auch ohne Duldung eines
"verweichlichten" Staates mit seinen Nutznießern fertig werden zu müssen. Statt
dessen kann der Leser eine eingebildete Überlegenheit über schwache Menschen
genießen: "Wenn du einmal untersuchst, was für Menschen sich solchen
Gemeinschaften anschließen, dann wirst du feststellen, daß es fast immer Menschen
sind, die mit sich selbst und ihrem Leben unzufrieden sind." Der Faschist ist ein
Miesepeter - und auf diese Weise ebenso entschuldigt wie beschimpft, ebenso
verachtet wie für beschränkt erklärt. Die Hausaufgabenseiten im Internet belehren
den Leser schnell darüber, wie verbreitet die therapeutisch versierten Musterschüler
tatsächlich sind.
Der Roman "Die Welle" huldigt dem Glauben an Zauber und Gegenzauber, er
zelebriert das Unverständnis, er feiert die Unfähigkeit zum Argument und setzt an
dessen Stelle die Hoffnung auf die verlockend träumerische Idee der Immunisierung.
"Durch die verfremdende Übertragung eines historisch bekannten Prozesses auf ein
gegenwärtiges, den Schülern besonders nahes Modell", heißt es in einer
Handreichung für Lehrer, "kann man Haltungsansätze und Einsichten provozieren,
die möglicherweise bewirken, daß Schüler gegenüber ,group pressure' und
Konformitätsansprüchen wachsamer, hoffentlich sogar widerstandsfähiger werden."
In dieser völlig verkrauteten Syntax, in dieser ebenso hilflosen wie penetranten
Mischung aus Bürokratie und Pädagogik verbirgt sich das ganze Elend des
wohlmeinenden Lehrers. Wer so denkt, hat dem real existierenden jugendlichen
Rechtsradikalismus nichts entgegenzusetzen. Morton Rhue - und mit ihm die
deutschen Lehrer - wollen den Abscheu vor dem jugendlichen Faschismus trainieren.
Dieser Roman jedoch ist eine Aufklärung über das Böse, die nicht damit rechnet, daß
ihr das Böse je selbst begegnen könnte. Hier wird geglaubt, daß nur das Gute
attraktiv sein kann. Das aber ist ein böser Irrtum.
THOMAS STEINFELD