PS „Wilhelm II. und Deutschlands Weg in den Ersten Weltkrieg“ Dozent: Dr. Stefan Creuzberger Sommersemester 2003 Universität Potsdam Historisches Institut Das Gottesgnadentum Wilhelms II. Thomas Fischbacher 8. Semester Geschichte / Germanistik Mittelstraße 36 14467 Potsdam Tel. 0331 / 280 09 72 [email protected] Inhaltsverzeichnis Einleitung 1- 2 1. Tradition 2 - 5 2. Religion 5 - 6 3. Opposition 6 - 14 3.1. Der Kaiser und die Kanzler 6 - 8 3.2. Der Kaiser und das Volk 8 - 10 3.3. Der Kaiser und der Mythos 10 - 12 3.4. Der Kaiser und das Parlament 13 - 14 Zusammenfassung 15 Bibliografie 16 - 18 I. Quellen 16 II. Wissenschaftliche Fachliteratur 17 - 18 Hinweis: Die Hausarbeit folgt der neuen deutschen Rechtschreibung. Einleitung Wilhelm II. trug nicht nur den Titel ‚Deutscher Kaiser’, er war zudem auch ‚von Gottes Gnaden König in Preußen usw.’. Obschon das Kaisertum eigentlich kein Amt, sondern lediglich ein vererbbarer Titel der preußischen Könige war, hatte es der Monarch verstanden, seine wenigen Befugnisse als ‚Deutscher Kaiser’ mit weit mehr Macht zu füllen, als dies der bismarcksche Geist in der Verfassung vorgesehen hatte. Wilhelm wurde daher nicht ohne Grund von der Öffentlichkeit eher als deutscher Kaiser denn als preußischer König wahrgenommen. Gleichwohl hat der Kaiser zum Befremden Vieler in zahlreichen Reden immer nachdrücklich darauf hingewiesen, dass er ein König ‚von Gottes Gnaden’ sei. In einer aufstrebenden Industrienation, die zunehmend von Wissenschaft und Technik, Parlamenten und Verfassungen, von Sozialismus und Atheismus geprägt wurde, mussten solche Äußerungen allerdings zwangsläufig irritieren. Warum betonte Wilhelm sein Gottesgnadentum derart? War es lediglich harmloser Ausdruck einer antiquierten Anschauung oder bezweckte er damit etwas Bestimmtes? An wen richteten sich seine Reden von der königlichen Gottesgnade? Welche Reaktionen gab es darauf? Und was schließlich bedeutete ‚Gnade Gottes’ überhaupt? Dies sind die Fragen, denen hier nachgegangen werden soll. Die Untersuchung beschränkt sich dabei weitgehend auf die Analyse und Bewertung der Reden Wilhelms von 1888 – 1912, wie sie seit 1897 von Johannes Penzler nicht immer wortgetreu herausgegeben worden sind1. In Ermangelung einer kritischen Edition sind deshalb alle Schlussfolgerungen aus dem genauen Wortlaut der Reden naturgemäß von Beliebigkeit getrübt. Um diesem Umstand abzuhelfen, wurde auf eine tiefergehende exemplarische Behandlung einzelner Reden verzichtet, statt dessen bilden sämtliche relevanten Stellen der betreffenden Reden die Grundlage, um die ganze Spannbreite des Themas und seiner Entwicklung über alle Jahre hin aufzuzeigen. Exemplarisch werden hingegen einige der nur schwer zugänglichen, weil weit gestreuten zeitgenössischen Reaktionen präsentiert. Zur besseren Einordnung in den historischen Kontext wurden alle Quellen dabei überwiegend in ihrer chronologische Ordnung belassen. 1 Penzler, J. (Hrsg.): Die Reden Kaiser Wilhelms II. (ab Bd. 4 hrsg. v. B. Krieger) (= Universal-Bibliothek; 3658-3660, 4548-4550, 4903-4905, 5564-5563). 4 Bde. Leipzig 1897 – 1913. In der Forschungsliteratur findet das Gottesgnadentum Wilhelms II. nur am Rande Beachtung, eine eingehende Arbeit zum Thema fehlt bislang. Die Dissertation von S. Reinhardt2 bietet eine gute Analyse einzelner Reden Wilhelms, ohne allerdings das Gottesgnadentum tiefer zu beleuchten, die Betrachtung von H. Staudinger3 geht zwar näher auf das Gottesgnadentum der Wilhelminischen Ära ein, bezieht sich dabei aber nicht auf die Reden Wilhelms II. Die Arbeiten von D. v. Pezold4 und E. Fehrenbach5 streifen das Thema ohnehin nur kurz und sind deshalb kaum ergiebig. Gleiches gilt für die überwiegend ältere Darstellungen zum Gottesgnadentum im Allgemeinen (H. v. Borch6, O. Brunner7) wie auch zur spezifisch preußischen Variante (G. C. v. Unruh8, F.-L. Kroll9), da sie zeitlich zumeist weit vor der Regierungszeit Wilhelms II. enden. Als die beste Einführung in das Thema erwiesen sich schließlich die theologisch geprägten Untersuchungen von T. Benner10 und S. Samerski11, die mit ihren zahlreichen Hinweisen auch die entscheidenden Denkanstöße für die vorliegende Arbeit gaben. 1. Tradition Gottesgnadentum bedeutet Herrschaft von Menschen über Menschen durch die Dei gratia, die göttliche Gnade12. ‚Von Gottes Gnaden’ war das preußische 2 Reinhardt, S.: „Wie ihr’s euch träumt, wird Deutschland nicht erwachen.“ Formen der Herrschaftslegitimation in ausgewählten Reden von Kaiser Wilhelm II. und Adolf Hitler. Diss. Hannover 1994. 3 Staudinger, H.: Das Wilhelminische Deutschland in der Spannung zwischen Gottesgnadentum und wissenschaftlich-technischer Weltauffassung. In: Schoeps, J. H. (Hrsg.): Religion und Zeitgeist im 19. Jahrhundert (= Studien zur Geistesgeschichte; 1). Stuttgart-Bonn 1982, S. 107 – 133. 4 Pezold, D. v.: Cäsaromanie und Byzantinismus bei Wilhelm II. Diss. Köln 1971. 5 Fehrenbach, E.: Wandlungen des deutschen Kaisergedankens 1871 – 1918 (= Studien zur Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts; 1). München-Wien 1969. 6 Borch, H. v., Das Gottesgnadentum. Historisch-soziologischer Versuch über die religiöse Herrschaftslegitimation (= Probleme der Staats- und Kultursoziologie; 9). Berlin 1934. 7 Brunner, O., Vom Gottesgnadentum zum monarchischen Prinzip. Der Weg der europäischen Monarchie seit dem hohen Mittelalter, in: Das Königtum. Seine geistigen und rechtlichen Grundlagen. Mainauvorträge 1954 (= Vorträge und Forschungen; 3). Lindau-Konstanz 1956, S. 280-305. 8 Unruh, G. C. v., Studien zum Gottesgnadentum der katholischen Majestäten und der preußischen Monarchen. Königsberg 1942. 9 Kroll F.-L., Monarchie und Gottesgnadentum in Preußen 1840 – 1861, in: Schultz, H. (Hrsg.), „Die echte Politik muß Erfinderin sein“. Beiträge eines Wiepersdorfer Kolloquiums zu Bettina von Arnim. Mit einem Vorwort von W. Frühwald. Berlin 1999, S. 131-162. 10 Benner, T.: Die Strahlen der Krone. Die religiöse Dimension des Kaisertums unter Wilhelm II. vor dem Hintergrund der Orientreise 1898. Marburg 2001. 11 Samerski, S.: Papst und Kaiser. In: Samerski, S. (Hrsg.): Wilhelm II. und die Religion. Facetten einer Persönlichkeit und ihres Umfelds (= Forschungen zur brandenburgischen und preussischen Geschichte, Neue Folge, Beiheft; 5). Berlin 2001, S. 199 – 233. 12 Eine engere Definition des Begriffes verhindert die Vielzahl unterschiedlicher, zeitgebundener, sich teils widersprechender und überschneidender Interpretationen , vgl. Flor, G., Gottesgnadentum und Herrschergnade. Über menschliche Herrschaft und göttliche Vollmacht (= Bundesanzeiger; Jg. 43, Nr.119a). Köln 1991, S. 8f. Königtum bereits seit seiner Gründung durch die Selbstkrönung Friedrichs I. im Jahre 1701. Durch die sprachliche Wendung sollte deutlich gemacht werden, dass die Hohenzollern nicht anderen weltlichen oder geistigen Herrschern die Königskrone verdankten, sondern diese alleine Kraft ihrer eigenen Fähigkeiten und eben der Gnade Gottes errungen hatten. Zum Anderen kam dadurch zum Ausdruck, dass sie sich als legitime Verwalter des göttlichen Willens auf Erden verstanden. Erstmals in eine ernste Krise geriet das Gottesgnadentum der Hohenzollern im Zuge der Revolution 1848/49, doch letztendlich erließ Friedrich Wilhelm IV. immer noch als König von Gottes Gnaden statt von Volkes Gnaden die preußische Verfassung von 1850. Allerdings war das Ansehen des Königstitels durch Revolution und Verfassungsdebatte erheblich beschädigt worden, so dass sich sein Nachfolger Wilhelm I. bei seinem Regierungsantritt 1861 entschlossen hatte, die Krönung des Jahres 1701 zu wiederholen, um zu unterstreichen, dass auch im konstitutionellen Preußen der Herrscher seine Krone allein und unmittelbar von Gott empfange13. Das Gottesgnadentum der Hohenzollern trat dabei noch einmal symbolisch zu Tage: Die Krone lag auf dem Altar der Schlosskirche, ehe sie der Monarch zur Hand nahm und sich selbst damit krönte. Dass auch sein Platz im Staat von Gott bestimmt sei, umschrieb sein Enkel Kaiser Wilhelm II. erstmals bei einem Festmahl des Brandenburgischen Provinziallandtages im Berliner Hotel Kaiserhof am 5. März 1890: „Derselbe [Wilhelm I.; d. Verf.] betrachtete Seine Stellung als eine Ihm von Gott gesetzte Aufgabe, der Er sich mit Daransetzung aller Kräfte bis zum letzten Augenblick widmete. So wie Er dachte, denke auch Ich und sehe in dem Mir überkommenen Volke und Lande ein von Gott Mir anvertrautes Pfund [...]“ Mit diesem Pfund wolle er wuchern, wer ihm dabei helfen wolle, sei ihm willkommen: „[...] diejenigen jedoch, welche sich Mir bei dieser Arbeit entgegenstellen, zerschmettere Ich.“14 Nur wenig später, am 21. April 1890, ergänzte der Kaiser dann bei einem Festmahl im Rathaus von Bremen anlässlich der Grundsteinlegung eines KaiserWilhelm-Denkmals: „[...] was erreicht worden ist, liegt vor allen Dingen daran, dass in Unserem Hause die Tradition herrscht, dass Wir Uns als von Gott eingesetzt betrachten, 13 14 Vgl. Unruh, S. 190. Penzler, I, S. 97. um die Völker, über die zu herrschen Uns beschieden ist, zu regieren und zu leiten zu deren Wohlfahrt und zur Förderung ihrer materieller Interessen.“15 Und wiederum nur einen Monat später, am 15. Mai 1890, führte Wilhelm II. bei einem Festmahl des Provinziallandtages im Börsensaale in Königsberg weiter aus: „[...] Seine Majestät der dahingegangene Kaiser Wilhelm I. [hat] das Königtum von Gottes Gnaden von neuem hier proklamiert und dort in der Schlosskirche der gesamten Welt gegenüber zum Ausdruck gebracht [...]; dieses Königtum von Gottes Gnaden, was ausdrückt, dass Wir Hohenzollern Unsere Krone nur vom Himmel nehmen und die darauf ruhenden Pflichten dem Himmel gegenüber zu vertreten haben. Von dieser Auffassung bin auch Ich beseelt, und nach diesem Prinzip bin Ich entschlossen, zu walten und zu regieren.“16 Einmal im Redeschwung, stattete sich Wilhelm bei dieser Gelegenheit sogar selbst mit den allmächtigsten, ja göttlichen Fähigkeiten aus: „[...] der König von Preußen steht so hoch über den Parteien und über dem Getriebe des Parteihaders, dass Er unentwegt auf jeden einzelnen seines Landes schauend, auch für das Wohl jedes einzelnen und jeder Provinz beflissen ist.“17 Dergleichen Äußerungen Wilhelms finden sich immer wieder. Allein die vier Bände seiner Reden - die nicht einmal die gesamte dreißigjährige Regierungszeit umfassen, sondern nur die Jahre von 1888 bis 1912 – verzeichnen insgesamt elf derartiger Einträge, hinzu kommen noch kleinere Beiträge in Sammelwerken oder Widmungen, von denen hier lediglich nur eine zur Untersuchung exemplarisch herangezogen werden konnte18. In diesen Reden sah sich Wilhelm, der Tradition seines Hauses folgend, ganz als König von Gottes Gnaden. Doch gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts, in einem zunehmend atheistischer werdenden Deutschland19, in dem sich neben der preußischen auch längst eine reichsdeutsche Verfassung etabliert hatte und die Parlamente, wenn auch noch in bescheidenem Umfange, an Macht gewonnen hatten, dürfte dies nicht nur als Anachronismus, sondern als Kampfansage aufgefasst worden sein, zumal es Wilhelm bei seiner Mission auch an Deutlichkeit nicht fehlen ließ, wenn er, wie oben erwähnt, seine Feinde zu zerschmettern drohte. Als eine erste mögliche Erklärung für das als 15 Penzler, I, S. 101. Penzler, I, S. 114. 17 Penzler, I, S. 115. 18 Das goldene Buch des deutschen Volkes an der Jahrhundertwende. Eine Überschau vaterländischer Kultur und nationalen Lebens in 76 Einzeldarstellungen aus der Feder hervorragender Fachmänner, über 1000 Bildnissen, Aussprüchen und Lebensbeschreibungen lebender deutscher Männer und Frauen und 37 Kunstbeilagen. Leipzig 1899. 19 Vgl. Staudinger, S. 111 – 116. 16 unzeitgemäß empfundene Beharren auf seiner von Gott gegebenen Stellung mag gelten, dass der in vielen Dingen höchst modern denkende Monarch mit der Betonung seines königlichen Gottesgnadentums seinen relativ machtlosen Kaisertitel aufzuwerten versuchte, indem er die Stärke und Unabhängigkeit seiner preußischen Hausmacht herausstellte. Überdies gab es für Wilhelms Gottesgnadentum auch zeitgenössische Vorbilder, wie etwa den von ihm bewunderten bayerischen König Ludwig II. Diese Argumente aber reichen zur Erklärung nur bedingt aus, weswegen zunächst die näheren Umstände der Reden analysiert werden sollen. Die jeweiligen Redeanlässe waren durchaus unterschiedlicher Natur, häufig handelte es sich um Denkmalseinweihungen, feierlich begangene Jahrestage, Manöver oder dergleichen mehr; stets ähnlich hingegen waren die Redeumstände, immer bot ein Festmahl den feierlichen Rahmen, womit die unmittelbar angesprochene Zuhörerschaft überschaubar wird und somit näher zu definieren ist. Obwohl sich der Kaiser mit seinen Reden häufiger an unterschiedlichste gesellschaftlichen Gruppierungen wandte (z. B. Kruppsche Arbeiter in Essen20 oder fürstliche Standesgenossen21), fand das Gottesgnadentum hier niemals Erwähnung. Das Thema schien offensichtlich für die Honoratioren des Landes, also für die höherrangigen Militärs, die Abgeordneten des Land- und Reichstags, die Oberbürgermeister, Stadtverordneten u.s.w. reserviert. Es wäre allerdings übereilt, in ihnen deswegen auch die eigentlich angesprochene Personengruppe zu sehen, denn Wilhelms Reden wurden zumeist im vollen Wortlaut im offiziellen „Reichsanzeiger“ oder der offiziösen „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung“ publiziert22: Die wahren Adressaten, die durch Wilhelms Reden vom Gottesgnadentum entweder überzeugt oder davon bedroht werden sollten, müssen vielmehr innerhalb der gesamten interessierten Öffentlichkeit des In- und Auslandes gesucht werden. 20 Vgl. Penzler, I, S. 117. Vgl. Penzler I, S. 116. 22 Vgl. Penzler I, S. 5. Auf diesen Veröffentlichungen beruhen hauptsächlich die von Johannes Penzler und später von Bogdan Krieger veranstaltete Sammlung seiner Reden. 21 2. Religion Wilhelms erste Äußerung zum Thema datierte vom 5. März 1890. Zehn Tage später, am 15. März 1890, wurde die von ihm initiierte Internationale Arbeiterschutzkonferenz in Berlin eröffnet. Neben der zeitlichen Nähe ist besonders erwähnenswert, dass die Konferenz unter Beteiligung des Vatikans stattfand, was bereits im Vorfeld als politischer Erfolg des Kaisers gewertet wurde23. Wilhelm war um ein gutes Verhältnis zum Vatikan außerordentlich gelegen, denn seit seinem ersten Besuch bei Papst Leo XIII. 1888 war der Kaiser überzeugt, Seite an Seite mit dem Papst dem christlichen Abendland vorzustehen24. Allen konfessionellen Hindernissen zum Trotz gehörte der Papst zum kaiserlichem Selbstverständnis des protestantischen Monarchen schlicht und einfach dazu, weil Wilhelms religiös-ideologisches Verständnis im Wesentlichen von der Rezeption des mittelalterlichen Kaisergedankens der Karolinger und Ottonen geprägt war. Das wichtigste gemeinsame Ziel von Wilhelm II. und Leo XIII. war es, Europa gegen die sozialistischen und atheistischen Ideen wieder zum Christentum zurückzubringen25, die von Wilhelm bis zum Jahr 1890 eingeleiteten Sozialreformen boten hierbei eine gute Basis zu einer Allianz von Papsttum und Deutschem Reich. Und darüber hinaus empfahl sich Wilhelm II. dem Papst im Vorfeld der Konferenz als kongenialer Partner in dieser Mission eben auch durch die Betonung seines Gottesgnadentums: Das Datum seiner ersten Äußerung war also mitnichten zufällig. 3. Opposition 3.1. Der Kaiser und die Kanzler Die Konferenz, die noch bis 29. März andauerte, wurde dann allerdings von dem Bruch zwischen Kaiser Wilhelm II. und Reichskanzler Otto von Bismarck überschattet. Seit Februar 1890 hatte sich der bereits schwelende Machtkampf zwischen Kaiser und Kanzler immer weiter zugespitzt, bis der Konflikt schließlich offen zutage getreten war und in das Abschiedsgesuch des Kanzlers vom 19. März 23 Vgl. Samerski, S. 210 – 221. Vgl. Samerski, S. 204. 25 Vgl. Samerski, S. 232. 24 und die Erteilung des Abschieds durch den Kaiser vom 20. März 1890 mündete. Es ist daher nicht völlig abwegig, Wilhelms Rede vom Zerschmettern seiner Feinde nicht als bloße, ins Leere zielende Allmachtsphantasie zu sehen, sondern sie statt dessen konkret auf Bismarck zu beziehen, wie überhaupt die drei erwähnten Reden zum Gottesgnadentum im Frühjahr 1890 auch als rhetorische Vor- und Nachbeben des Konflikts zwischen Kaiser und Kanzler zu verstehen sind. Erhärtet wird dieser Verdacht zudem durch den Umstand, dass Wilhelm sich in den darauffolgenden vier Jahren – trotz einer Vielzahl gehaltener Reden – nicht mehr zum Gottesgnadentum geäußert hat. Erst am 6. September 1894, bei einem in Königsberg gehaltenen Festmahl für die Vertreter der Provinz Ostpreußen, erklärte der Kaiser erneut: „[...] wie einst der erste König [Friedrich I.; d. Verf.] ex me mea nata corona26 sagte und sein großer Sohn seine Autorität als einen rocher de bronce27 stabilierte, so vertrete auch Ich gleich Meinem Kaiserlichen Großvater das Königtum aus Gottes Gnaden.“28 Schon im darauffolgenden Monat, am 20. Oktober 1894, entlässt Wilhelm II. den Nachfolger Bismarcks im Kanzleramt, Franz von Caprivi. Und wie schon bei Bismarck, hatte sich auch dieser Kanzlerwechsel zuvor in einer kaiserlichen Rede zum Gottesgnadentum angedeutet. Mit der Hervorhebung seine gottgegebenen Stellung erklärte sich Wilhelm also nicht nur zum weltlichen Schwert Gottes, sondern er bekam damit zugleich ein geeignetes Mittel an die Hand, die Kanzler des Deutschen Reiches abzumahnen und ihre Entlassung zu rechtfertigen. Diese Doppelfunktion deckt sich dabei mit den zwei eingangs erwähnten Bedeutungen des Begriffes „Gottesgnadentum“, nämlich erstens der Unmittelbarkeit des göttlichen Auftrages und zweitens der Unabhängigkeit des Monarchen von anderer weltlicher oder geistiger Herrschaft, wobei letzteres ins Moderne gewendet und auf Wilhelm II. bezogen nunmehr freilich heißen muss: Unabhängigkeit vom Kanzler. Blieben Wilhelms Äußerungen 1890 noch unkommentiert, so erregte hingegen die Rede von 1894 ersten öffentlichen Widerspruch. Maximilan Harden notiert hierzu in der „Zukunft“: „Wenn man die Zeitungen liest, kann man glauben, der Kaiser habe aus der Seele des Volkes gesprochen, und erst im Privatgespräch erfährt 26 Meine Krone habe ich mir selbst geschaffen; d. Verf. Felsen aus Bronze; d. Verf. 28 Penzler, I, S. 275. 27 man, welche ernste Sorgen die Rede geweckt hat.“29 Im Grunde sei das Gottesgnadentum Wilhelms nur der Versuch, Kritiker mundtot zu machen: „Will der Kaiser die Selbständigkeit des Urtheils und das Recht freier Kritik gelten lassen oder will er das alte Gottesgnadenthum wieder lebendig machen?“30. Harden skizziert in einem historischen Abriss den Begriff des Gottesgnadentums sowie dessen Wandlungen, vom demütigen Bekenntnis des Paulus, „[...] durch Gnade Gottes bin ich, was ich bin“31, über den Hochmut der weltlichen Aneignungen der Dei gratia durch die Karolinger, die dies durch ein ‚nichtiges Schattenkönigtum’ zu büßen hatten, bis hin zu Friedrich Wilhelm IV. und dem engen Zusammenhang zwischen Gottesgnadentum und Revolution. Zu den aktuellen Anmaßungen Wilhelms II. bemerkte der hellsichtige Harden schließlich: „[...] ein weit schlimmeres Schicksal könnte heute den Herrscher bedrohen, der [...] an den mystischen Wahn sich verlieren würde, er könne, er ganz allein in der gewandelten Welt, ein anderes Gottesgnadenthum wieder lebendig machen, als es in demüthigen Sinn Paulus einst träumte, der Geringste unter den Aposteln.“32 In den folgenden Jahren bis 1903 sollte sich indessen der Kaiser alles andere als demütig äußern. Beinahe ein knappes Jahrzehnt lang meldete sich Wilhelm regelmäßig zu Wort, durchschnittlich alle anderthalb Jahre fand das Gottesgnadentum explizit Erwähnung. Dies scheint eigentlich der These zu widersprechen, dass die Reden auch der Abmahnung der Kanzler oder der Rechtfertigung ihrer Entlassung gedient hätten, denn erstens amtierten lediglich zwei Kanzler im fraglichen Zeitrahmen, und zweitens bedurften eigentlich weder Chlodwig von Hohenlohe-Schillingsfürst, der das Kanzleramt von 1894 bis 1900 innehatte, noch sein Nachfolger Bernhard von Bülow der kaiserlichen Ermahnungen: Der nachgiebige Hohenlohe-Schillingsfürst litt ohnehin unter mangelnder Autorität und von Bülow entsprach die allerlängste Zeit seiner Kanzlerschaft ganz dem Willen des Kaisers, der sich von ihm begeistert zeigte: 29 Harden, M.: Von Gottes Gnaden. In: Die Zukunft, 18. September 1894, S. 488. Vgl. Harden, S. 489. 31 Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers mit Konkordanz. Bibeltext nach der revidierten Fassung von 1984. Berlin-Altenburg 31991, 1. Korinther 15,10. 32 Harden, S. 492. - Eine ähnliche Stoßrichtung findet sich bei Schwann, M.: Das Gottesgnadentum in der Geschichte. Berlin 1895, S. 28.:“Die Deutschen fürchten nichts als Gott! [...] Ewigen Krieg aber den Götzen, den Gottesgnadentümlern, in Krone und Mitra, welche sich zwischen den einzelnen Menschen und seinen Ursprung stellten und ihm und seinem Leben den Anblick und Ausblick verdunkelten, den Ausblick in den Himmel des freien, nur sich selbst gleichen Menschentums.“ 30 „Bülow soll mein Bismarck werden [...]“33. Der vermeintliche Widerspruch soll daher an den weiteren Reden Wilhelms II. überprüft werden. 3.2. Der Kaiser und das Volk Da der Monarch sich bereits seit 1890 ziemlich radikal präsentiert hatte, fanden in der Diktion seiner Reden zwar kaum Änderungen statt34, inhaltlich aber erweiterten sich Wilhelms Vorstellungen im Laufe der Zeit. Noch am 10. Mai 1896, bei einem Festmahl zum 25jährigen Gedenkfeier des Friedensschlusses 1871 im Palmengarten in Frankfurt a. M., bestand das Gottesgnadentum für Wilhelm im wesentlichen aus Pflichten des Monarchen gegenüber Gott35: „Vor allem steht Mir vor Augen der Augenblick, als er [Wilhelm I.; d. Verf.] als König von Gottes Gnaden das Zepter in der einen und das Reichsschwert in der anderen Hand nur Gott die Ehre gab und von ihm die Krone nahm. Er ist damit zum auserwählten Rüstzeug geworden und nicht bloß das, sondern auch zum Vorbilde für alle Nachkommen, dass sie nur durch ihren Gott und mit ihrem Gott etwas erreichen, der ihnen ihr Amt verliehen.“36 Doch schon bereits wenig später, am 31. August 1897 bei einem Festmahl der Provinz Koblenz anlässlich des Kaisermanövers des VIII. Armeekorps, waren die Pflichten des Fürsten nicht nur ins Riesenhafte gewachsen, sondern zudem auch unteilbar geworden: „ Er [Wilhelm I.; d. Verf.] trat aus Koblenz, wie er auf den Thron stieg, hervor als ein ausgewähltes Rüstzeug des Herrn, als welches er sich betrachtete. Uns alle, und vor allen Dingen uns Fürsten, hat er ein Kleinod wieder emporgehoben und zu hellerem Strahlen verholfen, welches Wir hoch und heilig halten mögen: das ist das Königtum von Gottes Gnaden, das Königtum mit seinen schweren Pflichten, seinen niemals endenden, stets andauernden Mühen und Arbeiten, mit seiner furchtbaren Verantwortung vor dem Schöpfer allein, von der kein Mensch, kein Minister, kein Abgeordnetenhaus, kein Volk den Fürsten entbinden kann.“37 Wilhelm erzeugte hier den Eindruck, er zähle entweder Minister, Abgeordnete und Bevölkerung oder – das ist wahrscheinlicher - sich selbst nicht mehr zur Spezies Mensch. Traurigerweise verbarg sich aber hinter diesem Ausdrucksfehler 33 Röhl, J. C. G. (Hrsg.): Philipp Eulenburgs politische Korrespondenz. Bd. 3. Boppard 1983, Nr. 1178, S. 1621. Reinhardt, S. 49. 35 So aber auch noch später, am 3. Februar 1899 bei einem Festmahl des Brandenburgischer Provinziallandtag in Berlin: „Der eine, der Hauptumstand, ist der, dass sie [die Hohenzollern] vor allen anderen Fürsten und schon zu einer Zeit, wo vielleicht dergleichen Gedanken und Gefühle noch nicht gangbar waren, die persönliche Verantwortlichkeit des Herrschers dem Himmel gegenüber fühlten und vertraten.“ Penzler, II, S. 145. 36 Penzler, II, S. 17. 37 Penzler, II, S. 61. 34 seine persönliche Meinung38. Der Kaiser bediene sich einer Sprache, die nicht mehr in Zeit und Welt passe, attestierte Bernhard von Bülow und stellte betrübt fest, dass seine Bemühungen, “[...] den Kaiser zu einer mehr der Gegenwart und den Realitäten des deutschen Denkens und Lebens angemessenen Sprechweise und Haltung zu veranlassen, bisher wenig Erfolg gehabt hatten.“39 Indessen kultivierte der Kaiser weiter das Bild eines von schweren Pflichten gebeugten Herrschers, der einsam Zwiesprache mit Gott hält und damit letztlich auch an der Unfehlbarkeit Gottes teilhabe. Von der postulierten unteilbaren Verantwortung Gott gegenüber war es dann für den Kaiser nur noch ein kleiner Schritt bis zum Umkehrschluss, dass das Königtum von Gottes Gnaden ihn somit von jeglicher Rechenschaftspflicht gegenüber den Geführten entbinde40: „Von Gottes Gnaden ist der König, daher ist er auch nur dem Herren allein verantwortlich. Er darf seinen Weg und sein Wirken nur unter diesem Gesichtspunkt wählen. Diese furchtbar schwere Verantwortung, welcher der König für sein Volk trägt, gibt ihm auch ein Anrecht auf treue Mitwirkung seiner Unterthanen. Daher muß nun Jedermann im Volk von der Überzeugung durchdrungen sein, dass er für seine Person mitverantwortlich ist für des Vaterlandes Wohlfahrt.“41 Damit sprach Wilhelm den Bürgern nicht nur längst erworbene Rechte ab, sondern degradierte sie vielmehr zu Untertanen, die widerspruchslos ihrer christlichen Gehorsamspflicht nachzukommen hatten. Der geistige Ursprung dieser Idee ist im 9. Jahrhundert zu suchen42, wieder zu finden ist er nun Anfang des 20. Jahrhunderts im Sprachgebrauch des Kaisers, bei dem z. B. Begriffe wie ‚fromm’ und ‚kaisertreu’ oder ‚deutsch’ zu Synonymen geworden waren43. Der innerhalb eines Jahrfünfts deutlich gewordene gravierende Bedeutungswandel der Gottesgnade, von der Pflicht des Herrschers hin zur Pflicht der Untertanen, lässt eine tief anti-demokratische Haltung Wilhelms II. sichtbar werden. Der Vermutung liegt sicher nahe, dass nicht mehr nur alleine die zuvor ausgemachten Adressaten, Papst und Kanzler, angesprochen werden sollten, sondern dass der 38 Vgl. Reinhardt, S. 44. Bülow, B. von: Denkwürdigkeiten. Hrsg. von F. v. Stockhammern. Bd. I . Berlin 1930 – 1931, S. 118f. 40 Vgl. Reinhardt, S. 47. 41 Das goldene Buch des deutschen Volkes an der Jahrhundertwende, ohne Paginierung vor S. 1. 42 Vgl. Reinhardt, S. 53. 43 Vgl. Schoch, R.: Das Herrscherbild in der Malerei des 19. Jahrhunderts (= Studien zur Kunst des neunzehnten Jahrhunderts; 23), München 1975, S. 195. 39 Kaiser diesen Personenkreis allmählich um Volk und Volksvertreter erweitert hatte. 3.3. Der Kaiser und der Mythos Gleichwohl behielt Wilhelm auch seine ursprünglicheren Absichten weiter im Auge, wie etwa sein Trinkspruch im Landeshaus zu Königsberg am 9. September 1901 beweist: „Um noch einmal feierlich zu betonen, dass das Königtum Preußen und, aus ihm hervorgehend, das deutsche Kaisertum in Königsberg und Ostpreußen wurzle, habe Ich Meine Reichsinsignien hierher gebracht und sie gestern an Gottes Altar stellen lassen, damit Ihre [Königin Luises] Augen sie sehen und damit der Segen Gottes von neuem auf sie herabgefleht wird, vor demselben Altar, wo einst Kaiser Wilhelm der Große stand und sich die Krone aufs Haupt setzte als diejenige, welche nur von Gott allein ihm gegeben und als von Gott allein ihm zustehend erachtet wurde.“44 Wilhelm unternahm hier den Versuch, seinen relativ machtlosen Kaisertitel durch seinen von Gott gegebenen Königstitel aufzuwerten, wobei er nicht vor einer kleinen, aber entscheidenden historischen Unwahrheit zurückschreckte: Nicht ‚Kaiser’ Wilhelm I., sondern König Wilhelm I. krönte sich 1861 aus Gottes Gnaden in der Schlosskirche zu Königsberg. Mit dem Kunstgriff aber gelang es wenigstens scheinbar, Kaisertum und Gottesgnade miteinander zu verknüpfen. Überhaupt erweist sich Wilhelm II sich als erfindungsreich, wenn es um die Stilisierung seines Großvaters Wilhelm I. geht, dem er seit 1895 beharrlich das Attribut ‚der Große’ anzuhängen pflegte45: Alle Äußerung des Kaisers versuchten den Großvater als dynamischen und entschlussfreudigen Menschen darzustellen46, unbekümmert aller geschichtlicher Realität glorifizierte ihn der Enkel wahlweise als Nationalhelden, Messias, Heiligen, Kreuzritter oder als Schutzengel47. In einem im „Grenzboten“ veröffentlichten Brief an den Admiral a. D. Hollmann hieß es beispielsweise: „Mit Vaterliebe und Interesse verfolgt er [Gott; d. Verf.] die Entwicklung des Menschengeschlechts; um es weiter zu führen und zu fördern, „offenbart“ er sich bald in diesem oder jenem großen Weisen oder Priester oder König, sei es bei 44 Penzler, III, S. 46. Vgl. die Rede vom 21. Juni 1895. In: Penzler, I, S. 307. 46 Vgl. Reinhardt, S. 33. 47 Vgl. Reinhardt, S. 37. 45 den Heiden, Juden, oder Christen. Hammurabi war einer, Moses, Abraham, Homer, Karl der Große, Luther, Shakespeare, Goethe, Kant, Kaiser Wilhelm der Große. – Die hat Er ausgesucht und Seiner Gnade gewürdigt, für ihre Völker auf dem geistigen wie physischen Gebiet nach seinem Willen Herrliches, Unvergängliches zu leisten. Wie oft hat Mein Großvater dieses nicht ausdrücklich betont, er sei ein Instrument nur in des Herrn Hand.“48 Mit der Verherrlichung seines Großvaters versuchte der Kaiser, ein Gegengewicht zu dem sich mächtig entwickelnden konservativen Bismarck-Mythos zu schaffen. Seit dem erzwungenen Rücktritt Bismarcks 1890 lag ein erdrückender Schatten auf der Regierung Wilhelms II., der mit den Predigten vom ‚Wilhelm dem Großen’ vertrieben werden sollte49. Um das Gottesgnadentum glanzvoll zu beleuchten, schossen zudem überall im Reich zahlreiche Kaiser-WilhelmDenkmäler aus dem Boden50. Wie schon zu Beginn der Neunziger Jahre, so müssen also die zumeist an Wilhelm I. gebundenen Reden vom Gottesgnadentum der Jahre 1896 – 1903 auch als Druckmittel gegen den Kanzler, oder besser gesagt gegen den Mythos des ehemaligen Kanzlers, interpretiert werden. Wenige Monate nach Bismarcks Tod 1898 wurde dieser enge Zusammenhang zwischen Kanzler, Kaiser und Gottesgnade sogar einmal selbst von dem deutlich erleichterten Kaiser in einem Brief an seine Mutter Victoria beschrieben: „Der Sturm hat sich beruhigt, die Fahne weht hoch im Winde, ein Trost für jeden ängstlichen Blick, der sich nach oben richtet; die Krone sendet ihre Strahlen durch ‚Gottes Gnade’ in Paläste und Hütten, und - verzeih’ wenn ich es sage Europa und die Welt horcht auf, um zu hören, ‚was sagt und was denkt der Deutsche Kaiser?’, und nicht, was ist der Wille seines Kanzlers!“51 Der Kampf gegen Bismarck war freilich weder mit seiner Entlassung noch mit seinem Tod beendet, was die hier zitierten Reden des Kaisers zudem noch in einem ganz anderem Sinne veranschaulichen: Keineswegs standesgemäß wurden sie nämlich von 1897 bis 1913 in der ebenso populären wie billigen und eigentlich gemeinfreien Klassikern vorbehaltenen Reihe von Reclams Universal-Bibliothek 48 Penzler, III, S. 147. Vgl. Benner, S. 99. 50 Vgl. Schoch, S. 191. 51 Zit. nach Bülow, Denkwürdigkeiten. Bd. I. Anhang ohne Paginierung. Englischer Originaltext ebenda , S. 237: „The storm has calmed, the standard waves high in the breeze, comforting every anxious look cast upward; the Crown sends its rays ‚by the grace of God’ into Palace and hut, and – pardon me if I say so – Europe and the world listen to hear, ‚what does the German Emperor say or think’ and not what is the will of his Chancellor!” 49 verlegt, weil ebenda von 1895 bis 1899 schon die Reden Bismarcks52 in dreizehn Bänden erschienen waren, die „[...] einer oppositionellen Gruppe innerhalb der herrschenden Schichten [...]“53 dienten, wie die sozialistisch angefärbte Verlagsgeschichte zu berichten weiß. Der Mythos Bismarcks aber war weit wirkungsmächtiger und langlebiger als die vergeblichen Anstrengungen des Kaisers, die heroisierte Gestalt seines Großvaters zum Symbol zu erheben, um das sich die nationalen Kräfte im Kampf gegen die erstarkte sozialdemokratische Opposition scharen sollten54. So scheiterte die Neuauflage einer bürgerlichen Sammlungspolitik ebenso wie die zeitgleichen Bemühungen, neue Sozialistengesetze zu erlassen. 3. 4. Der Kaiser und das Parlament Seit Mitte der Neunziger Jahre verfolgte Wilhelm II. mit seinen Reden von der Gottesgnade also mindestens zweierlei, sich teils ergänzende Ziele: den Mythos Bismarcks zu zerstören, um damit die Sozialdemokraten zu treffen. Die antidemokratische Stoßrichtung in Wilhelms Reden blieb zwar gewiss nicht unentdeckt, öffentlich allerdings wurde sie weitgehend nicht kommentiert. Erklärlich ist dies einerseits durch die abschreckende Wirkung der überaus zahlreichen Prozesse wegen Majestätsbeleidigung, die bei lauterem Zweifel an der göttlichen Gnade des Monarchen sicherlich angestrengt worden wären, andererseits durch die Sympathien, die der Kaiser unstrittig auch bei Sozialdemokraten besessen hatte, für die größten Teils ein Reich ohne den Kaiser lange nicht denkbar gewesen wäre. Hinzu kommt, dass Wilhelm, jedenfalls zu diesem Thema, sich in längeres Schweigen hüllte, was sicherlich auf den mäßigenden Einfluss Bülows zurückzuführen sein dürfte. Erst nach über sieben Jahren, am 25. August 1910, meldete sich der Kaiser bei einer Festtafel für die Provinz Ostpreußen anlässlich der Königsberger Kaisertage wieder zurück: „Und hier setzte sich Mein Großvater wiederum die preußische Königskrone aufs Haupt, noch einmal bestimmt hervorhebend, dass sie von Gottes Gnaden allein ihm verliehen sei und nicht von Parlamenten, Volksversammlungen und Volksbeschlüssen, und dass er sich so als auserwähltes Instrument des Himmels 52 Stein, P. (Hrsg.): Fürst Bismarcks Reden . Mit verbindender geschichtlicher Darstellung. 13 Bde. Leipzig 1895 – 1899. 53 Marquardt, H.: 100 Jahre Reclams Universal-Bibliothek 1867 – 1967. Beiträge zur Verlagsgeschichte. Leipzig 1967. S. 51. 54 Vgl. Schoch, S. 191. ansehe und als solches seine Regenten- und Herrscherpflichten verstehe.[...] Als Instrument des Herrn Mich betrachtend, ohne Rücksicht auf Tagesansichten und –Meinungen, gehe Ich Meinen Weg, der einzig und allein der Wohlfahrt und friedlichen Entwicklung unseres Vaterlandes gewidmet ist.“55 Obwohl Wilhelm damit kaum mehr als in den zurückliegenden Jahren gesagt hatte, entfachte seine Rede diesmal einen Sturm der Entrüstung und in aufgebrachten Widerreden vor Tausenden Zuhörern schlug dem Kaiser harsche Kritik entgegen. Was war geschehen? Mit der „Daily-Telegraph“-Affäre über ein kaiserliches Interview im Jahre 1908, in deren Verlauf Kanzler Bernhard von Bülow dem Reichstag versprochen hatte, Wilhelm werde sich fürderhin auch in Privatgesprächen Zurückhaltung auferlegen, hatte der Kaiser viel seines monarchischen Kapitals in der Bevölkerung verspielt. Nach Bülows Rücktritt 1909 fühlte sich Wilhelm nun nicht mehr zu weiterem Schweigen verpflichtet und hielt allein Ende August 1910 innerhalb von nur acht Tagen zehn Reden, „[...] als wollte er sich für die lange Enthaltsamkeit entschädigen“56, wie der Sozialdemokrat Hermann Wendel bissig anmerkte. Die Stimmung jener Tage charakterisierte der Abgeordnete Kopsch von der linksliberalen Freiheitlichen Volkspartei: „Das Volk hat bei früheren Reden mit dem Kopf geschüttelt, aber im großen und ganzen hat es geschwiegen.“57 Jetzt aber sei es an der Zeit, nicht nur die Reden von einer, sondern auch von der anderen Seite zu hören, denn das allgemeine Stimmrecht sei „[...] grundsätzlich bedroht durch die Lehre vom Gottesgnadentum und seine Konsequenzen.“58 Allerdings waren die Reaktionen keineswegs einheitlich, denn nicht alle Parteien fühlten sich von dem Bekenntnis Wilhelms gleichermaßen angegriffen: Besonders „[...] die konservativen Schnapphähne und die Zentrumspfaffen jauchzten der Rede sofort begeistert zu und betonten: das Gottesgnadentum ist der Fels, auf dem unsere Macht beruht, und von Parlamentsherrschaft kann in Deutschland niemals die Rede sein.“59 Dennoch war der öffentliche Druck so stark, dass der Kaiser schon vier Tage später den Versuch unternahm, seiner Königsberger Rede wenigstens die Spitze zu nehmen, indem er am 29. August 1910 bei einem Festmahl für die Provinz 55 Penzler, IV, S. 204 – 206. Wendel, H.: Hie Fleischwucher! Hie Gottesgnadentum! Rede, gehalten zu Frankfurt a. M. am 1. September 1910. 2. Ausgabe, vermehrt um das Aktenmaterial der verpufften Justizaktion. Frankfurt 1911, S. 28. 57 Gottesgnadentum und Volkspolitik. Kundgebung der Fortschrittlichen Volkspartei zu Berlin am 11. September 1910. Berlin 1910, S. 27. 58 Gottesgnadentum und Volkspolitik, S. 26. 59 Wendel, S. 28. 56 Westpreußen auf der Marienburg erklärte, er habe damit eigentlich nur sagen wollen, dass jeder ehrliche Christ von Gottes Gnaden sei60. Die Ergänzung wurde jedoch kaum als abschwächend empfunden61, und der erst für das Jahr 1911 geplante Wahlkampf war somit vorzeitig durch das kaiserliche Bekenntnis zum Gottesgnadentum unfreiwillig eröffnet worden. Die Reichstagswahlen vom Januar 1912 brachten schließlich einen kräftigen Ruck nach links; Sozialdemokraten und Fortschrittliche Volkspartei, die erklärten Gegner des Gottesgnadentums, gewannen deutlich, wohingegen die Parteien der Befürworter, Konservative und Zentrum, erheblich an Stimmen verloren. Das „Gottesgnadentum und sein Ende“62 war dies aber freilich noch nicht: Es sollte noch über den Ersten Weltkrieg hinaus dauern, ehe unter diesem Titel eine kleine Schrift erscheinen konnte, die einzig die Abdankungsurkunden Wilhelms und seiner fürstlichen Standesgenossen zum Inhalt hatte. Zusammenfassung In den Jahren von 1890 bis 1910 hat Kaiser Wilhelm II. bei zahlreichen Gelegenheiten immer wieder ausdrücklich betont, dass er König ‚von Gottes Gnaden’ sei. Weiten Kreisen der durchaus kaisertreuen Bevölkerung mutete dies in einem zunehmend von Verfassungen und Parlamenten geprägten Deutschen Reich anachronistisch an. Die kaiserlichen Bekenntnisse wurden daher zwar kopfschüttelnd, aber zunächst ohne größeren öffentlichen Widerspruch zur Kenntnis genommen. Wilhelms befremdliches Festhalten am Gottesgnadentum hatte freilich Gründe: Zum Einen setzte er damit eine Tradition der hohenzollernschen Könige fort, zum Anderen entsprach die göttliche Gnade des Monarchen seinem religiös geprägten Verständnis von Herrschaft. Zeitpunkte und Art der Äußerungen waren dabei keineswegs beliebig: Im Frühjahr 1890 empfahl sich Wilhelm über alle konfessionellen Grenzen hinweg Papst Leo XIII. als allerchristlichster Herrscher im Kampf gegen Atheismus und Sozialismus; gleichzeitig versuchte er innenpolitisch, den verfassungsgemäß relativ machtlosen Kaisertitel durch die Betonung seiner königlichen Gottesgnade aufzuwerten. Im Machtkampf mit Otto von Bismarck griff der Kaiser daher zur Formel ‚von Gottes 60 Vgl. Penzler, Reden IV, S. 211f: „So wie Mein Seliger Großvater und wie Ich Uns unter der höchsten Obhut und dem höchsten Auftrag Unseres Herrn und Gottes arbeitend dargestellt haben, so nehme Ich das von einem jeden ehrlichen Christen an, wer es auch sei.“ 61 Wendel, S. 29. 62 Gottesgnadentum und sein Ende, Dessau 1919. Gnaden’ um auszudrücken, dass er nicht wie sein Großvater Wilhelm I. von Kanzlers Gnaden regieren wolle, sondern dass er vielmehr ein persönliches Regiment zu führen gedenke. Auch die Entlassung von Bismarcks Nachfolger im Kanzleramt, Franz von Caprivi, kündigte sich 1894 durch eine derartige Rede an. Von da an erfuhren die Reden zum Gottesgnadentum allmählich eine inhaltliche Erweiterung und änderten ihre Zielrichtung: Wilhelm wandte sich mit der Formel nunmehr gegen die zunehmende Parlamentarisierung des Reiches, die ihn letztlich zu einem Herrscher von Volkes Gnaden zu machen drohte. Ausgemachte Hauptfeinde waren dem Kaiser dabei allen voran die erstarkten Sozialdemokraten, wider die er die bürgerlichen Kräfte unter der zum Symbol erhobenen Figur seines Großvaters mit den Reden von ‚Gottes Gnade’ zu sammeln versuchte. Da Wilhelm jedoch schon zuvor monarchisches Kapital verspielt hatte, misslang sein Vorhaben nicht nur und brachte ihm einen zusätzlichen Ansehensverlust und harsche öffentliche Kritik ein, sondern trieb im Gegenteil den Parteien des linken Spektrums in den Reichstagswahlen des Jahres 1912 damit noch vermehrt Wähler zu. Als Instrument einer indirekten politischen Einflussnahme war die Gottesgnade Wilhelms II. also schon gescheitert, ehe ihr Ende von der Revolution 1918 auch nominell besiegelt wurde. Bibliografie I. Quellen Die Bibel. Nach der Übersetzung Martin Luthers mit Konkordanz. Berlin-Altenburg 31991. Bülow, B. v.: Denkwürdigkeiten. Hrsg. von F. v. Stockhammern. 4 Bde. Berlin 1930 – 1931. Das goldene Buch des deutschen Volkes an der Jahrhundertwende. Eine Überschau vaterländischer Kultur und nationalen Lebens in 76 Einzeldarstellungen aus der Feder hervorragender Fachmänner, über 1000 Bildnissen, Aussprüchen und Lebensbeschreibungen lebender deutscher Männer und Frauen und 37 Kunstbeilagen. Leipzig 1899. Gottesgnadentum und sein Ende. Dessau 1919. Gottesgnadentum und Volkspolitik. Kundgebung der Fortschrittlichen Volkspartei zu Berlin am 11. September 1910. Berlin 1910. Harden, M.: Von Gottes Gnaden. In: Die Zukunft, 15.9.1894. Penzler, J. (Hrsg.): Die Reden Kaiser Wilhelms II. (ab Bd. 4 hrsg. v. B. Krieger) (= UniversalBibliothek; 3658-3660, 4548-4550, 4903-4905, 5564-5563). 4 Bde. Leipzig 1897 – 1913. Röhl, J. C. G. (Hrsg.): Philipp Eulenburgs politische Korrespondenz. 3 Bde. Boppard 1976 -1983. Schwann, M.: Das Gottesgnadentum in der Geschichte. Leipzig 1895. Stein, P. (Hrsg.): Fürst Bismarcks Reden . Mit verbindender geschichtlicher Darstellung. 13 Bde. Leipzig 1895 – 1899. Wendel, H.: Hie Fleischwucher, Hie Gottesgnadentum! Rede, gehalten zu Frankfurt a. M. am 1. September 1910. 2. Ausgabe, vermehrt um das Aktenmaterial der verpufften Justizaktion. Frankfurt 1911. II. Wissenschaftliche Fachliteratur Monographien: Benner, T.: Die Strahlen der Krone. Die religiöse Dimension des Kaisertums unter Wilhelm II. vor dem Hintergrund der Orientreise 1898. Marburg 2001. Borch, H. v.: Das Gottesgnadentum. Historisch-soziologischer Versuch über die religiöse Herrschaftslegitimation (= Probleme der Staats- und Kultursoziologie; 9). Berlin 1934. Fehrenbach, E.: Wandlungen des deutschen Kaisergedankens 1871 – 1918 (= Studien zur Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts; 1). München-Wien 1969. Flor, G., Gottesgnadentum und Herrschergnade. Über menschliche Herrschaft und göttliche Vollmacht (= Bundesanzeiger; Jg. 43, Nr.119a). Köln 1991. Marquardt, H.: 100 Jahre Reclams Universal-Bibliothek 1867 – 1967. Beiträge zur Verlagsgeschichte. Leipzig 1967. Pezold, D. v.: Cäsaromanie und Byzantinismus bei Wilhelm II. Diss. Köln 1971. Reinhardt, S.: „Wie ihr’s euch träumt, wird Deutschland nicht erwachen.“ Formen der Herrschaftslegitimation in ausgewählten Reden von Kaiser Wilhelm II. und Adolf Hitler. Diss. Hannover 1994. Schoch, R.: Das Herrscherbild in der Malerei des 19. Jahrhunderts (= Studien zur Kunst des neunzehnten Jahrhunderts; 23). München 1975. Unruh, G. C. v., Studien zum Gottesgnadentum der katholischen Majestäten und der preußischen Monarchen. Königsberg 1942. Aufsätze: Brunner, O., Vom Gottesgnadentum zum monarchischen Prinzip. Der Weg der europäischen Monarchie seit dem hohen Mittelalter, in: Das Königtum. Seine geistigen und rechtlichen Grundlagen. Mainauvorträge 1954 (= Vorträge und Forschungen; 3). Lindau u. Konstanz 1956, S. 280-305. Kroll F.-L., Monarchie und Gottesgnadentum in Preußen 1840 – 1861, in: Schultz, H. (Hrsg.), „Die echte Politik muß Erfinderin sein“. Beiträge eines Wiepersdorfer Kolloquiums zu Bettina von Arnim. Mit einem Vorwort von W. Frühwald. Berlin 1999, S. 131-162. Samerski, S.: Papst und Kaiser. In: Samerski, S. (Hrsg.): Wilhelm II. und die Religion. Facetten einer Persönlichkeit und ihres Umfelds (= Forschungen zur brandenburgischen und preussischen Geschichte, Neue Folge, Beiheft; 5). Berlin 2001, S. 199 – 233. Staudinger, H.: Das Wilhelminische Deutschland in der Spannung zwischen Gottesgnadentum und wissenschaftlich-technischer Weltauffassung. In: Schoeps, J. H. (Hrsg.): Religion und Zeitgeist im 19. Jahrhundert (= Studien zur Geistesgeschichte; 1). Stuttgart-Bonn 1982, S. 107 – 133.
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