22 Antonio Sant`Elia (1888-1916), »Die futuristische Architektur«

Antonio Sant'Elia
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Antonio Sant'Elia (1888-1916), »Die futuristische
Architektur«
Antonio Sant'Elia, in: »Manifest der futuristischen Architektur«, 11.7.1914, dt. Übers. von
Christa Baumgarth, in: dies., Geschichte des Futurismus, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt
Taschenbuch Verlag GmbH, 1966, S. 217-221 .
Die 1909 gegründete futuristische Bewegung, die Dichter, Maler, Bildhauer, Architekten,
Bühnenbildner, Musiker und Filmemacher zu ihren Mitgliedern zählte, artikulierte bereits
mit Umberto Boccionis »Manifesto tecnico della cultura futurista « (1912) und mit Filippo
Tommaso Marinettis Aufsatz »Lo splendore geometrico e meccanico delle parole in liberta « eine eigene Architekturtheorie in nuce. Ebenfalls 1914 verfasste wiederum Boccioni
ein (nie veröffentlichtes) Manifest »Architettura futurista «. Mit dem Beitritt von Antonio
Sant'Elia und mit der Publikation des von ihm unterzeichneten (aber vom Schriftsteller
Ugo Nebbia geschriebenen und von Marinetti redigierten) Manifests »L'Architettura futurista« am 1. August 1914 in der Zeitschrift Lacerba wurde die architektonische Komponente des Futurismus offiziell etabliert. Die rabiate Ablehnung sämtlicher Normen der
Vergangenheit und die Forderung einer ganz und gar neuen Baukunst. die ihre Inspiration
aus der Welt der Maschinen schöpfen müsse, entsprechen dem ideologischen Avantgardismus der futuristischen Bewegung und werden zu festen Topoi der Theorien der architektonischen Moderne. Die Zeichnungen, die der talentierte Sant'Elia in der gleichen Zeit
für sein utopisches Projekt der Citta nuova erstellte, entsprechen mit ihrer Monumentalität kaum den verbal artikulierten Forderungen nach Leichtigkeit und Kurzlebigkeit; doch
auch dieser Widerspruch wird sich in der Architekturgeschichte des 20 . Jahrhunderts
fortschreiben .
V.M.L.
Nach dem 18. Jahrhundert hat es keine Architektur mehr gegeben. Ein unglaubliches Gemisch der verschiedensten Stilelemente, mit denen man das Skelett des modemen Hauses verkleidet, wird modeme Architektur genannt. Die neue Schönheit des Zements und
des Eisens wird durch das Vorblenden kamevalesker Schmuckinkrustationen entweiht,
die weder durch bauliche Notwendigkeit noch durch unseren Geschmack zu rechtfertigen
sind und die ihren Ursprung im ägyptischen, indischen oder byzantinischen Altertum haben und in jener verblüffenden Blüte von Idiotie und Impotenz, die den Namen KLASSIZISMUS trägt.
In Italien nun werden diese architektonischen Kuppeleien aufgenommen und die raubgierige Unfähigkeit der Ausländer wird für eine geniale Erfindung , für neueste Architektur
ausgegeben. Die jungen italienischen Architekten (jene, die Originalität aus der heimlichen Konsultation von Kunstpublikationen schöpfen) lassen ihrem Talent in den neuen
Vierteln unserer Städte freien Lauf, wo ein lustiger Salat aus SpitzbogeIisäulchen, Blattwerk des 17. Jahrhunderts, gotischen Spitzbögen, ägyptischen Pfeilern, Rokokovoluten,
Quattrocento-Putten und aufgeblasenen Karyatiden allen Ernstes vorgibt, Stil zu sein,
und sich anmaßt, monumental zu wirken. Das kaleidoskophafte Erscheinen und Wiedererscheinen von Formen, die steigende Zunahme an Maschinen, das tägliche Anwachsen
von Erfordernissen, die die Schnelligkeit des Verkehrswesens , die Anhäufung von Menschen, die Hygiene und hundert andere Phänomene des modemen Lebens auferlegen,
bringen diese angeblichen Erneuerer der Architektur keinen Augenblick aus der Fassung.
Sie fahren beharrlich und stur fort , mit den Regeln von Vitruv, Vignola oder Sansovino
und mit einigen unbedeutenden Publikationen der deutschen Architektur in der Hand, das
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Abbild der Dummheit unseren Städten aufzuprägen, die doch eine unmittelbare und getreue Wiedergabe unserer selbst sein sollten.
So ist diese expressive und synthetische Kunst in ihren Händen zu einer leeren stilistischen Übung geworden, zu einem Wiederkäuen von schlecht gemischten Formeln, die
das übliche passatistische Taschenspielerstückchen aus Ziegeln und Steinen zu einem
modemen G~bäude zurechtfrisieren sollen. Als könnten wir, Akkumulatoren und Generatoren von Bewegung, mit unseren mechanischen Verlängerungen, mit dem Lärm und
der Geschwindigkeit unseres Lebens, noch in denselben Straßen leben, die von den Menschen vor vier-, fünf- oder sechshundert Jahren für ihre Erfordernisse gebaut wurden.
Dies ist die Hauptdummheit der modemen Architektur, die sich mit dem Beistand der
kommerziell orientierten Akademien immer wiederholt, diesen Zwangsaufenthalten der
Intelligenz, wo man die Jugend zum onanistischen Nachkopieren klassischer Modelle
zwingt, anstatt ihren Sinn für die Suche nach den Grenzen und der Lösung des neuen und
gebieterischen Problems aufzuschließen, das heißt: DAS FUTURISTISCHE HAUS
UND DIE FUTURISTISCHE STADT. Das Haus und die Stadt also, die geistig und materiell unser sind, in denen wir uns lärmend tummeln können, ohne als ein grotesker Anachronismus zu erscheinen.
Das Problem der futuristischen Architektur ist nicht ein Problem der veränderten Linienführung. Es handelt sich nicht darum, neue Umrisslinien, neue Fenster- und Türlösungen
zu finden, Säulen, Pfeiler und Konsolen durch Karyatiden, Fliegen oder Frösche zu ersetzen; es handelt sich nicht darum, eine Backsteinfassade nackt zu lassen , sie zu tünchen
oder sie mit Stein zu bekleiden; und auch nicht darum, formale Verschiedenheiten zwischen dem neuen und dem alten Gebäude zu bestimmen; es handelt sich darum, das futuristische Haus von Grund auf neu zu schaffen, es mit allen Hilfsmitteln der Wissenschaft und der Technik zu bauen , alle Ansprüche unserer Gepflogenheiten und unseres
Geistes auf das vornehmste zu befriedigen, alles zu zertreten, was grotesk ist und im Widerspruch zu uns steht (Tradition, Stil, Ästhetik, Proportion), um so neue Formen, neue
Linien, eine neue Harmonie der Profile und Volumen zu schaffen, eine Architektur also,
die ihre Daseinsberechtigung einzig und allein aus den besonderen modemen Lebensbedingungen zieht und die als ästhetischer Wert allein durch unsere Sensibilität bestimmt
wird. Diese Architektur kann nicht den Gesetzen der geschichtlichen Kontinuität unterliegen. Sie muss neu sein, wie unser Gemütszustand neu ist.
Die Baukunst hat sich langsam entwickeln und von einem Stil zum anderen übergehen
können, ohne dass sich dabei die allgemeinen Merkmale der Architektur geändert hätten,
weil zwar in der Geschichte durch die Mode und durch die Aufeinanderfolge religiöser
Überzeugungen und politischer Ordnungen häufig Wechsel eintreten, sich aber äußerst
selten jene Ursachen einstellen, die zu tiefgreifenden Veränderungen in den Umweltbedingungen führen, die alles aus den Angeln heben und erneuern, wie die Entdeckung von
Naturgesetzen , die Vervollkommnung der mechanischen Mittel, die rationelle und wissenschaftliche Verwendung des Materials.
Das modeme Leben hat den Prozess einer folgerichtigen stilistischen Weiterentwicklung in
derArchitektur zum Stillstand kommen lassen. DIE ARCHITEKTUR LÖST SICH VON
DER TRADITION. MAN MUSS ZWANGSLÄUFIG VON VORN ANFANGEN.
Die Berechnung der Widerstandsfähigkeit des Materials, der Gebrauch von Beton und
Eisen schließen eine im klassischen und traditionellen Sinne verstandene Architektur aus .
Die modemen Baustoffe und unsere wissenschaftlichen Kenntnisse eignen sich in keiner
Weise für die Disziplin der historischen Stile und sind der Hauptgrund für den grotesken
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Anblick aller Bauten a la mode, bei denen man mit der Leichtigkeit und der wundervollen Schlankheit der poutrelle und mit der Zerbrechlichkeit des Betons die schwere Krümmung des Bogens und den massiven Anblick des Marmors erreichen möchte.
Die ungeheuerliche Antithese zwischen der modemen und der antiken Welt wird durch
all das bestimmt, was früher nicht war. In unser Leben sind Elemente eingedrungen, deren Existenz die Alten nicht einmal geahnt haben. Materielle Bedingungen haben sich
ergeben und Geisteshaltungen sind zutage getreten , die sich in tausend Weisen auswirken. Zuallererst hat sich ein neues Schönheitsideal gebildet, das zwar noch unklar und
nicht voll entwickelt ist, dessen Zauber aber die Menge schon spürt. Wir haben den Sinn
für das Monumentale, das Schwere, das Statische verloren, und wir haben unsere Sensibilität um den Geschmack am Leichten, Praktischen, Kurzlebigen und Geschwinden bereichert. Wir fühlen, dass wir nicht mehr die Menschen der Kathedralen, der Paläste und
der Versammlungssäle sind, sondern wir sind die Menschen der großen Hotels, der Bahnhöfe, der breiten Straßen, der riesigen Tore, der überdachten Märkte, der erleuchteten
Tunnels, der schnurgeraden Autobahnen, der heilsamen Stadtsanierungen.
Wir müssen die futuristische Stadt wie einen riesigen, lärmenden Bauplatz planen und erbauen, beweglich und dynamisch in allen ihren Teilen, und das futuristische Haus wie eine gigantische Maschine. Die Aufzüge dürfen sich nicht wie einsame Würmer in die Treppenhäuser verkriechen, sondern die Treppen , die überflüssig geworden sind , müssen
abgeschafft werden, und die Aufzüge müssen sich wie Schlangen aus Eisen und Glas an
den Fassaden hinaufwinden. Dieses Haus aus Zement, Glas und Eisen, ohne Malerei und
ohne Skulpturen, das nur die angeborene Schönheit seiner Linien und seiner Formen ziert,
das außerordentlich hässlich in seiner mechanischen Einfachheit und so hoch und so breit
wie erforderlich ist, nicht wie es die Vorschriften der Baubehörde befehlen, dieses Haus
muss sich am Rande eines lärmenden Abgrundes erheben: der Straße, die sich nicht mehr
wie ein Fußteppich auf dem Niveau der Portierslogen dahinzieht, sondern die mehrere
Geschosse tief in die Erde hinabreicht, und diese Geschosse werden für die erforderlichen
Übergänge durch Metall-Laufstege und sehr schnelle Rolltreppen verbunden sein.
DAS DEKORATIVE MUSS ABGESCHAFFT WERDEN. Das Problem der futuristischen Architektur lässt sich nicht durch Anleihen von Fotografien aus China, Persien und
Japan lösen, nicht länger durch ein dummes Festhalten an den Regeln des Vitruv. Es bedarf genialer Entwürfe und einer wissenschaftlichen und technischen Erfahrung. Alles
muss revolutioniert werden. Die Dächer müssen ausgenutzt, die Kellergeschosse verwendbar gemacht werden, den Fassaden muss weniger Bedeutung zugemessen werden,
und die Probleme des guten Geschmacks müssen vom Gebiet der einzelnen Umrisslinie,
des Kapitellehens, des Türehens in das bedeutend weitere der GROSSEN MASSENGRUPPIERUNGEN , DER GROSSZÜGIGEN DISPOSITION DER GRUNDRISSE
verlagert werden. Machen wir endlich Schluss mit der Architektur des Monumentalen,
der Friedhöfe und Gedenkstätten. Werfen wir Denkmäler, Fußgängersteige, Säulenhallen
und breite Treppen über den Haufen, versenken wir die Straßen und die Plätze, und heben wir das Niveau der Städte.
ICH BEKÄMPFE UND VERACHTE:
1. die gesamte avantgardistische Pseudo-Architektur österreichischer, ungarischer, deutscher und amerikanischer Herkunft;
2. die ganze klassische, feierliche, hieratische, bühnenhafte, dekorative, monumentale,
elegante und gefällige Architektur;
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3. die Einbalsamierung, den Wiederaufbau und die Nachahmung antiker Denkmäler und
Paläste;
4 . die senkrechten und horizontalen Linien, die Formen des Kubus und der Pyramide,
die statisch, schwerfällig und drückend sind und völlig gegen unsere ganz neue Sensibilität verstoßen;
5. die Verwendung von massiven, voluminösen, dauerhaften, veralteten und kostspieligen
Baustoffen;
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UND PROKLAMIERE:
1. dass die futuristische Architektur die Architektur der Berechnung, der verwegenen
Kühnheit und der Einfachheit ist; die Architektur des Eisenbetons, des Eisens, des Glases , des Kunststoffs , der Textilfaser und aller jener Ersatzstoffe für Holz, Stein und Ziegel, mit denen man die größte Elastizität und Leichtigkeit erreichen kann;
2. dass die futuristische Architektur deshalb keine trockene Mischung von Brauchbarkeit
und Zweckdienlichkeit ist, sondern dass sie Kunst bleibt, also Synthese, Ausdruck;
3. dass die schrägen und die ellipsenförrnigen Linien dynamisch sind und auf Grund ihrer Natur eine emotive Potenz besitzen , die tausendmal größer ist als die der senkrechten
und waagerechten Linien, so dass es ohne sie keine zutiefst dynamische Architektur geben kann;
4 . dass die als Zutat zur Architektur verstandene Dekoration ein Widersinn ist und dass
ALLEIN VOM GEBRAUCH UND EINER ORIGINELLEN ANWENDUNG DES ROHEN , NACKTEN ODER GRELLBUNTEN MATERIALS DER DEKORATIVE WERT
DER FUTURISTISCHEN ARCHITEKTUR ABHÄNGT;
5. dass wir, die wir materiell und geistig künstlich sind, unsere Inspiration in den Elementen der völlig neuen mechanischen Welt finden müssen, die wir geschaffen haben und deren schönster Ausdruck, vollkommenste Synthese und wirksamste Ergänzung die Architektur sein muss, genau wie die Antike ihre Kunstinspiration aus den Naturelementen
zog;
6. dass die Architektur nicht länger die Kunst ist, die Gebäudeformen nach vorher bestimmten Kriterien anordnet;
7. dass unter Architektur die Anstrengung zu verstehen ist, frei und sehr kühn die Umwelt
mit dem Menschen in Einklang zu bringen, das heißt, die Welt der Dinge als eine direkte Projizierung der Welt des Geistes wiederzugeben;
8. dass aus einer so verstandenen Architektur keine gewohnheitsmäßige Form- und Linienführung entstehen kann , denn die Grundeigenschaften der futuristischen Architektur
werden Hinfälligkeit und Vergänglichkeit sein. DIE HÄUSER WERDEN KURZLEBIGER SEIN ALS WIR. JEDE GENERATION WIRD SICH IHRE EIGENE STADT
BAUEN MÜSSEN . Diese ständige Erneuerung der architektonischen Umwelt wird zum
Sieg des FUTURISMUS beitragen, der sich bereits mit den BEFREITEN WORTEN,
DEM BILDNERISCHEN DYNAMISMUS, DER MUSIK OHNE QUADRATUR UND
DER KUNST DER GERÄUSCHE durchgesetzt hat und für den wir pausenlos gegen die
passatistische Feigheit kämpfen.