Keine Zwangsmitgliedschaft in Pflegekammern

Der Vorsitzende
des Petitionsausschusses
Abgeordnetenhaus von Berlin, Petitionsausschuss, 10111 Berlin
An die Einsenderinnen und Einsender
der Petition
„Keine Zwangsmitgliedschaft
in Pflegekammern“
Geschäftszeichen
Bearbeiter(in)
Zimmer
Telefon (030) 2325 -
Telefax (030) 2325 -
Datum
5668/17
Frau Rolle
A 002
1473
1478
07.01.2016 / Ro
Sehr geehrte Damen und Herren,
die Mitglieder des Petitionsausschusses des Abgeordnetenhauses von Berlin haben die obengenannte Eingabe, mit der Sie die beabsichtigte Einrichtung einer Pflegekammer mit verpflichtender Mitgliedschaft kritisiert haben, erneut beraten. Mit diesem Schreiben möchten
wir nunmehr alle Einsenderinnen und Einsender der Eingabe über die von uns im Rahmen
unserer Ermittlungen gewonnenen Erkenntnisse informieren.
Mit Ihren Zuschriften hatten Sie bemängelt, dass die Ihnen als Initiatoren bekannten Pflegeverbände nur eine sehr kleine Minderheit der in Pflegeberufen Beschäftigten vertreten. In der
geplanten Verpflichtung zur Mitgliedschaft und Beitragszahlung sehen Sie einen unzulässigen
staatlichen Eingriff in Ihre persönlichen und beruflichen Interessen.
Das Abgeordnetenhaus von Berlin hatte sich schon im vergangenen Jahr mehrfach mit der
Thematik befasst. Über die Parlamentsdokumentation im Internetangebot des Abgeordnetenhauses können Sie hierzu beispielsweise die beiden schriftlichen Anfragen des Abgeordneten
Herrn Dr. Wolfgang Albers (LINKE) von Februar bzw. April 2014 (Drucksachen 17/13 211
und 17/13 550) einsehen. Geben Sie dazu die Nummer der Drucksache in die Suchfunktion
ein. Auch im Plenum und im zuständigen Fachausschuss für Gesundheit und Soziales wurde
das Thema im Herbst 2014 behandelt.
In einer detaillierten Stellungnahme zu den hier vorliegenden Eingaben hat die Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales ausführlich den Stand der Entwicklung dargelegt und insbesondere zur Verfassungsmäßigkeit verschiedene Gesichtspunkte erläutert.
Soweit Sie die fehlende Repräsentation der Pflegenden bemängelt haben, hat die Senatsverwaltung dargelegt, dass es unzutreffend sei, dass es sich bei den Plänen für die Errichtung
einer Pflegekammer lediglich um den Vorstoß einiger privater, nicht repräsentativer Verbände
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-2handele. Die Diskussion werde bereits seit einigen Jahren auf breiter Ebene bundesweit geführt. Zutreffend sei vielmehr, dass bislang nur ein geringer Prozentsatz der Pflegenden überhaupt organisiert sei, was letztlich zu einer mangelnden Interessensvertretung führe. Der Einfluss dieser Berufsgruppe stehe ihrer Größe und Bedeutung diametral entgegen.
Allerdings hat die Senatsverwaltung durchaus eingeräumt, dass die Frage der Verfassungsmäßigkeit einer Zwangsmitgliedschaft mit Beitragszahlung nach wie vor umstritten sei. Das
Bundesverfassungsgericht habe 1962 die Zwangsmitgliedschaft in einer Kammer (IHK) als
zulässig erachtet und in den folgenden Jahre Verfassungsbeschwerden zu dieser Frage nicht
angenommen. In der Begründung eines Nichtannahmebeschlusses 2001 hätten die Karlsruher
Richterinnen und Richter an der Verfassungsmäßigkeit einer Zwangsmitgliedschaft festgehalten:
„Voraussetzung für die Errichtung eines öffentlich-rechtlichen Verbands mit Zwangsmitgliedschaft ist, dass der Verband legitime öffentliche Aufgaben erfüllt. Damit sind Aufgaben
gemeint, an deren Erfüllung ein gesteigertes Interesse der Gemeinschaft besteht, die aber weder allein im Wege privater Initiative wirksam wahrgenommen werden können noch zu den
im engeren Sinn staatlichen Aufgaben zählen, die der Staat selbst durch seine Behörden
wahrnehmen muss. Bei der Einschätzung, ob diese Voraussetzungen vorliegen, kommt dem
Staat ein weites Ermessen zu.
Die Änderung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, zum Beispiel
die Änderung der Struktur von den in den Kammern zusammengefassten Unternehmen und
die Entwicklung des Verbandswesens im entsprechenden Bereich, verlangt vom Gesetzgeber
allerdings die ständige Prüfung, ob die Voraussetzungen für eine öffentlich-rechtliche
Zwangskorporation noch bestehen.“
Der Staat dürfe also öffentlich-rechtliche Verbände nur schaffen, um legitime öffentliche
Aufgaben wahrnehmen zu lassen. Diese öffentlich-rechtlichen Körperschaften müssten in
ihrer Organisation auch im Übrigen in formeller und materieller Hinsicht mit dem Grundgesetz zu vereinbaren sein. Die grundgesetzliche Ordnung setze der Verleihung und Ausübung
von Satzungsgewalt bestimmte Grenzen. Der Gesetzgeber dürfe einen bestimmten Kreis von
Bürgern – innerhalb eines von vornherein durch Wesen und Aufgabenstellung der Körperschaft begrenzten Bereichs – ermächtigen, durch demokratisch gebildete Organe ihre eigenen
Angelegenheiten zu regeln. Der Gedanke der Selbstverwaltung und die Verleihung von Satzungsautonomie hätten ihren guten Sinn darin, gesellschaftliche Kräfte zu aktivieren und den
entsprechenden gesellschaftlichen Gruppen die Regelung solcher Angelegenheiten, die sie
selbst betreffen und die sie in überschaubaren Bereichen am sachkundigsten beurteilen können, eigenverantwortlich zu überlassen und dadurch den Abstand zwischen Normgeber und
Normadressat zu verringern. Außerdem solle die besondere Sachkunde der Betroffenen genutzt werden. Schließlich sei die Selbstverwaltung darauf angelegt, eine gesetzlich angeordnete Zwangsmitgliedschaft durch Beteiligungsrechte zu kompensieren.
Eine Vereinigung ohne Zwangsmitgliedschaft würde kein gleich geeignetes Mittel darstellen.
Denn nur die Pflichtmitgliedschaft sichere eine von Zufälligkeiten der Mitgliedschaft und
Pressionen freie, umfassende Ermittlung, Abwägung und Bündelung der maßgeblichen Interessen, die erst eine objektive und vertrauenswürdige Wahrnehmung des Gesamtinteresses
ermögliche (vgl. nur BVerfG, Beschluss vom 19.12.1962 - 1 BvR 541/57 - juris). Schließlich
werde eine Pflichtzugehörigkeit auch nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im
engeren Sinne verstoßen. Sie bedeute als solche keine erhebliche, die Grenze des Zumutbaren
-3überschreitende Beeinträchtigung der Handlungsfreiheit der Mitglieder. Diese genössen die
Vorteile der Mitgliedschaft, die insbesondere darin lägen, dass die Kammer ihre gesetzlichen
Aufgaben erfülle. Die Erfüllung der Aufgaben komme den Kammermitgliedern zugute, deren
Gesamtbelange die Kammer zu wahren und zu fördern habe. Nicht erforderlich sei insoweit,
dass sich der Nutzen dieser Tätigkeit bei dem einzelnen Mitglied in einem unmittelbaren wirtschaftlichen Vorteil messbar niederschlage (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.07.1998, 1 C 32/97juris).
Das Bundesverfassungsgericht habe sich im Rahmen von zwei Verfassungsbeschwerden (hinsichtlich der Zwangsmitgliedschaft) im vergangenen Jahr abermals mit dieser Frage befasst
und die Verfassungsbeschwerden verschiedenen Ministerien, Länderregierungen und Verbänden zur Stellungnahme vorgelegt. Der Presse sei zu entnehmen, dass die Mehrzahl der Befragten sich für die Nichtannahme der Verfassungsbeschwerden ausgesprochen haben sollen.
Eine Entscheidung stehe noch aus (Stand Januar 2015).
Obgleich zwischenzeitlich verschiedene Gutachten zur Frage der rechtlichen Zulässigkeit
einer Pflegekammer erstellt worden seien, sei noch keine Abhandlung zu dem Ergebnis der
Unzulässigkeit gekommen.
Darüber hinaus könne nach Ansicht der Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales erwartet werden, dass aufgrund der in anderen Bundesländern bereits weiter fortgeschrittenen Bemühungen zur Errichtung von Pflegekammern gegen die Mitgliedschaft gerichtlich vorgegangen und damit die Zulässigkeit oder Unzulässigkeit einer solchen Pflichtmitgliedschaft
gerichtlich festgestellt werde.
Abschließend hat die Senatsverwaltung versichert, dass den Pflegenden keine Kammer übergestülpt werden solle, die sie nicht haben wollten, und in diesem Zusammenhang auf eine
zum Zeitpunkt der Stellungnahme im Januar 2015 noch laufende Studie zur Akzeptanz einer
Pflegekammer in Berlin verwiesen, mit der der Grad der Zustimmung der Berufsgruppe erfragt werden sollte. Die Studie war von der Senatsverwaltung gefördert worden und sollte
über die Möglichkeiten und Grenzen einer Pflegekammer informieren und einen Austausch
darüber herstellen. An der Befragung sollten mindestens 1000 Pflegefachpersonen mit einer
dreijährigen Ausbildung in der ambulanten und stationären Versorgung aus den Fachgebieten
Altenpflege, Gesundheits- und Krankenpflege, Gesundheits- und Kinderkrankenpflege sowie
der psychiatrischen Pflege befragt werden.
Wie Sie sicherlich bereits der Parlamentsdokumentation auf der Internetseite des Abgeordnetenhauses von Berlin oder den Berliner Medien entnommen haben, wurde am 14. April 2015
das Ergebnis der zum 31. März 2015 abgeschlossenen Studie zur Akzeptanz einer Pflegekammer in Berlin von der Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales im Roten Rathaus
präsentiert. Danach hatte sich eine Mehrheit der Befragten für die Einrichtung einer Pflegekammer ausgesprochen. Die Ergebnisse der Studie wurden anschließend auch im Fachausschuss des Abgeordnetenhauses diskutiert. Im Rahmen einer Anhörung vor dem Ausschuss
hatten am 15. Juni 2015 Vertreterinnen und Vertreter verschiedener Einrichtungen und Verbände die Möglichkeit, sich zum Thema zu äußern. Sowohl das Wortprotokoll der Anhörung
als auch die Stellungnahmen, die von den Anzuhörenden vorgelegt wurden, können Sie im
Internetangebot des Abgeordnetenhauses unter den Vorgängen des Ausschusses für Gesundheit und Soziales zur Vorgangsnummer 0247 aufrufen.
-4Am 18. August 2015 hatten wir Ihre Eingabe ein weiteres Mal beraten und beschlossen, diese
dem Ausschuss für Gesundheit und Soziales zuzuleiten, verbunden mit der Bitte, Ihr Anliegen
bei den weiteren Ausschussberatungen zum Thema Pflegekammer angemessen zu berücksichtigen. Dabei hatten wir auch darauf hingewiesen, dass hier über 200 gleichlautende Eingaben vorliegen.
In der 67. Sitzung des Ausschusses für Gesundheit und Soziales am 16. November 2015 hat
der Staatssekretär der Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales, Herr Dirk Gerstle, zum
aktuellen Stand der Vorbereitungen zur Einrichtung einer Pflegekammer in Berlin mitgeteilt,
dass sich die Senatsverwaltung derzeit noch immer im internen Entscheidungsprozess zur
weiteren Vorgehensweise befinde; ein Gesetzentwurf sei derzeit noch nicht in Vorbereitung.
Inzwischen liegt dem Abgeordnetenhaus von Berlin ein neuer Antrag der Fraktion Die Linke
vom 26. November 2015 „Keine Pflegekammer in Berlin – keine Spielwiese für Pflegefunktionäre“ vor (Drucksache 17/2593). Damit wird deutlich, dass die Problematik weiterhin im
Fokus der Abgeordneten und die politische Diskussion in dieser Frage noch nicht abgeschlossen ist.
Nach unserer Einschätzung ist die grundsätzliche Kritik an der Einrichtung einer Pflegekammer mit verpflichtender Mitgliedschaft im Laufe der Beratungen, insbesondere durch die Anhörung von Kritikern und Befürwortern im Fachausschuss, gebührend gewürdigt worden. Ob
diese sich letztlich gegen die Pläne des Senats wird durchsetzen können, bleibt abzuwarten.
Sofern zu gegebener Zeit tatsächlich ein entsprechender Gesetzentwurf in das Abgeordnetenhaus von Berlin eingebracht wird, werden im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens sicherlich auch die unterschiedlichen Positionen erneut eingehend diskutiert werden.
In Anbetracht des aktuellen Sachstands und der großen Unsicherheit über den weiteren zeitlichen Verlauf sehen wir derzeit keine weitere Möglichkeit, für Sie tätig zu werden.
Die Bearbeitung Ihrer Eingabe haben wir daher nunmehr abgeschlossen; für das uns entgegengebrachte Vertrauen bedanken wir uns.
Mit freundlichen Grüßen
Andreas Kugler