Das Kunstwerk des Monats November 2015

Mit dem neuen Blick auf die Welt und der Entdeckung der
modernen Freizeitkultur für die Kunst rückte das Meer nun
endlich in den Fokus Liebermanns, der mit wachsender
Das Kunstwerk des Monats November 2015
Max Liebermann, In den Dünen, um 1890
Begeisterung am Strand arbeitete und mit dem Bild Badende Knaben – Jungen in Zandvoort von 1896 den Grundstein
für ein eigenes Farb- und Formenkonzept in der Darstellung
der See legte.8 Kurz vor der Jahrhundertwende erweiterte er
seine Strandmotive um Reiterbilder, die er vornehmlich im
südholländischen Noordwijk malte. Hier entstand 1909 auch
die Ölstudie Reiter am Strand, die im Frühjahr 1914 für den
Max Liebermann: Karre in den Dünen, 1900, Kaltnadelradierung auf Japanpapier, 17,7 x 23,7 cm / 33,6 x 41 cm, signiert und nummeriert „Schiefler 50 III
b 1“
Oldenburger Galerieverein erworben und vom Landesmuseum
1941 an Hildebrand Gurlitt verkauft wurde.9
In der Betrachtung der frühen Nordseelandschaften Liebermanns fällt auf, dass er seiner Faszination für die Küste zum
Trotz das Meer viele Jahre motivisch mied, es nicht einmal
andeutete, sondern es der Vorstellung des Betrachters
überließ. Womöglich musste sich der junge und ambitionierte Naturalist erst einen eigenen künstlerischen Zugang
zu diesem Motiv erarbeiten, das durch die Romantik und
die französische Salonmalerei besetzt war.7 Der Impressionismus und die Freilichtmalerei bewirkten Mitte der 1890er
Jahre einen deutlichen Wandel in der Malerei des Berliner
Künstlers, die nun auffallend heller und leichter wurde.
Max Liebermann: Karre in den Dünen, 1889, Öl auf Leinwand, 50 x 64,5 cm.
Staatsgalerie Stuttgart,
Vgl. Fass, in: Faass, 2011, S. 20.
Vgl. ebd., S. 17f.
9
Heute befindet sich die Ölstudie im Buchheim Museum in Bernried
7
8
Literatur:
Gustav Schiefler: Max Liebermann. Sein Graphisches Werk. The Graphic Work. 1876 –
1923, 4. Erweiterte Auflage, San Franzisco 1991
Der Kunstverein in Bremen (Hrsg.): „Nichts trügt weniger als der Schein“. Max
Liebermann der deutsche Impressionist, Katalog zur Ausstellung, Kunsthalle Bremen,
München 1995
Ralph Melcher: Max Liebermann. Zeichnen heißt weglassen – Arbeiten auf Papier,
Katalog zur Ausstellung, Saarlandmuseum Saarbrücken, Stiftung Saarländischer Kulturbesitz, Ostfildern-Ruit 2004
Waanders Uitgevers, Heide Grape-Albers, Michel van Maarseveen (Hrsg.): Max Liebermann und die Holländer, Katalog zur Ausstellung, Niedersächsisches Landesmuseum
Hannover / Drents Museum, Assen / Waanders Uitgevers, Zwolle, Zwolle 2006
Martin Faass (Hrsg.): Max Liebermann am Meer. Eine Ausstellung der Liebermann-Villa
am Wannsee, Berlin, Katalog zur Ausstellung, Liebermann-Villa, München 2011
Landesmuseum für Kunst und
Kulturgeschichte Oldenburg
Niedersächsische Landesmuseen Oldenburg
Schloss - Augusteum - Prinzenpalais
Damm 1, 26135 Oldenburg
Telefon (04 41) 220 73 00
Fotos: Sven Adelaide, Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg
Fax (04 41) 220 73 09
[email protected]
www.landesmuseum-oldenburg.niedersachsen.de
Schloss - Augusteum - Prinzenpalais
Das Kunstwerk des Monats November 2015
Max Liebermann: In den Dünen, um 1890
Kaltnadelradierung, 13,2 x 17,8 cm / 28,7 x 39,5 cm
völkerung zugewandt hatte und seinem Freund Liebermann
die nur selten eigenständig waren und in der Regel malerische
das Leben der Netzflickerinnen und Kartoffelbuddler näher
Motive und Kompositionsgedanken fortführten.6 Erst gegen
brachte.
Ende der 1890er Jahre gelang es dem Berliner Künstler, sein
Aus zahllosen Skizzen und Beobachtungsstudien komponier-
graphisches Werk im Zuge seiner künstlerischen Neuorientie-
Inv. 13.002b
te Liebermann über einen Zeitraum von mehr als 20 Jahren
rung von der Malerei zu emanzipieren. Die hier vorgestellte, in
Provenienz: Grafiksammlung Gertrud und Georg Lieber, Leipzig
eine Fülle an Ölbildern, Zeichnungen und Grafiken, die ohne
klaren Hell- und Dunkelkontrasten komponierte Kaltnadelra-
jede Sentimentalität oder Romantisierung das einfache und
dierung zeigt einen leicht gewundenen, sandigen Pfad, der sich
entbehrungsreiche Leben der Küstenbewohner spiegeln, die im
durch die karge Dünenlandschaft der holländischen Nordsee-
engen Einklang mit der Natur ihren Handwerken und Traditio-
küste zieht und sich am Horizont in der endlos scheinenden
nen nachgehen. Eindrucksvolle Beispiele sind die Gemälde Alte
Ebene verliert. Lediglich ein paar Dünengräser und Strandhafer,
der Bestände der Klassischen Moderne, die durch die nationalsozialistische Beschlagnahmeaktion von 1937 drastisch dezimiert
Frau mit Ziegen (1889), Frau mit Geißen in den Dünen (1890),
ein Sanddorn- oder Weidenbusch und die leichten Erhebungen
worden waren. Eine der wichtigsten Erwerbungen der Nachkriegszeit war die Grafiksammlung Gertrud und Georg Lieber, die ex-
Kartoffelbuddler in den Dünen von Zandvoort (1891), Dünen mit
aus Sand, die vom Wind angeweht und abgelagert wurden,
quisite Arbeiten des 18., 19. und 20. Jahrhunderts beinhaltete und in den Jahren 1964 und 1969 für die Grafische Sammlung des
Bauer und grasenden Ziegen (1895), In den Dünen (1896) und
kennzeichnen die Weißdünen dieser Küstenregion, deren Wei-
Landesmuseums erworben werden konnte. Die hier vorgestellte Kaltnadelradierung In den Dünen von Max Liebermann gehörte
Die Netzflickerinnen (1887/89) oder grafische Darstellungen
te durch den hoch angelegten Horizont betont wird. Die freie
zum ersten Konvolut des Ankaufs und zählt heute zu den Meisterblättern der Oldenburger Galerie Neue Meister.
des Themas wie die Kaltnadelradierung Karre in den Dünen
Fläche wird zu einem gestaltenden Bildelement und avanciert
(1900). Die außerordentliche Zuneigung zu den Menschen und
zum wesentlichen Bedeutungsträger. Der durch feine Linien
Text: Marcus Kenzler
Nach Ende des Zweiten Weltkriegs war das Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg bestrebt, die Sammlungsprogrammatik aus der Zeit vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten fortzusetzen. Besonderes Interesse galt dem Ausbau
Der am 20. Juli 1847 in Berlin geborene Max Liebermann
ebenso verloren, wie München oder das pulsierende Paris,
die Achtung vor ihrer Lebensleistung brachte er vor allem in
komponierte, sichtlich bewegte Himmel lässt imposante
(1847–1935) hatte bereits während seiner Schulzeit privaten
denn ihn interessierte nun das Erleben und authentische
Form würdevoller Charakterdarstellungen zum Ausdruck. In
Wolkenformationen und den frischen Seewind erahnen, das
Mal- und Zeichenunterricht erhalten und 1868 ein Studium
Wiedergeben von Natur und einfacher Arbeit: „Nur wer
einem Brief an seinen Bruder Felix bekannte Liebermann 1879:
Meer selbst erfährt jedoch keine motivische Erwähnung, es
an der Großherzoglich-Sächsischen Kunstschule in Weimar
die Natur als ein Lebendiges empfindet, kann sie lebendig
„Es ist der beste Menschenschlag, den ich kenne.“
bleibt in der Ferne verborgen. Die windgeformte und durch
begonnen. Künstlerische Inspiration fand er in den Bildern
darstellen, und nur der ist ein Künstler“3, resümierte er Jahre
ständige Veränderung geprägte Landschaft, die in stiller und
des ungarischen Realisten Mihály von Munkácsy und in den
später. Besonders die Dünen der Küstenregionen dienten Lie-
rauer Schönheit kraftvoll und unbeugsam erscheint, vermittelt
Werken der französischen Maler Jean-François Millet, Fran-
bermann als künstlerische Inspiration und er unternahm bei
ein divergentes Bild: Die friedvolle Ruhe dieser Szene erzeugt
çois Daubigny und Gustave Courbet. Tatsächliche Vorbilder
jedem Aufenthalt ausgedehnte Wanderungen, um persönli-
eine nahezu kontemplative Stimmung, sie lässt das charakte-
waren indes die niederländischen Meister des Goldenen
che Eindrücke zu sammeln und Skizzen anzufertigen.
ristische Rauschen des Meeres und das Kreischen der Möwen
4
Zeitalters wie Rembrandt oder der Portraitspezialist Frans
hörbar werden und versetzt den Betrachter in die Rolle eines
Hals, deren Gemälde den jungen Kunststudenten im Mai
Wanderers, der wie Liebermann gedankenversunken durch
1871 zu seiner ersten Reise in die Niederlande veranlassten.1
die Natur streift. Dagegen vermittelt die einförmige Weite
Er besuchte Amsterdam und Den Haag und erkundete die
der Landschaft auch den Eindruck einer melancholischen
Küstenregionen, in denen er sich alsbald heimisch fühlte und
Weltabgewandtheit und Einsamkeit, der durch die nüchterne
die zum bevorzugten Sujet seines Frühwerks werden sollten.
Darstellung des Bildpersonals noch gesteigert wird. In einer
unpathetischen Momentaufnahme, die als Folie sowohl für
Insbesondere die Lebens- und Arbeitswelt der Landbevöl-
Max Liebermann: Dünen mit Bauer und grasenden Ziegen, 1895, Öl auf Malkarton, 25 x 33,5 cm, signiert und datiert „M. Liebermann 95“.
kerung beeindruckte ihn nachhaltig und so unternahm er ab
verbundenheit der bäuerlichen Existenz zu verstehen ist, zeigt
1872 jährliche Studienreisen an die holländische Nordseeküste, lebte in den kleinen, vorindustriell geprägten Fischer-
„Mit Vorliebe gibt er die Dünen. Er zeichnet sie hell im weißen
Mittagslicht oder düster unter einem schweren Regenhimmel.
Menschenverlassen oder noch einsamer wirkend durch eine
menschliche Figur oder eine daherschwankende Bauernkarre
[…].“5
und Bauerndörfern Scheveningen, Katwijk, Noordwijk und
Zandvoort, die sich zu dieser Zeit noch nicht zu den späteren
die Beschwerlichkeit körperlicher Arbeit als auch die Natur-
Max Liebermann: Kartoffelbuddler in den Dünen von Zandvoort, 1891, Öl auf
Leinwand, 75 cm x 105 cm. Germanisches Nationalmuseum, Inv. Nr. Gm1747
mondänen Strandbädern entwickelt hatten, und studierte
Liebermann zwei sichtlich bepackte Landarbeiter in Rückansicht, einen Mann mit einem Sack über der Schulter und vor
ihm eine Frau mit Kiepe, die dem schmalen Weg durch die Dünen folgen. Beide wirken voneinander abgewandt und isoliert,
den einfachen Arbeitsalltag der Menschen inmitten der kar-
Begleitet wurde er schon bald von dem niederländischen Ma-
Das Oldenburger Blatt In den Dünen entstand um 1890 und
doch sind sie untrennbar mit ihrem Lebens- und Arbeitsraum
gen, für ihn aber berauschenden Natur.2 Die niederländischen
ler Jozef Israëls, einem der bedeutendsten Maler der Haager
reiht sich nahtlos in den formalen und inhaltlichen Kanon der
verbunden, in welchem sie eine kollektive Arbeitsgemeinschaft
Kunstzentren hatten ihre Anziehungskraft für Liebermann
Schule, der sich in seinem Schaffen ebenfalls der Landbe-
holländischen Nordseelandschaften ein. Unverkennbar zählt
bilden, die im wahrsten Sinne des Wortes auf dasselbe Ziel
es zu den frühen druckgrafischen Ausführungen Liebermanns,
zusteuert.
Vgl. Margreet Nouwen: Über die Dünen an die See – Max Liebermanns Weg zum Meer, in: Martin Faass (Hrsg.): „Max Liebermann am Meer. Eine Ausstellung der
Liebermann-Villa am Wannsee, Berlin“, Katalog zur Ausstellung, Liebermann-Villa, München 2011, S. 34.
2
Vgl. Katharina Erling: Max Liebermann – Biographie, in: Der Kunstverein in Bremen (Hrsg.): „‚Nichts trügt weniger als der Schein‘. Max Liebermann der deutsche
.Impressionist“, Katalog zur Ausstellung, Kunsthalle Bremen, München 1995, S. 239.
3
Max Liebermann. Hundert Werke des Künstlers zu seinem 80. Geburtstage, Katalog zur Ausstellung, Akademie der Künste, Berlin 1927, zitiert nach: Fass: „Max Liebermann am Meer – Annäherung an ein problematisches Motiv“, in: Faass, 2011, S. 13.
1
Max Liebermann an seinen Bruder Felix Liebermann, 1879, zitiert nach: Nouwen, in: Faass, 2011, S. 37.
Erich Hancke, 1914, zitiert nach: Nouwen, in: Faass, 2011, S. 41.
Vgl. Kathrin Elvers-Švamberk: „Denn in aller Kunst muss sich aus der Form erst der Gedanke entwickeln“. Zur Druckgraphik von Max Liebermann, in: Ralph Melcher: „Max
Liebermann. Zeichnen heißt weglassen – Arbeiten auf Papier“, Katalog zur Ausstellung, Saarlandmuseum Saarbrücken, Stiftung Saarländischer Kulturbesitz, OstfildernRuit 2004, S. 94.
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