Hansjörg Günther Umwege in eine achtsame Moderne

Hansjörg Günther
Umwege in eine achtsame Moderne
Hansjörg Günther
Umwege in eine
achtsame Moderne
Die Großstadt im Fokus von Soziologie,
Stadtkritik und deutschem Katholizismus
Ferdinand Schöningh
Umschlagabbildung:
Rudolf Schwarz, Stufenbau (um 1923/24), Pastell. Privatbesitz.
© Maria Schwarz, Köln
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© 2015 Ferdinand Schöningh, Paderborn
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Internet: www.schoeningh.de
Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München
Printed in Germany
Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn
ISBN 978-3-506-77772-0
Meinen Eltern zur Goldenen Hochzeit
INHALT
VORWORT ..................................................................................................
11
1
13
13
ZUM ZUSAMMENHANG VON KATHOLIZISMUS UND MODERNE..........
Großstadt, Moderne und Katholizismus im Paradigmenwechsel ........
Der Zusammenhang von Katholizismus und Moderne als
Methodenfrage ....................................................................................
Zum Forschungsstand .........................................................................
Zur Arbeit mit den Quellen .................................................................
2
MODERNE, AMBIVALENZ UND AMBIVALENTE MODERNITÄT ............
33
2.1 Aus der Gründerzeit der deutschen Soziologie..........................
33
2.2 Einwirkungen der Kulturkritik auf die Grundlagen der
deutschen Soziologie .................................................................
42
2.3 Sozialwissenschaftliche Theoretisierungsversuche
der Moderne ...............................................................................
47
2.3.1 Max WEBER (1864-1920) – Protestantische Ethik und
Rationalisierung.......................................................................
2.3.2 Werner SOMBART (1863-1941) – Die Entwicklung des
modernen Kapitalismus ...........................................................
2.3.3 Georg SIMMEL (1858-1918) – Formen der
Vergesellschaftung und ihre Wechselwirkung ........................
3
18
26
29
47
52
55
DAS WERDEN DER GROSSSTADT .......................................................
61
3.1 Die mittelalterliche Stadt als Markt bei Max WEBER ................
62
3.2 Das Entstehen der kapitalistischen Stadt
bei Werner SOMBART ................................................................
68
3.3 Phänomene der Verstädterung ...................................................
3.3.1 Bevölkerungswachstum ...........................................................
3.3.2 Wanderungsbewegungen .........................................................
3.3.3 Städtewachstum, Eingemeindung und Citybildung .................
3.4 Spannungsfelder im Urbanisierungsprozess ..............................
3.4.1 Die Großstadt und ihre sozialen Probleme ..............................
77
80
86
94
97
99
8
INHALT
3.4.2 Wohnungselend, Wohn(re)formen und Wohnungspolitik .......
3.4.3 Stadtutopien, Gartenstadtbewegung und
die Entwicklung des Massenverkehrs ......................................
3.4.4 Pathographien der Großstadt ....................................................
3.4.5 Zur Entwicklung des Hygienegedankens .................................
3.4.6 Großstadt erzeugt Vermassung und Entwurzelung ..................
4
109
114
120
124
DIE GROSSSTADT ZWISCHEN LABORATORIUM DER
MODERNE UND SÜNDENBABEL .........................................................
129
4.1 Georg SIMMEL und das Geistesleben der Großstädte ................
129
4.2 Die Differenz von Image und städtischer Wirklichkeit .............
141
4.3 Stadtkritik als Kulturkritik .........................................................
146
4.4 Kulturkritische Grundlegungen bei RIEHL,
TÖNNIES und SPENGLER ............................................................
5
104
4.4.1 Wilhelm Heinrich RIEHL (1823-1897) .....................................
4.3.2 Ferdinand TÖNNIES (1855-1936) ..............................................
4.3.3 Oswald SPENGLER (1880-1936) ...............................................
153
153
157
161
DER DEUTSCHE KATHOLIZISMUS ZWISCHEN
TRADITION UND AUFBRUCH ..............................................................
165
5.1 Grundtendenzen des deutschen Katholizismus im
Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert....................................
5.1.1 Der Milieukatholizismus ..........................................................
5.1.2 Soziale und regionale Strukturen in der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts .........................................
5.1.3 Der politische Katholizismus ...................................................
5.1.4 Die sogenannte Inferiorität der Katholiken ..............................
5.1.5 Kulturkampf, Kulturkampfmentalität und
die Dominanz des Ultramontanen ............................................
Exkurs: Zur Rolle des Klerus ...................................................
5.1.6 Der Reformkatholizismus und die
Auseinandersetzung um den Modernismus ..............................
5.1.7 Die Katholikentage als Foren katholischer
Vereine und Verbände..............................................................
5.1.8 Der Katholizismus in der Weimarer Republik .........................
165
165
174
178
180
182
187
192
197
202
5.2 Sehnsucht nach Gemeinschaft als katholische Lebenspraxis ....
204
5.2.1 Die Rezeption von Ferdinand TÖNNIESʼ
Gemeinschaft und Gesellschaft ................................................
204
INHALT
5.2.2 Rural-katholische Kulturkritik –
Anton HEINEN (1869-1934) .....................................................
5.2.3 Moderne Antimoderne –
Carl SONNENSCHEIN (1876-1929) ............................................
6
9
209
225
GROSSSTADT UND MODERNE IM URTEIL KATHOLISCHER
KULTURZEITSCHRIFTEN ZWISCHEN 1848 UND 1933 .......................... 249
6.1 Zur Entstehung der katholischen Presse .................................... 249
6.2 Historisch-politische Blätter (1838-1923) ................................. 254
Die katholisch-soziale Bewegung ....................................................... 261
„Das moderne Heidenthum der civilisirten Barbarei“ ......................... 273
Konservativer Antikapitalismus .......................................................... 274
Berlin als Zentrum der Moderne ......................................................... 275
Die Reize der Stadt.............................................................................. 277
Religion und Kultur............................................................................. 278
„Individualistische Emancipation“ ...................................................... 280
„Stadtluft macht frei“ .......................................................................... 283
Suizid und Geburtenrückgang ............................................................. 288
Amerikanisierung des Wirtschaftslebens ............................................ 291
1914/1918: Endzeit ............................................................................. 296
6.3 Stimmen aus Maria Laach (1865/71-1914) und
Stimmen der Zeit (ab 1914)........................................................ 300
Haltungen des Christseins –
Erich PRZYWARA und Max PRIBILLA ..................................................
Großstadtmission.................................................................................
Wohnen in der Großstadt –
Heinrich PESCH und Oswald von NELL-BREUNING .............................
302
305
309
6.4 Hochland (1903-1941)............................................................... 317
Kultureller Katholizismus mit völkisch-nationalen Zügen .................. 319
Kulturkritik und Reformerwartungen .................................................. 325
Der Einfluss von Max SCHELER auf einen
intellektuellen Katholizismus ..............................................................
Architektur und Städtebau ...................................................................
Berlin als Versuchslokal der Moderne ................................................
Verstädtertes Landleben ......................................................................
Über die Seelennot des Großstadtmenschen –
Hermann PLATZ ...................................................................................
Der Zusammenhang von Wohnungselend und Bodenspekulation ......
328
332
334
335
337
343
10
INHALT
6.5 Das Heilige Feuer (1913-1931) ................................................
Antimoderne Kultur- und Gesellschaftskritik – Ernst THRASOLT ........
Lebensreform und Jugendbewegung....................................................
Vaterland und Muttererde ....................................................................
Bergende Gemeinschaft .......................................................................
Außenseiter gegen das Berufschristentum ...........................................
Außenseiter par excellence – Waldemar GURIAN ................................
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350
352
355
356
359
361
6.6 Die Schildgenossen (1920-1941) ...............................................
363
Die Frau in der modernen Industriegesellschaft –
Helene HELMING ..................................................................................
Warum sich Kirche und Großstadt fremd geworden sind –
Josef EMONDS ......................................................................................
Katholizismus und Sozialismus – Walter DIRKS..................................
Ohne falsche Sicherheiten....................................................................
Lob der Technik – Theo BOGLER.........................................................
Wohnkultur – Helene HELMING und Ludwig NEUNDÖRFER ................
Ergänzende Gegensätze – Romano GUARDINI .....................................
Stadtraum, Sakralraum, Gebet – Rudolf SCHWARZ..............................
370
373
381
383
386
389
393
398
SCHLUSS.....................................................................................................
411
ABBILDUNGEN UND TABELLEN..................................................................
421
LITERATUR .................................................................................................
423
PERSONEN ..................................................................................................
493
VORWORT
Die Großstadt mit ihrem Tempo, ihrer Aufgeregtheit, ihrem Glanz und ihren
dunklen Seiten ist seit der Industrialisierung zur Chiffre der Moderne
schlechthin geworden. Im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert ist sie ein
Laboratorium für eine neue Zeit und einen neuen Menschentyp.
Wie wird sie wahrgenommen und beschrieben, welche Zuschreibungen erfährt sie durch die Menschen, die sich wissenschaftlich mit ihr befassen oder
in ihr leben?
Der Anstoß zu dieser Untersuchung kam aus meiner eigenen Auseinandersetzung mit der Großstadt Berlin, in der ich als katholischer Priester lebe und
arbeite. Wie christlicher Glaube in den rasanten Veränderungen unserer Zeit
lebbar ist, war mir dabei immer eine wichtige Fragestellung.
Als Berlin sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf den Weg
machte, Weltstadt zu werden, veränderte das auch die Lage der Katholiken. In
diesen Jahrzehnten bekam das heutige katholische Berlin sein Gesicht. In meiner Arbeit werden ganz unterschiedliche Wege vorgestellt, sich zu den rasanten gesellschaftlichen Veränderungen zu verhalten. Sie wurde im WS 2012/13
von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Westfälischen WilhelmsUniversität in Münster als theologische Dissertation im Fach Christliche Sozialwissenschaften angenommen und für die Veröffentlichung überarbeitet.
Mein besonderer Dank gilt meinem Doktorvater, Prof. Dr. Dr. Karl Gabriel,
der das Entstehen der Dissertation mit großem Wohlwollen begleitet hat und
Prof. Dr. Feiter, der die Zweitkorrektur übernommen hat.
Zu großem Dank bin ich den beiden Erzbischöfen verpflichtet, die das Erzbistum Berlin in den letzten 25 Jahren prägten. Georg Kardinal Sterzinsky hat
mich zum Soziologie-Studium und zum Beginn meiner Promotion ermutigt.
Abgeschlossen wurde meine Arbeit in der Amtszeit von Dr. Rainer Maria
Kardinal Woelki, der mit dem Erzbistum Berlin erste Schritte auf dem Weg zu
einer erneuerten Kirche in den Veränderungen der Zeit gegangen ist.
Ich danke meinen Eltern und meinem Bruder Olaf für die liebevolle und
wichtige Unterstützung. Viele meiner Lehrenden, Kolleginnen und Kollegen,
Weggefährten, Verwandten und Freunde haben diese Arbeit durch ihre Nachfragen und Anregungen begleitet. Besonders nennen möchte ich Matthias
Goy, Achim Hoppe, Dr. Klaus Korfmacher, Dr. Meltem Kosan und Prof. Dr.
Leo Langemeyer. Sr. Susanne König M. Id. danke ich für die mühsame Arbeit
des Korrekturlesens, Dr. Johanna Wördemann und besonders StD Achim
Hoppe danke ich zudem für ihr geistvolles Lektorat.
Berlin, im Sommer 2015
Dr. Hansjörg Günther
1 ZUM ZUSAMMENHANG VON KATHOLIZISMUS
UND MODERNE
Großstadt, Moderne und Katholizismus im Paradigmenwechsel
„Die Kirche rollt durch die neue Zeit dahin wie ein rohes Ei“1, schreibt Kurt
TUCHOLSKY 1930 in einem der Briefe an eine Katholikin. Die Kirche erscheint ängstlich, empfindlich und ungelenk angesichts einer Moderne, die radikal mit den traditionellen Lebensformen der vorindustriellen Gesellschaft
bricht. In den Geisteswissenschaften hat das Bild von der katholischen Kirche
als „antimoderner Gegengesellschaft“2 seit einigen Jahren eine differenziertere
Kontur bekommen, weil die Modernisierungstheorien inzwischen von einer
Vielzahl von Facetten der Moderne ausgehen. In der Katholizismusforschung
wurde schon seit geraumer Zeit geargwöhnt, ob die Vorstellung von einem
neuzeitlich antimodernen Katholizismus nicht allzu vereinfachend sei.
Handelt es sich nicht eher um eine Kirche, die aus der Spannung zwischen
Tradition und Moderne einen eigenen achtsamen Weg in die Moderne gegangen ist – und sei es auf dem Weg einer „ungeplanten Modernität“3? Diesem
Aspekt wird in der vorliegenden Arbeit nachgegangen. Dabei geht es um den
Zusammenhang von Modernisierungsprozessen und deutschem Katholizismus
in Deutschland zwischen 1848 und 1933.4 Am Beispiel Großstadt werden die
Diskurse von Moderne und Katholizismus in den Diskussionen überregionaler
katholischer Kulturzeitschriften untersucht – und zwar unter besonderer Beachtung der sich in Deutschland im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert
konstituierenden Soziologie als Wissenschaft. Dabei wird insbesondere der
Öffnung der Modernisierungstheorien Rechnung getragen.
Deutschland entwickelte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts,
vor allem seit der Reichsgründung 1871, von einem rückständigen Agrarland
zu einer Industrienation. Dieser extrem beschleunigte Modernisierungsprozess
endete 1918 in einem bis dahin unvorstellbaren Niedergang. Nach dem Ersten
Weltkrieg stand die katholische Kirche „als die einzig noch intakte geistige
Ordnungsmacht da“5. Diese Ungleichzeitigkeit war auch eine Chance. Mit
1
2
3
4
5
TUCHOLSKY, Kurt (1969), 27. Zuerst abgedruckt unter dem Pseudonym Ignaz WROBEL in:
Die Weltbühne Nr. 6, (1930).
MAUTNER, Josef P. (2005), 233.
NIPPERDEY, Thomas (1988), 27.
Das entspricht in etwa dem Zeitraum des „vermeintlich so geschlossenen“ (HUMMEL, KarlJoseph, 2003, 402) katholischen Milieus von ca. 1850 bis 1950. Vgl. GABRIEL, Karl (1998),
80ff. Vgl. RUSTER, Thomas (1997), 26ff.
RUSTER, Thomas (1997), 16.
14
ZUM ZUSAMMENHANG VON KATHOLIZISMUS UND MODERNE
herausragenden Theologen konnte sich die Kirche den exzeptionellen Herausforderungen in den Jahren der Weimarer Republik stellen.
Der Untersuchungszeitraum wurde gewählt, weil sich in ihm quantitative
und qualitative Aspekte der Großstadtentwicklung (Verstädterung und Urbanisierung) während der Frühindustrialisierung in der Mitte des 19. Jahrhunderts
in Deutschland zwar langsam, aber doch wahrnehmbar auswirkten, während
der Hochindustrialisierung nach 1870 zu ihrem Höhepunkt gelangten und sich
in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts konsolidierten. In diesem Zeitraum wird das Phänomen Großstadt zum Gegenstand der noch jungen Soziologie.
Mit dem Verhältnis von Moderne und Katholizismus hat sich vor allem die
Katholizismusforschung beschäftigt. Ihr ging es zunächst und insbesondere
um eine Auseinandersetzung mit dem ultramontanen Antimodernismus, der
die katholische Kirche im 19. Jahrhundert zu einer vermeintlich „geschlossenen Gegenkultur“6 formierte und in Deutschland durch den Kulturkampf außerdem eine besondere Ausprägung erfuhr. Umfassend hat sich damit zuletzt
Peter NEUNER (2009)7 auseinandergesetzt. Dem vorausgegangen waren wichtige Arbeiten, insbesondere von Hubert WOLF (1998)8 und Otto WEISS
(1995)9.
KAUFMANN konstatiert 1980, dass sich Wissenschaftler aus dem katholischen Umfeld vor allem auf meso- und mikrosoziologische Studien konzentrierten und unter anderem Kirchengemeinden, kirchliche Verhaltensweisen, religiöse Rollen und auch religiöse Einstellungen erforschten.10 Diese Untersuchungen dienten einem „dominierenden pastoralen Interesse einer empirisch-soziographischen Orientierung“11. Dagegen kämen „fachwissenschaftlich
akzeptierte Beiträge zu Problemen der Institutionalisierung von Religion auf
gesamtgesellschaftlicher Ebene, zum Funktionswandel von Kirchen und Religion im Modernisierungsprozess“12 überwiegend von nichtkatholischen Wissenschaftlern. Die Wahrnehmung der deutschen Katholizismusforschung und
ihrer Forschungsergebnisse außerhalb ihres Kreises ist begrenzt,13 da für sie,
so TISCHNER, „immer noch das ‚catholica non leguntur‘ gilt“14, was sich auch
6
7
8
9
10
11
12
13
14
NEUNER, Peter (2009), 11.
Vgl. NEUNER, Peter (2009): Der Streit um den katholischen Modernismus.
Vgl. WOLF, Hubert [Hrsg.] (1998): Antimodernismus und Modernismus in der katholischen
Kirche.
Vgl. WEISS, Otto (1995): Der Modernismus in Deutschland.
Vgl. KAUFMANN, Franz-Xaver (1980), 9.
Ebd.
Ebd.
TISCHNER vertritt die Auffassung, dass die seit den 1990er Jahren erschienene Vielzahl erfolgreicher Arbeiten vor allem im binnenkatholischen Raum zur Kenntnis genommen worden
sind. Vgl. TISCHNER, Wolfgang, 2004, 199.
Ebd., 199.
ZUM ZUSAMMENHANG VON KATHOLIZISMUS UND MODERNE
15
am fachwissenschaftlichen Diskurs über die Entwicklung des Katholizismus
im 19. Jahrhundert ablesen lässt.15
Einen Aufbruch erfährt die Katholizismusforschung auf geschichtswissenschaftlichem Feld in den 1990er Jahren.16 Damals wurde es für Historiker zunehmend interessant, nach dem Zusammenhang von Religion und Moderne zu
fragen. Die erste und zugleich bahnbrechende Arbeit zu diesem Thema erschien 1988: Religion im Umbruch. Deutschland 1870-1918 von Thomas NIPPERDEY17, der zu überraschenden Thesen gerade im Hinblick auf den deutschen Katholizismus kam: „Was die ultramontane Welt zementieren sollte,
wurde auf Dauer Aufbruchs- und Neuerungskraft.“18 NIPPERDEY ging davon
aus, dass die „Intensität der katholischen Subkultur, ja auch das befestigte
Ghetto“19, nicht nur die Abgrenzung, sondern auch die „Selbstbehauptung als
Volkskirche“ gestärkt und damit zur „Krisenresistenz“ der katholischen Kirche nach 1918 sowie nach 1933 beigetragen habe – gegen linke wie rechte Totalitarismen. Zwar habe es im Vereinskatholizismus als „Abgrenzungskatholizismus“ viel „Organisationsfetischismus“ gegeben, aber die „Intensität der katholischen Subkultur“ habe auch ein besonderes „Modernisierungspotential“20
generiert. NIPPERDEY vertrat die These von einer „ungeplante[n] Modernität“21, die gerade wegen ihrer Ungeplantheit verständlicherweise auch zu
„Spannungen und Zielkonflikten“ innerhalb der katholischen Kirche22 geführt
habe. Sein Buch Religion im Umbruch war Vorabdruck eines Kapitels aus
dem ersten Band des dreibändigen Werks Deutsche Geschichte 1866-191823,
15
16
17
18
19
20
21
22
23
TISCHNER nennt als Beispiel, dass die Neuausgabe des Handbuchs zur deutschen Geschichte,
herausgegeben von Jürgen KOCKA, den „Milieubegriff fast völlig ignoriert und zum gesamten
Bereich des deutschen Katholizismus im 19. Jahrhundert nur Minderheitenpositionen vorstellt“ (ebd.).
Vgl. ALTERMATT, Urs (2004), 169f., insbesondere Anm. 1 u. 2.
NIPPERDEY, Thomas (1988). Zur Situation der Religiosität in den deutschen Großstädten vgl.
vor allem ebd., 120ff.
Ebd., 31.
Ebd.
Ebd.
Ebd., 27. NIPPERDEY bezieht sich hier vor allem auf das Jahrzehnt vor Beginn des Ersten
Weltkrieges. Das habe den Modernisierungsvorgang jedoch nicht aufhalten können. GERLFALKOVITZ benutzt für die Nachkriegsjahre und ihre „Vielzahl religiöser Aufbrüche“ das
Diktum „Ver sacrum catholicum“ (GERL-FALKOVITZ, Hanna-Barbara, 2003, 152). GERLFALKOVITZ und RUSTER benutzen diese emphatische Bezeichnung, um den Aufbruch des
Katholizismus in der Weimarer Republik zu kennzeichnen. Sie führen sie auf Gertud von LE
FORT zurück.
Und hier insbesondere auch innerhalb des deutschen Katholizismus. Vgl. Kapitel 5 dieser Arbeit: Der deutsche Katholizismus zwischen Tradition und Aufbruch.
Vgl. NIPPERDEY, Thomas (1990), 428ff. In den 1980er/90er Jahren entstand ein neuer Typus
des geschichtswissenschaftlichen Schreibens. Es entstanden umfassende Entwürfe einer deutschen Nationalgeschichte. Dabei bekamen die Neuere Geschichte und Zeitgeschichte einen
prominenten Platz. Eine neue westdeutsche Historikergeneration trat an die Öffentlichkeit,
die die Zeit des Nationalsozialismus lediglich als Kind erlebt hatte und sich damit ‚unbelastet‘
der deutschen Geschichte in Gesamtdarstellungen näherte. Ihre Exponenten sind (bei differie-
16
ZUM ZUSAMMENHANG VON KATHOLIZISMUS UND MODERNE
und so gab NIPPERDEY den Anstoß zu einer neuen Sichtweise für eine ganze
Historikergeneration.24
Bis in die 1980er Jahre hatten Historiker und Soziologen etwaige Modernisierungspotentiale der katholischen Kirche kaum erwogen, geschweige denn
zu einer Erkenntnisfrage gemacht.25 Das änderte sich mit dem als Cultural
turn26 bekannt gewordenen Paradigmenwechsel27, der sich ab den 1990er Jahren in der universitären Forschung im westeuropäischen Raum endgültig etablierte. Wie konnte es zu dieser Neuausrichtung des Forschungsinteresses
kommen? Eine neue Generation gerade unter Historikern und Soziologen kam
zu der Erkenntnis, dass Religion als Teil der symbolischen Ordnung eine besondere Prägekraft über entscheidende gesellschaftliche Veränderungen hinweg bewahrt hatte. Religion wurde gerade im Augenblick des Verlusts ihrer
realen Bedeutung28 als spezifischer Ort von Sinnstiftung entdeckt.29
24
25
26
27
28
29
renden Ansätzen) Thomas NIPPERDEY, Hans-Ulrich WEHLER, Jürgen KOCKA und Wolfgang
MOMMSEN.
Vgl. insbesondere NIPPERDEY, Thomas (1986).
In der deutschen Sozial- wie Strukturgeschichtsschreibung wurde der religiöse Faktor lange
ignoriert. Das galt insbesondere für die Wahrnehmung der katholischen Kirche. Zur Diskussion über die Festschreibung der kirchennahen Geschichtsschreibung als moderneresistent
vgl. HUMMEL, Karl-Joseph (2003), 398f. Vgl. ALTERMATT, Urs (2004), 170.
Ich möchte hier lediglich auf folgende grundlegende Publikationen verweisen: MERGEL,
Thomas [Hrsg.] (1997), BÖHME, Hartmut; MATUSSEK, Peter; MÜLLER, Lothar (2002),
BACHMANN-MEDICK (2010).
Der kulturwissenschaftliche Paradigmenwechsel erweiterte den Blick außerdem auf Wissenschaft als Ort der Produktion gesellschaftlich legitimierter Beschreibungssysteme, bedeutsam
dabei vor allem die These von BERGER und LUCKMANN über die gesellschaftliche und kulturelle Konstruktion von Wirklichkeit. Vgl. im Rekurs auf Max WEBERs These von der „doppelten Konstituierung von Gesellschaft“ durch gesellschaftliche, ökonomische, politische Bedingungen und durch Sinndeutung (und Konstruktion) von Wirklichkeit das Standardwerk BERGER, Peter L.; LUCKMANN, Thomas (1967), 1. Aufl. (engl. Edition) und BERGER, Peter L.;
LUCKMANN, Thomas (1969), 1. Aufl. (dt. Übersetzung).
Hierzu ALTERMATT: „In verschiedenen westeuropäischen Ländern kam es zu einer paradoxen Situation: Während die Kirchen an Einfluß verloren, führte das neue religionsgeschichtliche Interesse der postmodernen Gesellschaft zu einem eigentlichen Publikationsboom.“ (ALTERMATT, Urs, 2004, 171).
Unter Religion wird in der vorliegenden Arbeit die christliche Religion unter besonderer Berücksichtigung der katholischen Konfession westlicher Prägung verstanden. Einerseits umfasst der Begriff Religion in vorliegender Arbeit die kirchlich verfassten Sozial- und Strukturformen und andererseits das Verständnis als Sinn- und Deutungsmuster für die Lebenswelt
des Individuums und seine Beziehungen im Kontext der gesellschaftspolitischen Strukturen
und Entwicklungen. Zur Vielfalt der Deutungsansätze des Religionsbegriffs vgl. ZIEBERTZ,
Hans-Georg (2010), 125. Die diversen Definitionen im nichtchristlichen Religionsverständnis, wie es vor NIPPERDEY bei Max WEBER oder eben in den 1980er Jahren bei Peter L.
BERGER, Niklas LUHMANN u. a. der Fall ist, verstehen Religionen als „Prototypen der Ausprägung und Vermittlung von Sinn und Bedeutung. Dies gilt für jede der drei großen Dimensionen des Religionsbegriffs: für religiöse Normen und Lehren als kollektive Deutungssysteme, für die Kirchen als institutionalisierte Religionsgestalt und insbesondere auch für das individuelle Erleben religiös geprägten Sinns, also die Dimension der subjektiven Religiosität“
(HOCKERTS, Hans Günther, 2004, 233).
ZUM ZUSAMMENHANG VON KATHOLIZISMUS UND MODERNE
17
In seinem Plädoyer für eine Kulturgeschichte des Katholizismus30 stellt ALTERMATT fest, dass es der „‚neuen‘ Religions-, Kirchen- und Kulturgeschichte
in Westeuropa“ in den 1990er Jahren erstmals gelungen sei, „den religiösen
Faktor aus der Tabuzone herauszulösen und zu einem anerkannten Gegenstand
universitärer Forschung zu machen“31. Religion bekam endgültig als Gegenstand im Bereich symbolischer Ordnungssysteme – und zwar als kulturelles
Sinn- und Deutungssystem – einen Platz im Wissenschaftsdiskurs. In eben
diesem Sinn hatte bereits 1988 NIPPERDEY von Religion als „ein[em] Stück
Deutungskultur“ gesprochen, welche „die ganze Wirklichkeit der Lebenswelt“
umfasst und
„das Verhalten der Menschen und ihren Lebenshorizont, ihre Lebensinterpretationen prägt, gesellschaftliche Strukturen und Prozesse, ja auch Politik. Um das zu
erkennen, muß man freilich [...] Religion in einem weiteren Sinne verstehen: als
Orientierungsmacht der etablierten Kirchen gewiß, dann aber auch als Prägung
gesellschaftlicher und politischer Strukturen und endlich als Gegenstand der wilden Negation oder des sanften Abbaus oder der säkularen Zivilreligion“32.
Am Beginn des 21. Jahrhunderts ist Religion als Forschungsobjekt nicht mehr
zu übersehen. Nicht nur in der Wissenschaft spricht man von der „Wiederkehr
des Religiösen“33. Der Fortschrittsoptimismus einer an der Aufklärung orientierten geschichtsphilosophischen Ausrichtung der Erkenntnisse dominiert
nicht mehr die Forschung,34 vielmehr werden die Widersprüchlichkeiten der
Moderne zu einem bevorzugten Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzung.35
30
31
32
33
34
35
So der Titel des Aufsatzes von ALTERMATT, Urs (2004).
Ebd., 171.
NIPPERDEY, Thomas (1988), 7f.
Vgl. POLLACK, Detlef (2000).
Vgl. HOCKERTS: „Im Sog dieser Verschiebung des intellektuellen Koordinatensystems sind
alle großen Zentraltheorien zerstoben, die den Anspruch erhoben hatten, die Geschichte aus
einem Guß erklären zu können. Damit ist auch die Modernisierungstheorie ins Wanken geraten, jedenfalls in ihren allzu selbst- und siegesgewissen Varianten.“ (HOCKERTS, Hans Günther, 2004, 234). Deutlich wird diese Verschiebung mit dem nicht vorherzusehenden Erfolg
der Studie Risikogesellschaft von BECK, Ulrich (1986).
Im Zuge der Konstituierung der Kulturwissenschaften mit neuem fächerübergreifenden Gegenstand im Bereich symbolischer Ordnungen, zu denen neben Religion und Städtebau auch
Alltagskultur (Mode usw.) zählen, erfahren deutsche Wissenschaftler wie Georg SIMMEL oder Max WEBER eine internationale Aufwertung. Cultural history (Robert DARNTON, Johan
HUIZINGA) und Histoire de Mentalité (Ecole des Annales, Fernand BRAUDEL, Jacques le
GOFF, Pierre NORA) werden im deutschsprachigen Raum zu Ideengeschichte als Sozialgeschichte oder Kulturanthropologie.
18
ZUM ZUSAMMENHANG VON KATHOLIZISMUS UND MODERNE
Der Zusammenhang von Katholizismus und Moderne als Methodenfrage
Der Diskurs des Katholizismus zu Großstadt und Moderne wird vor dem Hintergrund der sich um 1900 konstituierenden Soziologie in dieser Arbeit in einen Erkenntniszusammenhang gestellt. Beim Entstehen der städtischen Agglomerationen mit ihren neuen Freiräumen kam es zu Konflikten mit dem
Selbstverständnis des Katholizismus im 19. Jahrhundert. Zwischen 1850 und
1950 führte die Kirche einen für sie entscheidenden Diskurs gegen die Auswirkungen der Moderne, an denen sie eine Zeitlang zu scheitern schien. Wenn
diese Arbeit unter dem Titel Umwege in eine achtsame Moderne steht, soll
damit gesagt sein, dass ich dank der Ergebnisse der Milieuforschung zu einem
durch große Vielfalt geprägten Bild des Katholizismus, der keineswegs nur als
geschlossene Trutzburg gesehen werden kann, komme.36 In der vorliegenden
Arbeit wird die These vertreten, dass der deutsche Katholizismus im Untersuchungszeitraum, vermittelt durch moderne Kommunikationskanäle wie Presse
und Katholikentage, nach außen ein geschlossenes Großgruppenmilieu darstellte, nach innen aber regionale, soziale und bildungsspezifische Differenzierungen aufwies.
Ulrich von HEHL fasst den qualitativen Aufbruch in der neueren Katholizismusforschung wie folgt zusammen:
„Nun lag und liegt die Erforschung des (deutschen) Katholizismus im Schnittpunkt verschiedener Wissenschaftsdisziplinen und ihrer Methoden: allgemeinhistorischer, politikwissenschaftlicher, soziologischer und kirchengeschichtlicher. Gerade die Zeitgeschichtsforschung hat zur Konvergenz der unterschiedlichen Ansätze, insbesondere der theologiegeleiteten Kirchengeschichte und der
profangeschichtlichen Katholizismusforschung, beigetragen. Dies wird durch die
[...] sozial- und mentalitätsgeschichtliche Blickerweiterung ergänzt. Über die
schon bekannte politische und soziale Gestalt der katholischen Kirche hinaus
tritt die gesellschafts- und alltagsprägende Kraft des ‚Religiösen‘ in den Blick,
auch und gerade bezogen auf den gesellschaftlichen Modernisierungsprozeß.“37
Hatten sich die Vertreter dieser Forschungsrichtung seit den 1960er Jahren mit
der katholischen Kirche als politischer Kraft und dem Verhältnis von Staat
und Kirche vor allem vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus auseinandergesetzt,38 sollte sich dies mit besagtem Cultural turn ändern.
36
37
38
Hier schließe ich mich dem Ergebnis von HEHL an. Vgl. HEHL, Ulrich von (2004), 21.
Ebd., 20f.
Hier ist in erster Linie die Kommission für Zeitgeschichte zu nennen. Sie wurde 1962 gegründet. Die zeitgeschichtliche Katholizismusforschung setzte sich in den 1960er Jahren vor allem
mit den Anfangsjahren nationalsozialistischer Herrschaft auseinander. 1965 erschien als erste
Veröffentlichung der Quellenband ALBRECHT, Dieter [Hrsg.] (1965). Vgl. HEHL, Ulrich von
(2004).
ZUM ZUSAMMENHANG VON KATHOLIZISMUS UND MODERNE
19
ALTERMATT spricht in diesem Zusammenhang auch von der „Selbstsäkularisierung“39 der Katholizismusforschung als einem wichtigen Schritt in Richtung
wissenschaftlicher „Satisfaktionsfähigkeit“40. Durch die kulturgeschichtliche
Ausweitung ihres Forschungsgegenstands sei es ihr gelungen, Teil des anerkannten universitären Diskurses zu werden.41 Durch die These vom Milieukatholizismus als besonderer Sozialform des 19. und 20. Jahrhunderts wurden
Fragestellungen der Sozialgeschichte mit denen der Ideen- und Mentalitätsgeschichte verknüpft. Die „Trennung zwischen objektiven sozialen Strukturen
und subjektiven Interpretationen der sozialen Realität“42 wurde durchlässiger.
Das führte methodisch zu wichtigen, neuen Erkenntnissen. ALTERMATT zeigt,
weshalb gerade die Katholizismusforschung geeignet war, diese Trennung
zwischen objektiver Struktur und der Vermittlung von Sinn, Ideen und Werten
aufzuheben und wie es ihr gelang, die Organisationsformen der Vereine mit
den katholischen Lebenswelten als Sinn- und Wertevermittler in einen Forschungszusammenhang zu stellen.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass sich der kulturgeschichtliche Ansatz der Katholizismusforschung nicht länger nur mit den sozialen und politischen Folgen der Organisationsstruktur seiner Institutionen auseinandersetzt,
sondern auch mit der „Produktion und Verbreitung von Wissen und Ideen, von
kulturellen Codes, Symbolen und Riten“43. Gerade diese Wechselwirkung der
Ebenen, also den sogenannten Vermittlungszusammenhang zu erforschen,44
war bereits für die frühen Soziologen von besonderem Interesse. In dieser Arbeit werden neben SOMBART auch WEBER und SIMMEL als methodologische
Referenz vorgestellt. Der kulturgeschichtliche Ansatz der Katholizismusforschung liegt dieser Arbeit zugrunde, um die Wechselwirkung zwischen katholischem Milieu und der Verstädterung als Teilprozess der Modernisierung
zu erforschen. Dabei wird unter dem katholischen Milieu nicht nur die institutionelle Struktur mit speziellen Organisationsformen verstanden, sondern ein
Sinn- und Deutungssystem, eine Quelle symbolischer Ordnung mit Riten und
kulturellen Codes.
Ein „einheitlicher komplexer Kommunikationszusammenhang der Milieuangehörigen“45 wurde im 19. Jahrhundert durch die lokale und überlokale ka39
40
41
42
43
44
45
ALTERMATT, Urs (2004), 170.
KAUFMANN, Franz-Xaver (1980), 7.
Vgl. ALTERMATT, Urs (2004), 172, Anm. 14 und 15. ALTERMATT spricht von einem regelrechten Publikationsboom, der viele Jahre zuvor mit Arbeiten von Rudolf MORSEY und Konrad REPGEN im Rahmen der Kommission für Zeitgeschichte begonnen hatte. Vgl. ebd., 171.
Die Kommission für Zeitgeschichte hatte 1987 programmatisch für die Einbeziehung von Sozial- und Kulturgeschichte in die Erforschung katholischer Religiosität plädiert.
ALTERMATT, Urs (2004), 173. Vgl. insbesondere VIERHAUS, Rudolf (1995).
ALTERMATT, Urs (2004), 175.
Zum Terminus Vermittlungszusammenhang vgl. vor allem Kapitel 2.3.3: Georg SIMMEL
(1858-1918) – Formen der Vergesellschaftung und ihre Wechselwirkung.
RAUH-KÜHNE, Cornelia (1991), 157.
20
ZUM ZUSAMMENHANG VON KATHOLIZISMUS UND MODERNE
tholische Presse sichergestellt. Sie hatte zunächst eine „tiefgehende apologetische Grundtendenz“46, getragen von der kommunikationspsychologischen Situation, „von publizistisch übermächtigen Feinden umstellt zu sein“47. Die
Historisch-politischen Blätter schreiben drei Jahre nach Beendigung des Kulturkampfs: „Wir Katholiken können in Wahrheit sagen: ‚Feinde ringsum‘,
aber wir müssen auch sagen, ‚viel Feindʼ, viel Ehrʼ und – Wehr‘.“48. Da die
Katholiken in den Kommunikationsforen anderer Sozialmilieus nicht zu Wort
kamen, mussten sie – zum Teil auch von einigem Unwillen begleitet – ihre eigenen Zeitungen und Zeitschriften gründen: „Sie schufen ihre Zeitungen also
nach der liberalistischen Presse-Ideologie, obwohl sie diese ablehnten.“49 In
dieser Abgrenzung entstand ein katholisches Milieu,
„in dem die persönlichen, religiösen und die wissenschaftlichen Kontakte durch
katholische Verbände, Arbeitervereine, Schulen, Kindergärten, Sportvereine und
Jugendgruppen auf den Binnenraum konzentriert und Kontakte nach außen auf
ein Minimum beschränkt wurden. Die katholische Kirche organisierte sich als
Kontrastgesellschaft zur neuzeitlichen Welt. In ihrem Innenraum erschien alles
als plausibel. Kognitive Minderheiten, also Gruppierungen, in denen ein hohes
Maß an gleichen Überzeugungen herrscht oder geschaffen wird und die sich von
der Außenwelt abgrenzen, [...] sind stark und von außen nur schwer zu erschüttern“50.
Der Begriff der Moderne und Modernisierung soll hier mit Rückgriff auf soziologische Ansätze abgegrenzt und präzisiert werden, wie das in Kapitel 2:
Moderne, Ambivalenz und ambivalente Modernität erfolgt. Dabei lassen sich
einerseits Positionen von Bedeutungsverlust (WEBER) und einer starken Flexibilität und Dynamik (SIMMEL) von Religion aufzeigen.51 Gerade die frühen
Soziologen hatten die Ambivalenzen der Moderne52, ihre janusköpfige Gestalt
46
47
48
49
50
51
52
WEICHLEIN, Siegfried (1996), 69.
SCHMOLKE, Michael (1987), 100.
CONFESSIONELLE STATISTIK (1890), 136.
HAASE, Amine (1975), 46.
NEUNER, Peter (2009), 24.
Die dauerhafte Existenz von Religiosität wird bei SIMMEL durch das konstant bleibende religiöse Bedürfnis gewährleistet. Gleichwohl ist die Sozialform von Religion wandelbar und
steht mit kulturspezifischen Rahmenbedingungen in stetem Vermittlungszusammenhang.
Durch seine Einbeziehung sozialer Gruppen als „Ort der Entstehung und Sichtbarwerdung
von Religion und Religiosität […] rückt er in eine Vermittlungsposition zwischen den stärker
kollektiven Vorstellungen Durkheims und der individualistischeren Haltung Max Webers“
(PICKEL, Gert, 2011, 113). Zu SIMMELs Religionstheorie vgl. vor allem KRECH, Volkhard
(1998). Zu SIMMELs weitreichendem Ansatz vgl. Kapitel 2.3.3 dieser Arbeit.
Die Ambivalenz als „Möglichkeit, einen Gegenstand oder ein Ereignis mehr als nur einer Kategorie zuzuordnen“ (BAUMAN, Zygmunt, 1995, 13) und die Reflexion der Ordnung der
Welt, des menschlichen Ursprungs und des menschlichen Selbst aus dem „Abscheu vor Ambivalenz“ (ebd., 28) sind Produkte der Moderne. Vgl. ebd., 30. Gerade bei den in dieser Arbeit behandelten soziologischen Theoriekonzepten WEBERs und SIMMELs werden sowohl der
Versuch, das vielfältige Chaos der Welt zu systematisieren wie die ambivalenten Phänomene
der Moderne aufzudecken, deutlich.
ZUM ZUSAMMENHANG VON KATHOLIZISMUS UND MODERNE
21
zwischen den vielfältigen Errungenschaften von Wissenschaft und Technik
und der Frage nach den Überlebenschancen des Einzelnen herausgearbeitet
und nicht nur in einem „normativen“ Sinn, in dem das Neue das Bessere war,
beschrieben.
Im Zuge der Modernisierung, verstanden als eine Neuordnung des Gesellschaftsgefüges, hat sich, so GABRIEL, eine „neue Sozialgestalt des Christentums“53 konstituiert. Um diese zu erkennen, „bedarf es [...] des methodischen,
begrifflichen und theoretisch-konzeptionellen Rückgriffs auf die Soziologie“54,
insbesondere auf Max WEBER und Georg SIMMEL.55
Christentumssoziologie im Sinne von Franz-Xaver KAUFMANN und Karl
GABRIEL versucht, „das kirchlich verfaßte Christentum in seiner sozialen Faktizität zu erfassen und in seinen Verflechtungen zu den Strukturen der Gesellschaft und ihrer Modernisierung zu begreifen“56, schreibt HILPERT. Das
schließt die kritische Wahrnehmung gesellschaftlicher Wirklichkeit ein: „Die
christliche Theologie muß sich mit der Soziologie auf eine kritische Selbstvergewisserung jener Tendenzen einlassen, die der gesellschaftlichen Wirklichkeit ihr jeweiliges Gepräge geben“57, so GABRIEL. KAUFMANN hatte schon
1980 von einer „Soziologie des Christentums“ gefordert, dass sie die „diachrone und synchrone Wechselbeziehung“ kirchlich verfasster Religion „mit
anderen gesellschaftlichen Gegebenheiten“58 mit zu berücksichtigen habe. Eine
in diesem Sinn kontextuelle Theologie, die sich „auf einen intensiven Dialog
mit den anderen Wissenschaften einläßt und ebenso geistlich unterscheidend
als auch prophetisch-kreativ tätig wird“59, ist insofern zukunftsfähig, als sie es
mit den „Komplexitäten der Gegenwart oder gar den Ungewißheiten zukünftiger Dynamiken aufzunehmen“60 vermag. RÖMELT kommentiert dies wie folgt:
„Christlicher Glaube muss sich in den ‚Text‘ des Ringens der modernen Lebenswirklichkeit auslegen. […] Die Theologie geht auf die Kulturwissenschaften
zu, weil sich in ihnen das Bewusstsein um die Grenz- und Deutungsfragen komplexer Gesellschaft sammelt und zur Begegnung herausfordert.“61
Eine Soziologie des Christentums untersucht einerseits die Wirkung und
Rückwirkung kirchlich verfasster Religion auf die Gesellschaft und umgekehrt. Andererseits lässt die Begegnung von kirchlich verfasster Religion mit
und im Prozess der Modernisierung die bisherige Gestalt des Christentums
nicht unberührt, neue Sozialgestalten des Christentums entstehen. Der christli53
54
55
56
57
58
59
60
61
GABRIEL, Karl (1998), 74.
Ebd., 10.
Ebd., 14. Vgl. auch KAUFMANN, Franz-Xaver (1980), 7ff.
HILPERT, Konrad (1997), 128.
GABRIEL, Karl (1999a), 8.
KAUFMANN, Franz-Xaver (1980), 13.
HÜNERMANN, Peter (1999), 52.
KAUFMANN, Franz-Xaver (1999), 161.
RÖMELT, Josef (2011), 50ff.
22
ZUM ZUSAMMENHANG VON KATHOLIZISMUS UND MODERNE
che Glaube muss sich in irgendeiner Weise dazu verhalten, um dem eigenen
Selbstverständnis gerecht zu werden. Um die synchronen und diachronen
Wechselwirkungen zwischen Religion und Moderne zu untersuchen, folgt für
GABRIEL, dass bei der Wiederaufnahme modernitätstheoretischer Fragestellungen an der Revision des Begriffs der Moderne angesetzt werden sollte. Er
schreibt:
„Das reformulierte Modernisierungsparadigma lenkt die Aufmerksamkeit auf
unterschiedliche Modernisierungspfade. [...] Es rechnet mit vielfältigen Spannungen und Ungleichzeitigkeiten zwischen Modernisierungsprozessen auf der
strukturellen, kulturellen und individuellen Ebene. Im Rahmen dieses Modernisierungskonzepts eröffnet sich die Möglichkeit, eine historisch identifizierbare
Form der Verschränkung von traditionalen und modernen Elementen gesellschaftlichen Lebens [...] zu rekonstruieren.“62
So wie das Modernisierungsparadigma eine Vielfalt von Modernisierungspfaden umfasst, müsse auch Religion im steten Wandel einer sich ebenso wandelnden Gesellschaft begriffen werden, stellt HELLEMANS 2005 mit dem „religiösen Modernisierungsparadigma“63 fest. Er meint damit, dass die Moderne
den gesellschaftlichen Kontext bildet,
„in dem sich auch alle Religion notwendigerweise bewegen muss. Gegenüber
den Verfechtern der religiösen Orthodoxie muss deshalb betont werden, dass unsere religiösen Gedanken und Handlungen aktuelle, aktiv-kreative Antworten
darstellen auf die Möglichkeiten und Herausforderungen der Moderne. Anders
gesagt, auch die Orthodoxen sind unwissentlich und unwillentlich Reformer, nur
keine liberalen Reformer. Demgegenüber muss gegen die Reformer, die die Moderne als ein hohes Gut umarmen, angemerkt werden, dass die Moderne nicht
länger nur als ein erstrebenswerter Idealzustand gelten kann, sondern aufzufassen ist als eine spezifische Gesellschaftsformation mit charakteristischen Struktureigenschaften, […] mit charakteristischen Idealen aber auch charakteristischen Entgleisungen.“64.
Entscheidend sei, dass „Modernisierung und Moderne nicht länger mit aufgeklärtem, liberalem oder fortschrittlichem Habitus gleichgesetzt werden“65.
HELLEMANS kommt zu folgendem Schluss:
„Orthodoxe, Konservative und Traditionalisten sind nicht weniger modern als
Liberale und Progressive. Die ersten stehen ebenso in der Moderne, beurteilen
diese nur ganz anders. So war und ist es auch mit der katholischen Kirche: in der
Moderne stehend mit einem zugleich kritischen bis ablehnenden Urteil.“66
62
63
64
65
66
GABRIEL, Karl (1998), 16. Hierbei bezieht sich GABRIEL insbesondere auf den Begriff einer
reflexiven Moderne bei BECK, Ulrich (1986) und den Begriff der Modernität bei KAUFMANN,
Franz-Xaver (1989).
HELLEMANS, Staf (2005), 21.
Ebd., 18f.
Ebd., 19.
Ebd., 19f.
ZUM ZUSAMMENHANG VON KATHOLIZISMUS UND MODERNE
23
HELLEMANS geht davon aus, dass sich „die katholische Kirche […] in den
vergangenen beiden Jahrhunderten, mit Ausnahme der wenigen Jahre um das
Zweite Vatikanum herum, unter anti-modernistischem Banner modernisierte“67. Unter diesem Aspekt sei es insbesondere KAUFMANN und GABRIEL gelungen, „die Christentumsgeschichte in systematischer Absicht neu zu interpretieren“68, indem sie durch methodischen Rückgriff auf LUHMANNs funktionale Differenzierungstheorie „das Verhältnis von Religion und Moderne inklusiv statt exklusiv“69 betrachten. Einige Jahre zuvor hatte ALTERMATT die
These vom Katholizismus als „Antimodernismus mit modernen Mitteln“70 vertreten. HELLEMANS wolle GABRIEL und ALTERMATT insoweit „radikalisieren“, als er nachweise, dass der „Katholizismus und andere Religionen [...] in
der Moderne nicht halb modern, sondern durch und durch modern“71 seien.
Diesem Ansatz folgt die vorliegende Arbeit, hat sich doch der deutsche Katholizismus als sozialmoralisches Milieu nicht nur moderner Elemente bedient, sondern über den Konsens des Milieus hinaus, vor allem im Prozess des
Abschmelzens seiner Versäulung, einen eigenen Weg in die Moderne beschritten.
Innerhalb der Ansätze zur Untersuchung der Wechselbeziehung zwischen
Religion und Moderne ist das Säkularisierungsparadigma zu nennen, das von
einem stetigen Abbrechen der Tradition im Bereich von Religion und Christentum ausgeht. Im Unterschied dazu sieht GABRIEL gerade für das 19. und für
den Übergang zum 20. Jahrhundert Tendenzen zur Wiederbelebung und Neubildung religiöser Traditionen, also ein Nebeneinander von Dechristianisierung72 und Rechristianisierung73. GABRIEL stellt in diesem Zusammenhang
fest, dass der Katholizismus nicht bereits 1850 oder 1870, sondern erst hundert
Jahre später um 1970 seine bindende Kraft verloren habe. Daraus folgt für ihn,
dass die These vom kontinuierlichen Verfall religiöser Lebenswelten im Modernisierungsprozess revidiert werden muss.74 Weiterhin habe sich die katholische Kirche trotz ihrer feudalen, vormodernen Struktur, insbesondere im ausgehenden 19. Jahrhundert, in eine „zentralisierte und mobilisationsfähige
Massenorganisation“75 (mitsamt einer Vielzahl mobiler Substrukturen) transformieren können. Dies sei ebenfalls ein Beleg dafür, dass das Säkularisierungsparadigma ungeeignet sei, um Transformationspotentiale, gerade bei den
67
68
69
70
71
72
73
74
75
Ebd., 20.
Ebd.
Ebd.
ALTERMATT, Urs (1989), 49ff.
HELLEMANS, Staf (2005), 21.
Zur Problemgeschichte des aus dem Französischen stammenden Begriffs vgl. GRAF, Friedrich Wilhelm (1997).Vgl. LEHMANN, Hartmut (1997).
Vgl. LEHMANN, Hartmut (1997), 13. Vgl. BERGER, Peter L. (1971), 69ff. Vgl. RENDTORFF,
Trutz (1962), 318ff. Vgl. HÖLSCHER, Lucian (1989), 190ff.
Vgl. GABRIEL, Karl (1998), 14.
HELLEMANS, Staf (2005), 13.
24
ZUM ZUSAMMENHANG VON KATHOLIZISMUS UND MODERNE
institutionell etablierten Kirchen, auszumachen. Säkularisierung existiere, es
existiere „aber auch mehr als Säkularisierung“76, schreibt HELLEMANS. Und
die mal mehr und mal weniger offen ausgetragenen Spannungen in katholischen Binnen- wie Außenverhältnissen könnten eine Folge dieser Ungleichzeitigkeit sein.
GABRIEL vertritt die These von einem Katholizismus, der seit Beginn der
Moderne im 19. Jahrhundert ein „Amalgam aus Traditionalität und Modernität“77 darstellt. Dieser These wird grundsätzlich zugestimmt, gleichzeitig wird
mit der Fragestellung des Themas nach den Umwegen in eine achtsame Moderne darüber hinaus in vorliegender Studie der Versuch unternommen, anhand der Auseinandersetzung des deutschen Katholizismus mit der Großstadt
diesen spezifischen Modernepfad aufzuzeigen.
Über die Wechselbeziehung zwischen Großstadt und Moderne ist ebenfalls
in den letzten drei Jahrzehnten ausgiebig geforscht worden. Ergebnisse aus
Wirtschafts- und Sozialgeschichte sowie Stadtsoziologie wurden in einen Forschungszusammenhang gestellt und bekamen damit eine neue Relevanz.78
Verstädterung wird seitdem verstanden als
„integrale[r] Bestandteil des höherrangigen Modernisierungsprozesses. […] Die
Urbanisierung wird als ein Vorgang erklärt, der eine Aufspaltung ursprünglich
weitgehend einheitlicher Lebensformen bewirkte, die dann neu funktionalisiert
wurden“79.
Der quantitative Aspekt der Großstadtwerdung war gerade in Deutschland besonders gravierend und erhielt ihre besondere Sprengkraft durch die späte Einigung Deutschlands als Nationalstaat 1871. Mit diesen Phänomenen der Verstädterung setzt sich Kapitel 3: Das Werden der Großstadt auseinander. Im 19.
Jahrhundert war der Unterschied zwischen ländlichem und großstädtischem
Leben eklatant. Die Binnenwanderung nahm ungeahnte Formen an. Sie wurde
durch den in diesen Jahren beschleunigten Ausbau des Eisenbahnnetzes in
Deutschland befördert. Es war also nicht nur blanke Not, die zum Aufbruch in
die Städte drängte. Gerade für junge Menschen repräsentierte die Stadt unvorhersehbar Neues, Freiheit, Zerstreuung und Abenteuer. Die städtische Lebensform war durch Beschleunigung, Anonymität und ein durchaus verführerisches Angebot bisher ungekannter Freiräume gekennzeichnet. Diese zunehmende Freiheit ging zugleich mit einem erfahrbaren oder nur befürchteten
Verlust an Orientierung einher. Für die junge Wissenschaft Soziologie wurde
die äußere und innere Unbehaustheit des Großstädters zu einem der zentralen
Topoi ihres Erkenntnisinteresses. Ihre kulturkritische bis -pessimistische Aus76
77
78
79
Ebd., 14.
GABRIEL, Karl (1998), 16.
Vgl. BAHRDT, Hans-Paul (1961). Vgl. REULECKE, Jürgen (1985). Vgl. HÄUSSERMANN,
Hartmut; SIEBEL, Walter (1987). Vgl. ZIMMERMANN, Clemens (1996).
TEUTEBERG, Hans Jürgen (1990), 161f.
ZUM ZUSAMMENHANG VON KATHOLIZISMUS UND MODERNE
25
formung wird insbesondere in Kapitel 4: Die Großstadt zwischen Laboratorium der Moderne und Sündenbabel dargestellt. In den Kapiteln 4.3: Stadtkritik
als Kulturkritik und 4.4: Kulturkritische Grundlegungen bei RIEHL, TÖNNIES
und SPENGLER geht es um die kulturkritischen Voraussetzungen bürgerlicher
Stadtkritik. Diese Kapitel wurden angelegt, um die Wechselwirkung zwischen
Kulturkritik und Großstadtkritik aufzuzeigen. Des Weiteren sollen zeitgenössische Deutungen außerkatholischer Zeitschriftenreihen und Texte aus der
Quellenrecherche wie insbesondere in Kapitel 3.4.4: Pathographien der Großstadt und Kapitel 3.4.6: Großstadt als Verursacherin von Vermassung und
Entwurzelung helfen, die Positionen des deutschen Katholizismus abzugrenzen. Die Verwerfungen von Image und städtischer Wirklichkeit werden in Kapitel 4.2 verdeutlicht.
Auch die beiden großen Kirchen hatten bei ihrer Auseinandersetzung mit
den neuen Agglomerationen, so TEUTEBERG, ihr Augenmerk vor allem auf die
sittlich-moralischen „Schattenseiten der Urbanisierung“80 gerichtet. Sie bewegten sich dabei in Übereinstimmung mit der im wilhelminischen Bildungsbürgertum vorherrschenden „populären Großstadtfeindschaft und idyllisierenden Agrartümelei“81. Diese anti-urbane Haltung war bis zum Ende der
Weimarer Republik in der Mitte der Gesellschaft tonangebend.
TEUTEBERG schreibt: „Neue Einsichten in die seelisch-geistige Physiognomie des Großstädters, wie sie […] schon um die Jahrhundertwende vorgetragen wurden, sind offensichtlich in die öffentliche Kirchenmeinung kaum eingedrungen“82. Hier kommt die vorliegende Arbeit durch die Untersuchungen
der Quellen zu einem wesentlich differenzierteren Urteil (vgl. Kapitel 6:
Großstadt und Moderne im Urteil katholischer Kulturzeitschriften zwischen
1848 und 1933). Zuvor werden zwei exponierte wie unterschiedliche Theologen vorgestellt, die – bei allen Ansätzen von Kulturkritik – einen je eigenen,
konstruktiven Weg im Umgang mit den Gegebenheiten der Zeit zu finden
suchten: Anton HEINEN auf der einen Seite, der in einer Stärkung der Katholiken auf dem Land eine Lösung für die sozialen wie individuellen Konfliktlagen suchte (Kapitel 5.2.2). Auf der anderen Seite Carl SONNENSCHEIN, der in
einer bewusst konstruktiven Konfrontation den Großstadtkatholizismus im
Berlin der Zwischenkriegszeit prägen wollte (Kapitel 5.2.3). Letztlich ist ihr
pastorales und literarisches Engagement der Versuch, die Sehnsucht nach Gemeinschaft als katholische Lebenspraxis (Kapitel 5.2) wachzuhalten.
80
81
82
TEUTEBERG, Hans Jürgen (1990), 194.
Ebd.
Ebd., 195.
26
ZUM ZUSAMMENHANG VON KATHOLIZISMUS UND MODERNE
Zum Forschungsstand
Im Folgenden nun ein kurzer Blick auf die Sekundärliteratur, die sich seit etwa
1965 dem Verhältnis von Katholizismus und Moderne beziehungsweise von
Katholizismus und Großstadt widmete: Eine grundlegende Arbeit, die viele
Jahre vor dem Forschungsboom der Milieugeschichtsschreibung erschienen
ist, sei hier vor allem gewürdigt. Es ist die große monographische Arbeit von
Norbert GREINACHER aus dem Jahr 1966: Die Kirche in der städtischen Gesellschaft. Soziologische und theologische Überlegungen zur Frage der Seelsorge in der Stadt.83 Der Autor orientiert sich in seiner Studie an Heinrich
SWOBODA: Großstadtseelsorge. Eine pastoraltheologische Studie der katholisch-theologischen Fakultät der Wiener Universität von 1908.84 Der Wiener
Pastoraltheologe SWOBODA zeichnete dort ein umfassendes Bild von der pastoralen Situation in den wichtigsten europäischen Großstädten um die Jahrhundertwende. Seine Sozialanalyse machte deutlich, wie wenig die katholische Kirche mit dem immensen Wachstum der Großstädte seit der Urbanisierungsphase Ende des 19. Jahrhunderts Schritt halten konnte. GREINACHER untersucht im historischen Rückblick den sozialen Wandel zur städtischen Gesellschaft und die damit verbundene städtische Lebensweise. Dabei schildert
er in einem historischen Abriss das Verhältnis von Christentum und Urbanität.
Diese groß angelegte Studie muss als eine erste Antwort auf die neuen gesellschaftlichen Erfordernisse vielfältiger Modernisierungserscheinungen verstanden werden. GREINACHER plädiert für die Gemeindekirche als die der modernen Gesellschaft angemessene Sozialform von Kirche in der Stadt. Von heute
aus gesehen ist diese Untersuchung mitsamt den Vorschlägen für eine zeitgemäße Seelsorge in der Stadt zu früh erschienen, als dass sie zu ihrer Zeit hätte
angemessen gewürdigt werden können.85
Berücksichtigt wurden die kurzen, prägnanten Aufsätze in Zwischen Babylon und Jerusalem. Beiträge zu einer Theologie der Stadt 86, die 1988 in Berlin
erschienen sind und von Michael THEOBALD und Werner SIMON herausgege83
84
85
86
GREINACHER, Norbert (1966).
SWOBODA, Heinrich (1911).
Weitere Arbeiten zum Verhältnis von Christentum und Stadt erfolgten später, verstärkt mit
Beginn der 1990er Jahre. Vgl. außer den in diesem Kapitel besprochenen Texte u. a. SUK,
Walter (1967). Vgl. MÜLLER, Wolfgang (1974). Vgl. KREYSSIG, Peter; KUGLER, Georg
(1976). Vgl. METTE, Norbert (1981). Vgl. LOHFINK, Norbert (1985). Vgl. SIEVERNICH, Michael (1988). Vgl. DAIBER, Karl-Fritz (1990). Vgl. METTE, Norbert; SCHÄFERS, Michael
(1990). Vgl. SIEVERNICH, Michael (1990). Vgl. REULECKE, Jürgen (1991). Vgl. SIEVERNICH,
Michael (1991). Vgl. JACOB, Heinrich (1992). Vgl. BÄUMLER, Christof (1993). Vgl. MEEKS,
Wayne A. (1993). Vgl. JANSSEN, Hans-Gerd (1994). Vgl. ENGEL, Ulrich (1998). Vgl. JACOB,
Heinrich (2001). Vgl. KARRER, Leo (2001). Vgl. VIETMEIER, Alfons (2001). Vgl. WIDL, Maria (2001). Vgl. RIEDENER, Sepp (2001). Vgl. RAVASI, Gianfranco (2003). Vgl. FEITER,
Reinhard (2011).
THEOBALD, Michael; SIMON, Werner [Hrsg.] (1988).
ZUM ZUSAMMENHANG VON KATHOLIZISMUS UND MODERNE
27
ben wurden. Von besonderem Interesse für das Thema ist dabei der Aufsatz
des Pastoraltheologen Paul ZULEHNER. Er beschreibt die Stadt als Projekt der
Moderne. Sein Text zeigt die Versäumnisse der katholischen Kirche in der
Zeit der Industrialisierung und Verstädterung. Es sei der Kirche nicht gelungen, die sozial mobile Bevölkerung „in einem neuen religiösen Gemeinschaftsgefüge aufzufangen“87. Wichtig erscheint mir auch der Text von Michael SIEVERNICH, der in Abwandlung von GUARDINIs Diktum eines Erwachens der Kirche in den Seelen88 formuliert, dass „die Kirche in den Städten
erwacht“89. Beide Autoren knüpfen an die Situation von Berlin als Prototyp
moderner Großstadt an, beide beziehen sich explizit auf gerade diese Stadt als
einem Ort, der sich vor allem in den 1920er Jahren durch lebendige und zum
Teil auch gelungene Großstadtseelsorge ausgezeichnet hat.
Den Anstoß zu einer Reihe weiterer Veröffentlichungen ab den 1990er Jahren gab der Sammelband, den Kaspar ELM und Hans-Dietrich LOOCK 1990
herausgegeben haben: Seelsorge und Diakonie in Berlin. Beiträge zum Verhältnis von Kirche und Großstadt im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert90.
Grundlage dieses Buches war die gleichnamige Konferenz von Evangelischem
Bildungswerk und Katholischer Akademie Berlin in Verbindung mit der Historischen Kommission zu Berlin im Jahr 1987. Dabei zeigte der Beitrag von
Hans-Jürgen TEUTEBERG Moderne Verstädterung und kirchliches Leben in
Berlin bisherige Forschungsergebnisse und bestehende Forschungslücken
auf.91 Was Max WEBER „in einer erhellenden Metapher mit der ‚Entzauberung
der Welt‘ verglich“, eine Tatsache, die „von den Begriffen Säkularisation und
Säkularismus zu scheiden“ sei, umfasse eine Reihe „höchst widersprüchlicher
Befunde“92, schreibt er. Die ungenauen, schillernden Begriffe Entkirchlichung
und Säkularisierung bedürften einer Klärung durch Fragen nach den „Auswirkungen der Urbanisierung auf das kirchliche Leben, aber auch umgekehrt den
Beitrag der Kirche zur Ausbildung der verstädterten Kultur“93.
Einen guten Überblick über den Forschungsstand hat gut zehn Jahre später
Antonius LIEDHEGENER in Religion und Kirchen vor den Herausforderungen
der Urbanisierung in Deutschland im 19. und frühen 20. Jahrhundert gegeben.94 Der Text gibt Auskunft über die zunehmende interdisziplinäre Zusammenarbeit, die sich neben der Erforschung des katholischen Milieus im 19.
Jahrhundert, der Erforschung der Geschichte der Kirche im Nationalsozialismus und ab 1989 vor allem der Diasporakirche in der DDR und einem
87
88
89
90
91
92
93
94
ZULEHNER, Paul, M. (1988), 40.
Vgl. GUARDINI, Romano (1922).
SIEVERNICH, Michael (1988), 97.
ELM, Kaspar; LOOCK, Hans-Dietrich [Hrsg.] (1990).
TEUTEBERG, Hans Jürgen (1990).
Ebd., 197.
Ebd., 200.
Vgl. LIEDHEGENER, Antonius (2001). Vgl. auch LIEDHEGENER, Antonius (2002).
28
ZUM ZUSAMMENHANG VON KATHOLIZISMUS UND MODERNE
deutsch-deutschen Vergleich widmet. LIEDHEGENER stellt das Thema Urbanisierung als Teilprozess der allgemeinen gesellschaftlichen Modernisierung ins
Zentrum seines Interesses. Zentrale Frage der Katholizismusforschung bleibt
die Frage nach Auflösung, Transformation oder Legitimationsverlust des vormals scheinbar so homogenen Milieus in der Gegenwart. Eine aktuelle und
grundlegende Arbeit zu diesem Thema bietet auch die Veröffentlichung von
Franz-Xaver KAUFMANN: Kirchenkrise. Wie überlebt das Christentum?95
Grundlegend sind auch Untersuchungen zur Rolle der katholischen Eliten
im internationalen Kommunikationsnetz der Intellektuellen, ihre Zeitschriften,
ihre Gruppierungen und ihre Hochschulen96. Herausragendes Beispiel für die
Untersuchung intellektueller katholischer Netzwerke ist ein Forschungsprojekt
der Universität Metz. Eine für die vorliegende Arbeit zentrale Publikation der
Ergebnisse dieses Forschungsvorhabens ist das von Michel GRUNEWALD und
Uwe PUSCHNER herausgegebene, umfangreiche Buch Le Milieu Intellectuel
Catholique en Allemagne, sa Presse et ses Réseaux (1871-1963).97 Es entstand
in der Folge einer Tagung, die 2004 zum Abschluss der deutsch-französischen
Forschungsarbeit an der Universität Paul Verlaine in Metz am Centre d’études
germanique interculturelles de Lorraine stattfand. Dabei ging es um Hintergründe der Entwicklung „katholischer Identität“, insbesondere um den dem
„deutschen Katholizismus eigene[n] Pluralismus“98. Die zentrale Ausgangsthese dieses Forschungsvorhabens lautet: „Mehr als andere gesellschaftliche
Gruppen war das katholische Milieu von den politischen, gesellschaftlichen
und sozialen Veränderungen und Prozessen betroffen, die Deutschland zwischen 1870 und 1960 erlebte.“99 Es geht hier vor allem um katholische Intellektuelle100 und deren Netzwerke.
An dieser Stelle ist die Habilitationsschrift von Thomas RUSTER über Katholizismus und Moderne in der Weimarer Republik zu nennen.101 RUSTER
zeigt in seiner Arbeit an herausragenden katholischen Theologen, wie auf
Umwegen ein Verhältnis zur modernen Lebenskultur hätte aussehen können
oder anders gesagt: wie es der Kirche (auch) durch die historische Zäsur 1933
nicht gelungen ist, die „geistigen Leerräume der Weimarer Zeit mit eigenem
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KAUFMANN, Franz-Xaver (2011). Es ist dies die 3. durchgesehene und erweitere Auflage von
Kirchenkrise. Wie überlebt das Christentum aus dem Jahr 2000. Ergänzt um Partien, die auch
anlässlich des „annus horribilis“ 2010 für die katholische Kirche in Deutschland verfasst
wurden.
Als Beispiele nenne ich hier nur die Rolle des Institut Catholique, Paris und die theologischen
Fakultäten von Fribourg und Luzern in der Schweiz.
Vgl. GRUNEWALD, Michel; PUSCHNER, Uwe [Hrsg.] (2006). Vorausgegangen waren Forschungsarbeiten zu den sozialistischen Intellektuellenmilieus (2002) wie auch den konservativen Intellektuellenmilieus (2003) in Deutschland.
GRUNEWALD, Michel; PUSCHNER, Uwe [Hrsg.] (2006), 5.
Ebd.
Vgl. insbesondere LOTH, Wilfried (2006), 34.
RUSTER, Thomas (1994).
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Material zu füllen“102, obwohl sie doch über ungewöhnlich gute Voraussetzungen verfügte. In der Theologie der Weimarer Zeit liege, so RUSTER, ein heute
noch zündendes und zum Teil noch nicht geborgenes Material von ausnehmend hoher Qualität, das seine Brauchbarkeit für die Gegenwart nicht eingebüßt habe. Neben Namen wie GUARDINI und PRZYWARA tauchen Namen und
Texte auf, die bis dahin mehr oder weniger vergessen waren. Vorgestellt werden u. a. Karl ADAM, Joseph WITTIG, Ernst MICHEL, Max PRIBILLA und Peter
LIPPERT.
2009 erschien die von Hans-Rüdiger SCHWAB herausgegebene Publikation
Eigensinn und Bindung. Katholische deutsche Intellektuelle im 20. Jahrhundert103. Diese Porträts von zum Teil vergessenen „Vor-, manchmal GegenDenker[n], Leitfiguren und Außenseiter[n]“104 sind eine gründliche und zugleich anregende Bestandsaufnahme, die für die weitere Forschung grundlegendes Material zur Verfügung stellt.
SCHWAB und RUSTER haben mit ihren Arbeiten den Blick für Randfiguren
geschärft. In der vorliegenden Arbeit wurden ebenfalls Persönlichkeiten ausgewählt, die eher marginale Positionen einnahmen – im Sinne ihrer Bedeutung
für die Hauptströmungen des deutschen Katholizismus –, um ihre Bedeutung
für Wege des Katholizismus in die Moderne herauszuarbeiten. Für die Frage
nach den Umwegen in eine achtsame Moderne werden in dieser Arbeit die Positionen des Architekten Rudolf SCHWARZ, des Romanisten Hermann PLATZ,
der Pädagogin Helene HELMING oder des jungen Geistlichen Joseph EMONDS
vorgestellt – allesamt aus dem engeren Mitarbeiter- und Freundeskreis GUARDINIs –, deren Auseinandersetzung mit der Moderne die ganze Vielfalt katholischer Positionen auf dem Weg in eine eigene Moderne widerspiegelt.105
Zur Arbeit mit den Quellen
Die vorliegende Arbeit lehnt sich an den kulturgeschichtlichen Ansatz der Katholizismusforschung an und will im Rückgriff auf modernisierungs- und kulturtheoretische Konzepte und soziologische Forschungsmethodik sowie auf
Ergebnisse der Stadtsoziologie einen Beitrag zur Sozialgestalt des Christentums in der Moderne leisten.
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Ebd., 30.
SCHWAB, Hans-Rüdiger [Hrsg.] (2009).
Ebd., 24.
Übrigens alles Personen, die in der Zeit des Nationalsozialismus standhaft blieben und bei der
Gründung der Bundesrepublik 1945 eine wichtige Rolle gespielt haben. Man denke insbesondere an die deutsch-französischen Bemühungen um Völkerverständigung im Umfeld des Katholiken ADENAUER, welche die Grundlage der später erfolgten Gründung der Europäischen
Gemeinschaft bildeten.
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ZUM ZUSAMMENHANG VON KATHOLIZISMUS UND MODERNE
Es wurde dazu umfangreiche Sekundärliteratur rezipiert und verarbeitet, um
sie schließlich an einem Korpus katholischer Quellen aus überregionalen Zeitschriften von 1848 bis 1933 anzuwenden. Eine vollständige Durchsicht der
von Felix DIETRICH herausgegebenen Bibliographie der deutschen Zeitschriftenliteratur wurde von mir nach festgelegten Codeworten106 durchgeführt und
hat mich zunächst auf die relevanten Zeitschriftenartikel (einschließlich Sammelwerke) nach 1896 und in ihren Ergänzungsbänden ab 1861 für den Bereich
der stadtkritischen Positionen (Kapitel 3.4.4, 3.4.6 und 4.3), besonders aber für
die Thematisierung der Phänomene des Verstädterungsprozesses (Kapitel 3.3)
verwiesen. Grundlage für die Erschließung der Themenfelder bildeten die
zeitgenössischen Quellen. Dieses Vorgehen erschien am geeignetsten, um den
Stand der jeweiligen Diskussion im deutschen Katholizismus deutlich zu machen.
Für den Bereich der katholischen Zeitschriften habe ich mich vor allem auf
solche Publikationen gestützt, deren Zielgruppe eine breitere, gebildete Leserschaft war. Es wurden von mir also nicht die theologischen und pastoralen
Fachzeitschriften für den Klerus sowie katholische Tageszeitungen oder Bistumszeitungen untersucht. Es stehen solche katholischen Zeitschriften im Fokus meiner Arbeit, die im weitesten Sinn die „Wiederbegegnung von Kirche
und Kultur“107 zum Programm gemacht hatten und damit auch Fragen der Gegenwart ansprachen. Auf diesem Weg war am Anfang des 20. Jahrhunderts
die Zeitschrift Hochland zunächst einzigartig und entsprechend auch programmatisch vorangegangen. Hier fanden die Auseinandersetzungen um Katholizismus und Moderne, Gemeinschaft und Gesellschaft statt; hier wurden
die Phänomene der Verstädterung aufgezeigt, verworfen oder reflektiert; hier
wurde Großstadt nicht stereotyp als „Moloch“108, sondern auch als „Laboratorium“109 für eine neue Zeit gesehen. Insofern kann man die Zeitschrift Hochland sowie die weiteren analysierten Zeitschriftenreihen auch als Zeitzeichen
verstehen.
Bei den analysierten Zeitschriftenreihen in Kapitel 6 handelt es sich um eine systematische Durchsicht der Zeitschriften Historisch-politischen Blätter
(gegründet 1838), Stimmen aus Maria Laach (1865 bzw. 1871, ab 1914 dann
Stimmen der Zeit), Hochland (1903) sowie die Zeitschriften der Bewegung:
Das Heilige Feuer (1913) und Die Schildgenossen (1920). Kriterien der Auswahl waren, dass die Zeitschriften einen wesentlichen Teil des Untersuchungszeitraums berücksichtigen, überregional und auf einem bestimmten Re106
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Zu diesen Codewörten gehören u. a. Wanderung, Wohnen, Städtewachstum, Bevölkerungswachstum, Landflucht, Gartenstadt/Utopie, Stadtkritik, Hygiene, Stadt/Land, Industrialisierung, Katholizismus allgemein, Gesellschaft, Konfessionsstatistik, Sozialwissenschaften, Milieu/Wahrnehmung, soziale Frage und Presse.
FUNK, Philipp (1927), 108f.
Vgl. den Aufsatz KALKSCHMIDT, Eugen (1904).
SRUBAR, Ilja (1992), 37.