Königliche Hutablage

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Warum in Köln zwölf Männer
60 Tage im Bett verbringen. Seite 14
Chemie Leipzig zwischen besonderer
Fankultur und sportlichen Zielen. Seite 19
Freitag, 22. April 2016
71. Jahrgang/Nr. 94
Bundesausgabe 1,70 €
Schöner
streiten
Yanis Varoufakis
und seine
Mitstreiter wollen
Europa
demokratisieren.
Nun stellen sie
ihr Projekt DiEM
in einem Buch vor.
Seite 16
www.neues-deutschland.de
STANDPUNKT
TTIP wird immer
unbeliebter
Frech, frecher,
Schäuble
Königliche
Hutablage
Silvia Ottow über die neue Idee
des Bundesfinanzministers
Ein Mann, der im Alter von 73
Jahren und mit einer nicht unerheblichen körperlichen Beeinträchtigung unverdrossen eines
anstrengenden Amtes waltet,
verdient allerhöchsten Respekt.
Ob er allerdings auch als Gerüstbauer, Altenpfleger oder Postbote
so weit gekommen wäre, ist stark
zu bezweifeln. Natürlich weiß das
ein Politiker wie Wolfgang
Schäuble. Dennoch bringt er die
Rente mit 70 ins Gespräch und
meint damit ganz ausdrücklich
nicht nur Bundestagsabgeordnete. Er meint auch all die prekär
beschäftigten und ebenso prekär
bezahlten Menschen im Land,
denen er ganz offensichtlich selten begegnet und die ihn wahrscheinlich nicht besonders interessieren. Das ist frech.
Ebenso frech wie die Krokodilstränen über das marode Gesundheitssystem, das der alternden Gesellschaft nicht gerecht
wird. Wer hat es denn so zugerichtet, das arme System? Greift
nicht der Bundesfinanzminister
höchstselbst jedes Jahr in den Gesundheitsfonds und nimmt ein
paar Milliarden für seinen Haushalt heraus? Ist nicht seine Partei
mit dafür verantwortlich, dass Arbeitgeber von steigenden Gesundheitskosten per Gesetz verschont werden? Dass die Einnahmen der Krankenkassen durch
mehr prekäre Arbeit außerhalb
der Sozialversicherungspflicht
schrumpfen? Dass Kliniken an die
Börse gehen, statt ihre Gewinne in
die Krankenversorgung zu investieren? Dass der Pharmaindustrie
ein über das andere Mal gestattet
wird, Krankenversicherte über
Gebühr abzukassieren?
UNTEN LINKS
Beim Feiern sind die Deutschen
vielleicht nicht die Allerfantasievollsten. Aber wenn sie einmal in
Stimmung gekommen sind, gibt
es so schnell kein Halten mehr.
Beispielsweise feierten jetzt in
Dresden vier junge Männer zunehmend enthusiastisch. Es war
der 20. April, aber gut, das muss
natürlich nichts bedeuten. Ein
paar Nachbarn allerdings fühlten
sich gestört; nicht nur durch die
extrem (!) laute Musik, sondern
auch dadurch, dass die Männer
rechte Parolen vom Balkon brüllten. Als die Polizei kam, stellte sie
fest, dass die Männer, womöglich
aus rein künstlerischem Interesse,
auf dem Tisch ein paar astreine
Hakenkreuze aus Kronkorken gelegt sowie sich selbst mit SS-Runen bemalt hatten. Die Polizisten
wurden auch gleich, weil nun mal
Bombenstimmung herrschte, mit
rechten Parolen begrüßt. Was
könnten das für Leute gewesen
sein? Mutmaßliche Neonazis,
tippt die Agentur epd vorsichtig.
Könnte sein. Muss aber nicht.
Schließlich soll man niemanden
grundlos vorverurteilen. wh
ISSN 0323-3375
Foto: imago/ZUMA Press
Eingeschnappte Exzellenzen
sind vor Gericht
bald ganz normale Bürger
In Deutschland und USA schwindet
Akzeptanz für Handelsabkommen
Gütersloh. In Deutschland wächst die Ablehnung des geplanten Freihandelsabkommen
TTIP zwischen der EU und den USA. Jeder
dritte Deutsche lehnt das Abkommen mittlerweile komplett ab, wie eine am Donnerstag von der Bertelsmann-Stiftung veröffentlichte Umfrage ergab. In den vergangenen
zwei Jahren nahm die Skepsis demnach sowohl in Deutschland als auch in den USA zu.
Während sich laut Stiftung 2014 noch mehr
als die Hälfte (55 Prozent) der Befragten in
Deutschland für TTIP aussprachen, waren es
in diesem Jahr nur noch 17 Prozent. Gegen
das Abkommen waren vor zwei Jahren 25
Prozent der Deutschen, jetzt sind es 33 Prozent. Auch in den USA schwindet der Rückhalt für TTIP. Gegen das Abkommen sprechen sich den Angaben zufolge 18 Prozent der
US-Bürger aus, dafür sind nur 15 Prozent. Vor
zwei Jahren waren noch 53 Prozent dafür und
20 Prozent dagegen. Am Sonntag wird USPräsident Barack Obama bei der Eröffnung der
Hannover-Messe vermutlich für das umstrittene Abkommen werben. AFP/nd
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VW einigt sich
mit US-Behörden
Wahl für Verbraucher zwischen
Rückgabe und Reparatur
Foto: Reuters/Eddie Mulholland
Berlin. Geschmäht und verspottet wurde die
Queen schon oft – wegen ihrer Kopfbedeckungen, Marotten, Verwandten und Hofschranzen. Kein Wunder: Elizabeth II. amtiert
seit mehr als 64 Jahren als britische Königin,
und am Donnerstag feierte sie mit allem Pomp
ihren 90. Geburtstag. Viel Zeit und Gelegenheit also für allerhand ordentliche Majestätsbeleidigungen. Die Queen erträgt solche Attacken in der Regel mit royaler Haltung.
Wollte sie allerdings in Deutschland juristisch gegen Beleidigungen vorgehen, könnte
sie Paragraf 103 des Strafgesetzbuchs wohl
nicht mehr bemühen, dessen Wurzeln bis in
die Kaiserzeit zurückreichen. Dort wird bislang geregelt, wie bei Beleidigung ausländischer Staatsoberhäupter vorzugehen ist. Der
Paragraf soll abgeschafft werden; nun sogar
möglichst schnell. Akut geworden ist Sache,
weil zwar nicht Elizabeth II., dafür aber Recep der Beleidigte den 103er in Anspruch nehmen will. Der türkische Präsident Erdogan
dringt darauf, nachdem der Satiriker Jan Böhmermann in seiner Fernsehshow ein auf ihn
gemünztes so genanntes Schmähgedicht vorgetragen hatte.
Inzwischen mehren sich die Stimmen in der
deutschen Politik, die den umstrittenen Para-
grafen nicht erst, wie von Bundeskanzlerin
Angela Merkel angekündigt, 2018 streichen
wollen, sondern möglichst schnell, damit er
schon auf Böhmermann nicht mehr angewendet werden kann. So könnte es passieren,
dass der Paragraf 103 sogar noch vor der politischen Sommerpause vom Bundesrat unschädlich gemacht wird. Dann müssten sich
Majestäten und Exzellenzen auf Grundlage
von Paragraf 185 wehren, der für alle Bürger
gleichermaßen gilt. Schon jetzt haben auch
Autoritäten wie Kaiser Franz, König Kunde, der
Autopapst und Kaiser, Roland keine andere
Möglichkeit. wh
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Bis 70 am Krankenbett oder auf dem Gerüst
Neuer Rentenvorschlag aus dem Unionslager erntet Kritik aus Koalition, Opposition und Gewerkschaft
Bundesfinanzminister
Wolfgang Schäuble heizt die Rentendebatte an, indem er ein Eintrittsalter von 70 Jahren und ein
demografiefestes Gesundheitssystem fordert.
Von Silvia Ottow
Während sich derzeit viele Menschen fragen, wie sie im Alter finanziell zurecht kommen sollen,
schlagen die Junge Union und der
dienstälteste
Bundestagsabgeordnete Wolfgang Schäuble (73)
die Rente mit 70 vor. Ihre Logik:
Angesichts der Alterung der Gesellschaft sei es relativ sinnvoll, die
Lebensarbeitszeit und die Lebenserwartung auch in der Rentenformel in einen Zusammenhang zu bringen.
Der Aufschrei ließ nicht lange
auf sich warten. Am deutlichsten
wurde Matthias W. Birkwald, Rentenexperte der LINKEN: »Wer jetzt
die Rente erst ab Sterben minus X
fordert, hat nicht mehr alle Tas-
sen im Schrank«, sagte er. »Krankenschwestern, Hauptschullehrerinnen, Maurer und Gerüstbauer
können nicht bis 70 und schon gar
nicht darüber hinaus arbeiten.
Nach 40 Jahren harter Arbeit muss
man ab 60 ohne Abschläge in Rente gehen können.« Birkwald verwies darauf, dass die Zahl der arbeitslosen 60- bis unter 65-Jährigen im vergangenen Jahrzehnt um
mehr als das Dreieinhalbfache zugenommen hat.
Nicht jeder habe bis ins hohe
Alter eine robuste Gesundheit,
sagte
SPD-Fraktionsvizechefin
Carola Reimann und forderte
mehr realistisches Augenmaß und
Sachpolitik. DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach sprach
von einem billigen Ablenkungsmanöver des Bundesfinanzministers: »Damit ist die Rente nicht
zukunftsfähig zu machen, sondern die Leistungen werden verschlechtert, weil die Zahl jener
steigt, die vorzeitig mit höheren
Abschlägen aus dem Erwerbsle-
ben ausscheiden, weil sie es
schlicht nicht gesund und in sozialversicherter Beschäftigung bis
zur Rente schaffen.« Buntenbach
forderte verlässliche Leistungen
auch für die Jungen sowie ein höheres Rentenniveau. Auch Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD), die derzeit ebenso an
einem Rentenkonzept arbeitet wie
die Koalition, lehnte Schäubles
Idee ab. Das sei nicht abgestimmt
und stehe nicht zur Debatte.
Könnte es aber bald, denn auch
das sinkende Rentenniveau – verantwortlich für geringer werdende Altersbezüge – steht derzeit zur
Debatte und die ist ebenfalls alles
andere als abgestimmt. Geht es
nach Arbeitgeberpräsident Ingo
Kramer, muss das Rentenniveau
dringend noch weiter runter, der
DGB und viele andere wollen es
erhöhen. Noch größer als das
Rentenproblem
und
»bitter
schwer« ist für Finanzminister
Schäuble allerdings die »Kostenexplosion im Gesundheitssys-
tem«. Er möchte es demografiefester machen.
SPD-Fraktionschef
Thomas
Oppermann und Unionskollege
Volker Kauder (CDU) versuchten
indessen, Dampf aus dem Debattenkessel zu nehmen. Nach einer
Klausur der Koalitionsfraktionen
im Europapark Rust verwiesen sie
auf den Rentenbericht vom
Herbst. Er soll die Grundlage für
weitere Überlegungen zur Rente
sein.
} Lesen Sie morgen
im wochen-nd
»neues deutschland«
wird 70 – wie viele und
vieles andere auch in
diesem Jahr. Wir gratulieren mit einer großen
Glückwunsch-Ausgabe.
San Francisco. Im Abgasskandal haben
Volkswagen und die US-Behörden eine
Grundsatzvereinbarung zur Schadensbehebung getroffen. Das teilte am Donnerstag der
Bundesrichter Charles Breyer in San Francisco mit. Demnach werden die Halter von
Dieselfahrzeugen mit manipulierten Abgaswerten grundsätzlich entscheiden können, ob
der Wagen umgerüstet wird oder sie ihn vom
Konzern zurückkaufen lassen. Zudem soll es
eine »substanzielle Entschädigung« geben.
Die Details der außergerichtlichen Lösung
sollen noch ausgehandelt werden. Dafür
setzte Breyer eine Frist bis zum 21. Juni.
Bereits vor der Anhörung gab es Berichte
über eine mögliche Einigung. So hatte die
»Welt« unter Berufung auf Verhandlungskreise gemeldet, jeder US-Halter eines VWModells, das mit der Betrugssoftware ausgestattet sei, solle 5000 US-Dollar (gut 4400
Euro) an Entschädigung erhalten. In den Vereinigten Staaten sind fast 600 000 Fahrzeuge von der Manipulation der Abgaswerte betroffen. Agenturen/nd
Seiten 4 und 9
Geldwäsche
im großen Stil
Kriminelle bringen pro Jahr 50 bis
100 Milliarden Euro in den Umlauf
Berlin. Kriminelle waschen in Deutschland
nach Erkenntnissen einer vom Bundesfinanzministerium in Auftrag gegebenen Studie wahrscheinlich Geld in einer Größenordnung von etwa 50 bis 100 Milliarden Euro im Jahr. Die oft unterschätzten »großen
Drehscheiben für Geldwäsche« seien wertstabile und leicht handelbare hochpreisige
Investitionsgüter wie Antiquitäten und
Kunstgegenstände sowie Luxusgüter wie Uhren, berichtete das Ministerium in seinem am
Donnerstag veröffentlichten Monatsbericht.
Ein hohes und von den betroffenen Branchen häufig unterschätztes Risiko bestehe
auch beim Immobilienhandel, im gesamten
Baugewerbe, beim Boots- und Yachtverkauf
sowie bei der Betreuung von Treuhand- und
Anderkonten durch Juristen oder Vermögensverwalter, heißt es weiter.
Die Untersuchung nimmt den sogenannten Nicht-Finanzsektor in den Blick nahm. Sie
zeige, dass Deutschland aufgrund seiner Attraktivität als Wirtschaftsstandort ein erhöhtes Geldwäscherisiko aufweise. Agenturen/nd