Neue Intelligenz für die urbane Mobilität

como 14 | Mai 2015
Rubrik
1
Ausgabe 14 | Mai 2015 | www.siemens.com/mobility
como
Fakten, Trends und Stories zu integrierter Mobilität
Neue Intelligenz für
die urbane Mobilität
Fahrerlos durch
die Stadt
One Station –
Christian Höhn
Wie Automatisierung die
Mobilität erleichtert
Ein Ausstellungsprojekt
im DB Museum
2
welcome
„
como 14 | Mai 2015
Elektrifizierung, Automatisierung und Digitalisierung
stehen für große Chancen in
fast allen Lebensbereichen.“
Liebe Leserin, lieber Leser,
Elektrifizierung, Automatisierung und Digitalisierung – diese
drei Begriffe stehen für große Chancen und Möglichkeiten
in fast allen Lebensbereichen. Denn sie beschreiben die aktuelle technische Entwicklung hin zu mehr Effizienz, zur Optimierung und leichteren Organisation vieler Abläufe – zum
Beispiel in den rasant wachsenden Stadtregionen dieser
Erde. Und so beschäftigt sich die vorliegende Ausgabe von
como mit den vielen Optionen, die uns eine digitalisierte
Welt gerade im Bereich der Mobilität bietet.
Ein gänzlich neues Phänomen ist die Digitalisierung unserer Umwelt freilich nicht. Digitale Technik und Internet,
Datenübertragung per Funk und Smartphone-Apps haben
dafür gesorgt, dass die mobile Gesellschaft bereits heute
mitten im Wandel begriffen ist. Längst haben wir uns daran
gewöhnt, dass „mitdenkende“ Software vollautomatisch
komplexe Prozesse kontrolliert, Vorgänge überwacht und
steuert und uns durch intelligente Datenverknüpfung bei
Entscheidungen hilft. Auch im Bereich Transport und
Verkehr – zum Beispiel mit vorausschauenden Services, die
Verfügbarkeiten erhöhen, mit Automatisierungssystemen,
die Kapazitäten steigern, mit innovativen Technologien,
die eine neue Qualität des Reisens schaffen. IT und Automatisierung zählen daher auch zu den wichtigsten technischen
Voraussetzungen für nachhaltige Infrastrukturlösungen
der Smart City von morgen – mit Smart Grids, intelligenten
Gebäuden und integrierten Verkehrssystemen. Nur so lassen
sich Produktivität, Effizienz und Qualität überhaupt nachhaltig verbessern.
„Nachhaltige Lösungen können nur auf Grundlage einer
Gesamtschau entstehen“, erinnert der Wissenschaftliche
Direktor und Geschäftsführer des Deutschen Instituts für
Urbanistik, Professor Martin zur Nedden, im Interview ab
Seite 8. Und so schlagen wir in dieser aktuellen Ausgabe
von como den Bogen von „sprechender“ Verkehrsinfrastruktur am Straßenrand über die automatische Parkplatzsuche
mithilfe von Radarsensoren und „lernender“ Software bis
hin zu innovativen Ideen und Erfindungen für die urbane
Mobilität der Zukunft.
Moderne Verkehrsmanagementsysteme verknüpfen
Straße und Schiene, vernetzte Informationssysteme zeigen
dem Fahrgast effiziente Reiserouten – und fahrerlose
U-Bahnen lassen sich flexibel an das Passagieraufkommen
anpassen: Warum automatisierte Nahverkehrssysteme die
Mobilität in der smarten Stadt von morgen sichern können
und wie sich auch bestehende Metrosysteme sinnvoll modernisieren lassen, lesen Sie ebenfalls in dieser Ausgabe.
Dass Verkehr auch noch andere faszinierende Seiten hat,
zeigen wir Ihnen in der Heftmitte. Mit bemerkenswerten
Fotografien des Nürnberger Fotografen Christian Höhn
wollen wir Ihnen das Projekt „One Station – Poesie der
Bahnhöfe“ näher bringen.
Aber sehen Sie selbst – ich wünsche Ihnen interessante
Lektüre.
Ihre
Karina Rigby
Siemens Mobility, Vice President
Business Development and Strategy
como 14 | Mai 2015
12
30
28
34
Inhalt
horizon
4Sag doch was!
Sicher ist sicher. Deshalb reden
jetzt Autos, Verkehrszeichen und
andere kooperative Systeme
miteinander.
8Städte im Wandel
Digitalisierung ist Zukunft –
sofern sie die Attraktivität des
öffentlichen Verkehrs fördert,
sagt Prof. Martin zur Nedden,
Wissenschaftlicher Direktor und
Geschäftsführer des Deutschen
Instituts für Urbanistik.
3
inhalt
focus
12 Effiziente Mobilität – in der
smarten Stadt von morgen
Der Druck auf urbanes Leben
wächst, Städte müssen sich
immer neuen Herausforderungen stellen. Mit welchen
intelligenten Konzepten kann
die Stadt sich neu erfinden –
und wirklich zukunftsfähig
werden?
18Die Poesie des Bahnhofs
Ein Gedicht von einem
Bahnhof: Der Nürnberger
Fotokünstler Christian Höhn
bereiste fünf Kontinente und
porträtierte literarische Schauplätze mit Gleisanschluss.
move
28 Schlaflos in Riad
Das größte Metro-Projekt der
Welt: Siemens-Mitarbeiter
berichten.
30 Metro digital
Urbaner Nahverkehr auf dem
Weg zum automatischen
Betrieb.
34 Smarter parken
Parkplatzsuche nervt. Doch
nun werden freie Parkplätze
direkt ins Auto gemeldet.
connect
38 Ideen für die Zukunft
Wenn junge Erfinder an morgen
denken, finden sie bemerkenswerte Lösungen.
4
Rubrik
como 14 | Mai 2015
Wenn Autos, Wechselverkehrszeichen, Wetterdatensysteme und Lichtsignale miteinander reden, dient das vor allem der
Sicherheit: Als kooperative Systeme kommunizieren
Fahrzeuge, Verkehrsleitstellen und Infrastruktur miteinander und geben wichtige Verkehrs- oder Warnhinweise an
den Fahrer weiter – lange bevor Gefahren oder Störungen
tatsächlich zu sehen sind. Und das ist keine Zukunftsmusik: Auf einem ITS-Korridor zwischen Rotterdam und
Wien wird diese sogenannte Vehicle2X-Kommunikation in der Praxis getestet.
Sag
como 14 | Mai 2015
A
utofahren kann zunehmend
Nerven kosten: Durchschnittlich 35 Stunden jährlich stehen Deutschlands Autofahrer im
Stau und verbrauchen dabei rund elf
Milliarden Liter Kraftstoff zusätzlich –
allein der wirtschaftliche Schaden
durch Staus lag 2013 in Europa bei
rund 7,4 Milliarden Euro. Dazu
kommen wachsende Sicherheitsrisiken im dichten Stadtverkehr, an unübersichtlichen
Kreuzungen oder in Baustellen – genug Gründe, den
Straßenverkehr mit intelligenten Technologien
besser zu organisieren.
Car2X, die Datenkommunikation zwischen
dem Auto und anderen
Fahrzeugen oder intelligenter Infrastruktur an
der Straße, ist eine solche Technologie. Wichtigste Voraussetzung für
einen entspannteren Ablauf auf den Straßen ist der
Austausch von Informationen in Echtzeit: Bekommen
Fahrer aktuelle Daten über Wetterlage und Straßenverhältnisse,
Verkehrsaufkommen und Baustellen direkt ins Auto oder auf ihr mobiles Endgerät überspielt, können sie
ihr Fahrverhalten rechtzeitig an die jeweiligen Bedingungen anpassen. Verkehrsexperten sind sich sicher: Besser
informierte Autofahrer sparen Energie
und verursachen weniger Unfälle.
horizon
„Modern Talking“ zwischen
Rotterdam und Wien
Smarte Straßeninfrastruktur ist längst
Realität. Siemens beteiligt sich an verschiedenen Pilotprojekten im In- und
Ausland und hat in den vergangenen
Jahren intensiv zum Thema Interaktion zwischen Auto und Infrastruktur
geforscht. Derzeit wird die Car2XKommunikation in der Praxis auf
einem ITS-Korridor (ITS: Intelligent
Transport Systems) von Rotterdam
über Frankfurt am Main bis nach Wien
getestet. Von der Politik unterstützt,
vereint das Gemeinschaftsprojekt der
Niederlande, Österreichs und Deutschlands Siemens mit Unternehmen und
Institutionen wie NXP, Honda, Cohda
Wireless, dem TÜV Süd, IBM und den
Automobilclubs AvD und ANWB. Ziel
ist es, das Potenzial der Technologie
auszuloten und serienreife Lösungen
zu entwickeln.
Wesentliche Elemente der Verkehrskommunikation sind sogenannte Roadside Units am Straßenrand.
Sie werden unauffällig, kaum sichtbar im Stadtverkehr an Verkehrsampeln, auf der Autobahn an Schilderbrücken montiert und bilden die
Schnittstellen zwischen Fahrzeug und
der Infrastruktur. Die Roadside Units
verbinden sowohl die Fahrzeuge als
auch die Infrastruktur einschließlich
der Car2X- Zentrale miteinander.
Die Kommunikation basiert auf IEEE
802.11p, einem WLAN-Standard, der
speziell auf Car2X-Anwendungen zu-
doch was!
5
6
horizon
como 14 | Mai 2015
Mit der App sicher über die Straße
Eine Smartphone-App kann blinden und sehbehinderten
Fußgängern mehr Sicherheit verschaffen
Sicher über die Straße zu kommen, ist für blinde und sehbehinderte Menschen oft keine Kleinigkeit. Bereits alltägliche Besorgungen, wie der Weg
zum Bäcker oder ein Arztbesuch, können zur Herausforderung werden,
wenn sich etwa durch mobile Baustellen oder geänderte Verkehrsführung der gewohnte Weg ändert. Eine spezielle App fürs Smartphone soll
in diesen Fällen für mehr Sicherheit im Stadtverkehr sorgen: Im Rahmen
des Forschungsprojektes „Innerstädtische Mobilitätsunterstützung für
Blinde und Sehbehinderte“ (InMoBS) der Technischen Universität Braunschweig, dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt und Siemens
als technischem Partner wurden in den vergangenen drei Jahren ein Prototyp und ein Online-Routenplaner sowie die dazugehörige technische
Infrastruktur entwickelt, um Kreuzungen für mobilitätseingeschränkte
Fußgänger sicherer zu machen. Infrastrukturkomponenten liefern dabei
per WLAN akustische und haptische Informationen an das mobile
Endgerät – technische Basis ist die Vehicle2X-Technologie.
geschnitten ist. Im Vergleich zu Mobilfunknetzen, die langsam oder instabil
sein können, gewährt die direkte
Verbindung zwischen Verkehrsteilnehmern und Infrastruktur eine
verzögerungsfreie und gesicherte
Übertragung von Verkehrs- und
Fahrzeugdaten.
Daten möglichst reibungslos an Autofahrer zu übermitteln, ist jedoch nur
eine Möglichkeit. Umgekehrt können
Fahrzeuge Informationen direkt aus
dem Verkehrsgeschehen oder über die
akute Wetterlage vor Ort aufnehmen,
ins System einspeisen und dem Verkehrsmanagement so eine breitere
Datenbasis auch für Straßenabschnitte
ohne Verkehrstechnik-Infrastruktur
verschaffen.
Unterwegs im anonymen
„Chatroom“
Eine offene Kommunikation mit der
Verkehrsinfrastruktur birgt Risiken –
ganz ähnlich wie bei anderen kabellosen LAN-Verbindungen. Bei der
Übertragung von Daten kann etwa
deren Integrität mit oder ohne Absicht beeinträchtigt werden. Deshalb
ist der Datenaustausch gegen mögliche Sicherheitsrisiken zu schützen,
um fatale Folgen für die Verkehrssicherheit zu vermeiden.
Werden bei etwaigen Störungen
fehlerhafte Daten ausgeliefert, müssen integrierte Sicherheitsmechanismen diese erkennen und zuverlässig
bewerten. Damit Informationen nicht
manipuliert oder Verkehrsteilnehmer
ausgeforscht werden können, verwenden die Kommunikationsgeräte an
Bord neben Hardware-Sicherheitselementen wechselnde digitale Zertifikate und Verschlüsselungen. Das heißt:
Der Absender bleibt anonym, denn jeder ausgehende Datensatz verwendet
eine andere Signatur. So ist es prak-
como 14 | Mai 2015
Die Infrastruktur gibt Bescheid: Sogenannte „Roadside Units“, mit
denen die Straßen ausgestattet werden, liefern Informationen über
Verkehrsdichte, Straßenzustand oder Ampelschaltzeiten an die
Verkehrszentralen.
tisch unmöglich, ein Fahrzeug aufzuspüren oder zu verfolgen. Lediglich
für die Roadside Units muss erkennbar
bleiben, um welchen Fahrzeugtyp
es sich handelt. Denn für Sonderfälle
werden Zertifikate mit höheren Berechtigungsstufen vergeben, die beispielsweise Einsatzfahrzeugen oder
dem öffentlichen Nahverkehr an Verkehrsampeln Priorität einräumen.
Die Technik ist da, die Kooperationen sind perfekt: Vom niederländischen Elektronik-Zulieferer NXP kommen Funk-Chipsätze für die vernetzten
Fahrzeuge sowie die Hardware-Sicherheitselemente für die Abhör- und Ma-
nipulationssicherheit der Kommunikation. Siemens stellt die intelligente
Infrastruktur bereit und stattet Verkehrsschilder, Ampeln und Verkehrshindernisse mit V2X-Systemen aus.
Zur genaueren Definition: Die Abkürzung V2X steht für die drahtlose
Kommunikation sowohl zwischen Fahrzeugen wie zum Beispiel Autos, Bussen
oder Straßenbahnen untereinander
(Vehicle-to-Vehicle, kurz V2V) als auch
zwischen Fahrzeugen und Verkehrsinfrastruktur (Vehicle-to-Infrastructure,
V2I). V2X ergänzt mit diesen Funktionen bestehende Verkehrsleit- und Fahrerassistenz-Systeme. V2X-fähige Fahr-
horizon
Kreuzungen und Hinweisschilder werden intelligent und arbeiten
mit den Fahrzeugen zusammen, um den Verkehr sicherer, effizienter und umweltfreundlicher zu machen. Der Fahrer erhält wichtige
Verkehrshinweise, Beschränkungen und
Warnhinweise – direkt ins Fahrzeug.
zeuge empfangen auch Informationen
von intelligenten Verkehrszeichen und
stellen sich auf den Schaltzyklus von
Ampeln ein, bevor sie die Kreuzung
erreichen.
Bald sind diese kommunikativen
Systeme serienreif, und in den Forschungsabteilungen bei Siemens stehen bereits weiterführende Aufgaben
auf dem Programm: Im nächsten
Schritt wird etwa die Einbindung von
Fußgängern und Radfahrern in kooperative Systeme untersucht sowie die
exakte Positionsbestimmung von Fahrzeugen – eine wesentliche Etappe in
Richtung autonomes Fahren. ■
7
8
Rubrik como
horizon
como14
12| Mai
| Mai2015
2014
Städte
como 14 | Mai 2015
horizon
im Wandel
Globalisierung, Urbanisierung, Digitalisierung sind die Schlagworte
unserer Zeit – der Mensch und seine Umgebung müssen sich auf
Veränderungen einstellen. Wie aber passen oft über Jahrhunderte
gewachsene Stadtstrukturen in diese neue Zeit? Kann die beginnende urbane Digitalisierung den Wandel erleichtern und worauf
muss geachtet werden, damit Städte auch morgen noch lebenswert sind? Ein Gespräch mit dem Wissenschaftlichen Direktor und
Geschäftsführer des Deutschen Instituts für Urbanistik gGmbH
(Difu), Prof. Martin zur Nedden.
Herr Professor zur Nedden, die Welt
um uns wird in atemberaubender
Geschwindigkeit komplexer – und
komplizierter. Lassen sich die oftmals über Jahrhunderte gewachsenen Stadtstrukturen überhaupt an
den raschen Wandel anpassen?
Die europäische Stadt und damit insbesondere die deutschen Städte haben
sich bisher immer erfolgreich den veränderten Rahmenbedingungen an­
gepasst, ohne ihre grundsätzlichen
Merkmale und Qualitäten zu verlieren. Das kann auch jetzt gelingen.
Eine wichtige Voraussetzung ist eine
umfassende, integrierte Gesamtstrategie in der jeweiligen Stadt, bei deren Erarbeitung die Vor- und Nachteile von Entwicklungsmöglichkeiten
sorgfältig abgewogen werden. Nicht
jede technische Neuerung, die mach-
bar ist, ist im Sinne der Nachhaltigkeit
sinnvoll. Die Digitalisierung bietet
eine Reihe von Chancen. Sie ist aber
nur ein Element im Kontext einer Reihe anderer im komplexen Wirkungsgefüge der Stadtentwicklung.
Das Thema Digitalisierung birgt ja
gerade für Städte mehrere Aspekte...
Ganz richtig, die öffentliche Hand
trägt hier eine ganz besondere Verantwortung. Daten, die einerseits zum
Beispiel im Verkehrsbereich zur Steigerung der Effizienz erhoben werden,
berühren andererseits Persönlichkeitsrechte und erhöhen die Transparenz
der Privatsphäre der Bürger.
Es bedarf des Weiteren der Auseinandersetzung mit der Störanfälligkeit
komplexer elektronischer Systeme. Bedienungsfehler, technische Störungen
oder Hackerangriffe können zu erheblichen Problemen in den Städten führen. Der Aspekt der Resilienz, also der
Widerstandsfähigkeit von – in diesem
Fall digitalen – Systemen, wird in Zukunft eine noch größere Rolle spielen
bei dem Bemühen um die Sicherstellung der Funktionsfähigkeit der Stadt.
Werden derartige Risiken ausreichend
in die Überlegungen einbezogen?
Aktuell übt die technische Machbarkeit
nach meinem Eindruck eine große
Faszination aus. Die Fragen der Nachhaltigkeit, der schon angesprochenen
Resilienz oder aber auch der gesellschaftlichen Konsequenzen geraten
dabei etwas in den Hintergrund. Technischer Fortschritt bietet ohne Zweifel
oft Chancen, aber er birgt eventuell
eben auch Probleme.
9
10
„
horizon
como 14 | Mai 2015
Es bedarf der Auseinandersetzung mit der Störan­fälligkeit komplexer elektronischer Systeme. Der
Aspekt der Resilienz, also der Widerstandsfähigkeit
von – in diesem Fall digitalen – Systemen, wird in
Zukunft eine noch größere Rolle spielen bei dem
Bemühen um die Sicherstellung der Funktionsfähigkeit der Stadt.“
Wie sollten Stadtplaner also am
besten mit den aktuellen Herausforderungen umgehen?
Auf kommunaler Ebene sind eine ganze Menge Probleme gleichzeitig zu bewältigen. Neben den genannten Entwicklungen müssen wir zum Beispiel
auch den Klimawandel und die Maßnahmen zur Anpassung der Städte an
dessen Auswirkungen in die Betrachtungen einbeziehen. Dann gilt es, die
Veränderung der demografischen
Strukturen zu berücksichtigen. Ebenso
den Wandel der globalen Wirtschaft,
der ja zum Teil mit der Digitalisierung
einhergeht. Angesichts der erwähnten
komplexen Wirkungszusammenhänge
zwischen unterschiedlichen Faktoren
von Stadtentwicklung bedarf es, wie
schon gesagt, interdisziplinärer, integrierter Herangehensweisen zur Bewältigung der Herausforderungen.
Nur so können auch die Zielkonflikte
zwischen einzelnen Handlungsoptionen einer sachgerechten Lösung zugeführt werden. Das gilt auch für das
Thema Digitalisierung.
Digitalisierung verspricht ja durchaus Effizienzsteigerungen. Allerdings
bedeutet mehr Effizienz nicht automatisch mehr Qualität. Wenn zum
Beispiel Effizienzsteigerungen in der
Verkehrsabwicklung nur dazu führen,
dass mehr Autos unterwegs sind, ist
im Sinne der Förderung einer nachhaltigen Verkehrsentwicklung wenig gewonnen. Werden sie dagegen einge-
setzt, um den öffentlichen Raum für
andere städtische Funktionen zurückzugewinnen oder die Attraktivität des
öffentlichen Verkehrs zu fördern, gewinnt die Stadt.
Was sollte demnach der Leitgedanke einer nachhaltigen Stadtentwicklung sein?
Inhaltliche Grundlage einer nachhaltigen Stadtentwicklung ist nach wie
vor die ausgewogene Berücksichtigung ökologischer, ökonomischer
und auch sozialer Belange durch integrierte Strategien und daraus entwickelte Maßnahmen – wie es auch
2007 die in Europa für Stadtentwicklung zuständigen Minister in der
Leipzig-Charta formuliert haben.
Wie lassen sich soziale Verhältnisse
durch Stadtgestaltung verbessern?
Für die Gewährleistung stabiler sozialer Verhältnisse in den Städten ist die
Stadtgestaltung ein durchaus wichtiges Handlungsfeld. Sie kann einiges
in dieser Hinsicht unterstützen oder
behindern. Soll aber die Segregation,
also die soziale Entmischung, in einem
erträglichen Rahmen gehalten und
ein Kernmerkmal der europäischen
Stadt, nämlich die Fähigkeit zur Integration von Zuwanderern, auch weiterhin sichergestellt werden, sind
andere Handlungsfelder von noch
größerer Bedeutung. Ich nenne hier
nur die Bodenpolitik, Wohnungspoli-
tik, das Angebot von sozialen Einrichtungen oder die Bildungspolitik und
die Betreuung von Kindern und Jugendlichen. Gerade bei der Erhaltung
der sozialen Stabilität bedürfen die
Kommunen aber auch der Unterstützung von Bund und Ländern. Alleine
sind sie überfordert, zumal die übergeordneten Ebenen wichtige Rahmenbedingungen setzen.
Sehen Sie die konkrete Gefahr, dass
die fortschreitende Verstädterung
wesentliche Funktionen in den Zentren zusammenzieht und die ländlichen Gebiete in Folge mehr und
mehr ausbluten?
In Deutschland sehen wir im Hinblick
auf die Entwicklung des ländlichen
Raumes sehr unterschiedliche Richtungen. Es gibt nach wie vor wachsende ländliche Bereiche, allerdings
sind auch zunehmend ländliche Bereiche von Bevölkerungsrückgang betroffen. Bund und Länder haben diese
Thematik durchaus auf ihrer Agenda.
Man muss aus meiner Sicht Städte
und ländlichen Raum gemeinsam
b‘rachten. Es gibt positive Beispiele
fü‘ooperationen. So zeigen etwa die
Metropolregionen Hannover oder
Nürnberg, wie Städte mit dem umgebenden ländlichen Raum unter anderem im Bereich der Sicherung der
Daseinsvorsorge zusammenarbeiten.
Auch hier kann die Digitalisierung im
Übrigen durchaus hilfreich sein.
como 14 | Mai 2015
horizon
11
Prof. Dipl.-Ing. Martin zur Nedden
Martin zur Nedden studierte Raumplanung und Raumordnung an der TU Wien und war seit den 1990er
Jahren unter anderem Leiter des Planungsamtes und
Stadtbaurat der Stadt Bochum sowie Bürgermeister
und Beigeordneter für Stadtentwicklung und Bau der
Stadt Leipzig. Seit November 2013 ist er Wissenschaftlicher Direktor und Geschäftsführer des Deutschen
Instituts für Urbanistik gGmbH, seit April 2014 auch
Honorarprofessor für Stadtentwicklung und Regionalplanung an der Fakultät Architektur und Sozialwissenschaften der Hochschule für Technik, Wirtschaft und
Kultur (HTWK) Leipzig.
Als Stadtplaner und ehemaliger
Baubürgermeister wissen Sie natürlich, welche Aufgaben in Städten
und Kommunen wirklich vordringlich zu lösen sind. Was steht auf der
Prioritätenliste ganz oben?
Einige der zentralen Herausforderungen sind bereits genannt. Es geht für
die Städte vordringlich um positive
Beiträge zur Bewältigung des Klimawandels und die Klimaanpassung,
den Umgang mit dem demographischen Wandel, die Vermeidung von
Segregation, den sachgerechten Umgang mit den Entwicklungen der digitalen Technologien, die Sicherung der
finanziellen Basis und die Einbindung
der Bürgerschaft. Nachhaltige Lösungen können nur auf Grundlage einer
Gesamtschau entstehen, die ihrerseits
die Basis für eine Zieldefinition und daraus abgeleitete Maßnahmenprioritäten
bildet. Angesichts der unterschiedlichen Gegebenheiten in den Städten
gibt es hierfür keine Patentrezepte.
Jede Kommune muss für sich die richtige Lösung finden. Dabei spielt allerdings der Aspekt einer ausreichenden
finanziellen Ausstattung der kommunalen Ebene eine erhebliche Rolle.
Ist also unter dem Strich alles
wieder eine Frage des Geldes ...?
Die Forderung der kommunalen Ebene
an Bund und Länder im Hinblick auf die
Sicherstellung einer den übertragenen
Aufgaben entsprechenden Finanzausstattung ist sehr berechtigt. Deswegen
legen die Kommunen die Hände aber
nicht in den Schoß. Sie suchen intensiv
nach Lösungen trotz eines in der Regel
engen finanziellen Korsetts. Zum Beispiel hat Leipzig gemeinsam mit Immobilienwirtschaft und Bürgern für das
altersgerechte Wohnen – eine der großen Herausforderungen im Rahmen
des demographischen Wandels – ein
Konzept für barrierearme Wohnungen
entwickelt. Damit wird zwar nicht die
Barrierefreiheit nach DIN-Norm erreicht, aber doch das Hauptziel, nämlich älteren Menschen so lange wie
möglich das Verbleiben in ihrer gewohnten Umgebung zu ermöglichen.
Bei gleichem Budget kann so durch
sinnvoll und vertretbar reduzierte Standards mehr Menschen geholfen werden. So gibt es auf der kommunalen
Ebene viele innovative Ansätze zur Bewältigung der Herausforderungen. ■
Deutsches Institut für Urbanistik
Das 1973 gegründete Deutsche Institut für Urbanistik (Difu) mit Sitz in Berlin ist das größte Stadtforschungsinstitut im deutschsprachigen Raum und die
Forschungs-, Fortbildungs- und Informationseinrichtung für Städte, Kommunalverbände und Planungsgemeinschaften. Das Institut bearbeitet ein umfangreiches Themenspektrum – neben Stadt- und
Regionalentwicklung, Städtebau, Umwelt und Verkehr auch soziale und wirtschaftliche Aspekte – und
beschäftigt sich auf wissenschaftlicher Ebene praxisnah mit allen Aufgaben, die Kommunen heute und
in Zukunft zu bewältigen haben. Alleiniger Gesellschafter des gemeinnützigen Forschungsinstituts ist
der Verein für Kommunalwissenschaften.
12
Rubrik
como 14 | Mai 2015
Effiziente
in der smarten Stadt
como 14 | Mai 2015
Mobilität
von morgen
Rubrik
13
14
Rubrik
como 14 | Mai 2015
Städte sind dynamische Gebilde –
laufend entwickeln sie sich weiter.
Das ist heute wichtiger denn je, denn
der Druck auf urbanes Leben wächst
zusehends: Globale Erwärmung und
demografischer Wandel, Umweltbelastung und Ressourcenverknappung,
soziale Umbrüche und drohender
Verkehrsinfarkt sind nur einige der
zahlreichen Herausforderungen,
denen sich Städte stellen müssen.
In dieser Zeit der Umwälzung sind
intelligente Konzepte gefragt: Als
Smart City kann die Stadt sich neu
erfinden – und zukunftsfähig werden.
como 14 | Mai 2015
focus
15
Die südkoreanische
Hauptstadt Seoul baute
im Rekultivierungsprojekt Cheonggyecheon
eine Stadtautobahn
aus den 1970er Jahren
zurück und schuf ein
bei Einwohnern und
Touristen beliebtes
Naherholungsgebiet.
D
ie ersten Städte der Menschheitsgeschichte trugen
klangvolle Namen: Jericho, Uruk oder Troja waren
in einer dünn besiedelten Welt aus Jägern, Sammlern und Bauern staunenswerte Orte für jeden Besucher.
Wer nach Arbeit, besseren Lebensbedingungen oder Bildung strebte, zog vom Land in die Städte – bis heute treibt
die Menschen Hoffnung auf ein angenehmeres Leben in
die Stadt.
Mit steigender Tendenz, denn das Stadtleben ist keine
Ausnahme mehr, sondern die Regel: Noch zur Mitte des 20.
Jahrhunderts lebten gerade einmal 30 Prozent der globalen
Bevölkerung in Städten, derzeit ist es mit rund 54 Prozent
mehr als die Hälfte. Und im Jahr 2050 wird man feststellen,
dass sich innerhalb von nur hundert Jahren das Stadt-LandVerhältnis exakt umgekehrt hat: Analysten der Vereinten
Nationen (UN) erwarten dann einen urbanen Anteil der
Weltbevölkerung von etwa 70 Prozent.
Dabei ist dieses Wachstum größtenteils in Entwicklungsund Schwellenländern zu erwarten, also in Afrika, dem
Nahen Osten, Lateinamerika und Asien. Allein in China
könnten bereits 2020 über 120 städtische Ballungsräume
mit mehr als einer Million Einwohnern existieren, darunter
etliche Megastädte.
Wo beginnt die Megastadt?
Das geradezu explosionsartige Wachstum von Städten, das
die Menschheit derzeit erlebt, ist historisch gesehen ein relativ neues Phänomen: Erste Megastädte im heutigen Sinne
– also Städte mit mehr als zehn Millionen Einwohnern –
entstanden erst im 20. Jahrhundert als Folge der Industrialisierung. Aktuell zählen die UN-Statistiker bereits 22 Megastädte – nur Moskau auf dem europäischen Kontinent, die
meisten im asiatischen Raum und in Lateinamerika. Bis
2050 sollen es rund 41 Megastädte sein.
Um die rasant anwachsenden Ansiedlungen klassifizieren zu können, mussten neue Begriffe gefunden werden:
„Mega-urbaner Raum“ etwa beschreibt polyzentrische
Verdichtungsräume aus mehreren Kernstädten und ihren
direkt angrenzenden Vororten, umfasst also auch Metropolregionen wie Rhein-Ruhr mit knapp 10 Millionen Einwohnern oder die Greater Los Angeles Area mit – je nach
Zählweise – 13 bis 18 Millionen Menschen.
Metastadt oder Hypercity werden massiv expandierende
Ballungsräume mit mehr als 20 Millionen Einwohnern genannt. Als erste Metastadt gilt Tokio, deren Agglomeration
schon in den 1960er Jahren diese Einwohnergrenze über-
16
focus
como 14 | Mai 2015
In Kopenhagen spielt das Fahrrad als
Nahverkehrsmittel seit Jahrzehnten eine
wichtige Rolle.
In Bogota bewährt sich Bus Rapid Transit
(BRT) als kostengünstiges Bussystem mit
hoher Kapazität.
schritt. Mittlerweile führt das nördliche Perlflussdelta in China
die Statistiken an: In der Region um Guangzhou, die Millionenstädte wie Dongguan, Foshan, Jiangmen, Shenzhen und
Zhongshan umfasst, leben rund 46,5 Millionen Menschen.
Den Zugezogenen verspricht das urbane Leben neue individuelle Möglichkeiten. Für die städtischen Infrastrukturen
aber stellt der massive Bevölkerungszustrom eine enorme, oft
kaum noch zu verkraftende Belastung dar. Die Verkehrsbelastung steigt, weil immer mehr Berufstätige aus den Randzonen ins Stadtzentrum pendeln. Parkplatzmangel und Staus
kosten Zeit, Geld und Nerven, verschmutzen die Umwelt und
beschneiden die Lebensqualität der Menschen. Was also tun?
Das Konzept der „autogerechten Stadt” jedenfalls –
schon zur New Yorker Weltausstellung 1939 in der Vision
„Futurama“ des Autoherstellers General Motors beschrieben und in den zerstörten deutschen Städten der Nachkriegszeit massiv umgesetzt – erweist sich längst nicht
mehr als tragfähig: Mehrspurige Ring- und Hauptverkehrsstraßen, Hochstraßen und Autobahnen quer durch die
Stadt schaffen nur den Anreiz für noch mehr Autoverkehr.
Und so sind ganz neue Ideen gefragt für die zunehmend
schwierigere Herausforderung an die Verkehrsplaner: Wie
schafft man im enger werdenden Stadtraum Mobilität für
immer mehr Menschen?
Die Stadt der Zukunft ist „intelligent“
Smart Citys oder „intelligente“ Städte, die innovative Lösungen für Mobilität, nachhaltige Energien und Raumnutzung
in einem Gesamtkonzept vereinen und trotz zunehmender
Bevölkerungsdichte attraktiven Lebensraum schaffen, könn-
ten diese Entwicklung voranbringen und das Wachstum im
urbanen Raum bewältigen. Der Begriff Smart City ist zwar
nicht ausdrücklich definiert, er beschreibt aber im Grunde
die kluge Kombination aus funktionaler städtischer Infrastruktur, sozialen Strukturen und innovativer Technologie.
Einfacher ausgedrückt: Intelligente Städte nutzen die zur
Verfügung stehenden Räume und Ressourcen so effizient
wie möglich, um einen attraktiven, sicheren und sauberen
Ort zum Leben zu bieten.
Aus der Erfahrung mit „autogerechten“ Städten hat sich
unter Stadt- und Verkehrsplanern die Erkenntnis durchgesetzt: Bauen wir nur Straßen, wird es mehr Auto- und Motorradverkehr geben – mit allen damit verbundenen negativen
Auswirkungen. Schaffen wir jedoch öffentlichen Raum, eine
sichere Umgebung für Fußgänger und Radfahrer sowie Zugang zu gut funktionierenden öffentlichen Verkehrsmitteln,
dann fördern wir eine nachhaltige Mobilität, die auch die
individuellen Lebenslagen und Bedürfnisse der Menschen in
dieser Stadt berücksichtigt.
Die südkoreanische Hauptstadt Seoul ist dafür ein gutes
Beispiel: Die Stadt entwickelte ein Konzept für „grünes
Wachstum“, das im Rekultivierungsprojekt Cheonggyecheon umgesetzt wurde. Die Stadtregierung beschloss im
Jahr 2003 den Abriss einer Stadtautobahn, die in den
1970er Jahren mitten durch die City über einem Wasserlauf errichtet wurde. Mit der Rekultivierung des Flusses
wurde nicht nur das historische Erbe dieser Gegend wiederbelebt, sondern auch ein zentrales Hauptgeschäftsviertel geschaffen. Heute ist Cheonggyecheon ein bei Einheimischen und Touristen beliebtes Naherholungsgebiet.
Zusammen mit Investitionen in öffentliche Verkehrsmittel
como 14 | Mai 2015
focus
17
Die rund sechs Kilometer lange Gurgaon-Metrolinie
im Großraum Delhi ist für rund 30.000 Fahrgäste pro
Stunde ausgelegt.
konnte das Projekt dabei helfen, die Mobilität im Stadtkern
von Seoul zu verbessern.
Die dänische Hauptstadt Kopenhagen hat langjährige
Erfahrung mit diesen Prozessen: Bereits 1947 arbeitete die
Stadt einen Entwicklungsplan aus, den sogenannten „Fingerplan“, der sich am Öffentlichen Personen-Nahverkehr
(ÖPNV) orientiert. Die Stadt sollte, von einem dicht bebauten Zentrum ausgehend, in verschiedene Richtungen durch
ÖPNV erschlossen werden, vergleichbar mit den fünf Fingern einer Hand. Im Laufe der Jahre haben die Kopenhagener ihre Vision umgesetzt und weiterentwickelt. Das Fahrrad
Droht der urbane Verkehrsinfarkt? 2050 werden rund
9,5 Milliarden
Menschen auf der Erde leben –
davon gut 6,5 Milliarden in
urbanen Zentren.
wurde stärker in den Fokus gerückt und Kopenhagen investierte gezielt in den öffentlichen Verkehr. Heute gibt es
neben effizienten innerstädtischen Verkehrsmitteln eine
S-Bahn bis weit ins Umland, die konsequent erweitert und
modernisiert wird (siehe Seite 32).
In anderen Weltregionen, wo Stadtraum und Finanzmittel
knapper sind und der Expansionsdruck größer, bewähren
sich spezielle Lösungen wie etwa Bus Rapid Transit (BRT) als
hochwertiges Bussystem mit hoher Kapazität: Separate Busspuren einzurichten, ist kostengünstiger als der Bau eines
Metro-Netzes, bietet aber die Vorteile, dass die Busse an
Staus vorbeifahren, an Ampeln stets Vorfahrt bekommen
und kürzere Taktzeiten einhalten können.
Die Rahmenbedingungen müssen stimmen
Ohne ausreichende Investitionen in eine nachhaltige Infrastruktur geht es freilich in keinem Fall: Indien will beispielsweise in den nächsten 20 Jahren voraussichtlich 300 Milliarden US-Dollar in städtische Infrastrukturen investieren.
Dabei geht es nicht nur darum, Gelder bereitzustellen. Die
Planungen sollen auch mit konkreten Lösungen mit Massenverkehrsmitteln wie BRT und Metros, die sich gut in die Flächennutzung integrieren lassen, verknüpft werden.
Die Rapid MetroRail Gurgaon ist ein positives Beispiel dafür. Die rund sechs Kilometer lange, komplett von Siemens
erstellte und ausgerüstete Gurgaon-Metrolinie im Großraum
Delhi nahm Ende 2013 den Passagierbetrieb auf. Ihre Trasse
bindet das Geschäfts- und Wohnviertel Gurgaon Cyber City
rund 30 Kilometer südlich von Delhis Zentrum an das Metronetz der Hauptstadt an und wird derzeit um weitere rund
sieben Kilometer in Richtung Süden erweitert. Ausgelegt
ist die Gurgaon-Linie für ein Verkehrsaufkommen von rund
30.000 Fahrgästen pro Stunde – und das ist auch nötig: Täglich sind in Indiens zweitgrößter Stadt rund zwei Millionen
Pendler mit der Metro unterwegs.
Lesen Sie weiter auf Seite 24
18
focus como 14 | Mai 2015
St Pancras and King’s Cross, 2014,
Lightjetprint, Diasec, 172 x 215,4 cm
Chhatrapati Shivaji Terminus, 2014,
Lightjetprint, Diasec, 166 x 238,1 cm
Die Poesie
des Bahnhofs
Wie poetisch kann ein Bahnhof sein? Im Auftrag des DB Museums
bereiste der Nürnberger Fotokünstler Christian Höhn fünf Kontinente
und porträtierte Bahnhofsbauten auf besondere Weise.
B
ahnhöfe sind Verkehrsknoten und Reisestationen, Orte des Abschieds und des Wiedersehens –
und manches Mal sind sie auch literarische
Schauplätze. Auf den Spuren von Weltschriftstellern
wie Mark Twain, Ingeborg Bachmann oder Leo Tolstoi
war der Nürnberger Fotograf Christian Höhn unterwegs und porträtierte einige dieser Schauplätze.
Bekannt wurde der Fotograf mit eindrucksvollen,
großformatigen und hyperrealistisch anmutenden
Panoramabildern von Megacities: Eine hoch auflösende Analogkamera, sehr lange Belichtungszeiten
und der Blick von hoch oben – so verwischen alle
Bewegungen und verleihen den Szenen eine besondere Magie, jenseits gewöhnlicher Betriebsamkeit.
Nun also Bahnhöfe: Zehn Monate lang war Höhn
auf fünf Kontinenten unterwegs und setzte Bahnhöfe,
die einmal Schauplätze der Weltliteratur waren, ins
rechte Licht. Angeregt von Mark Twains humorvollem
Expeditionsbericht „Riffelberg-Besteigung“, reiste er
beispielsweise in den Schweizer Kanton Wallis und
brachte eine geradezu märchenhafte Nachtaufnahme
mit: Der 3.089 Meter hoch gelegene Bahnhof Gornergrat ist Endstation der 1898 eröffneten Zahnradbahn
von Zermatt über Riffelberg zum Gornergrat.
In den Alpen ist der Blick von ganz weit oben kaum
ein Problem. Für das Foto der Tarcoola Station allerdings,
mitten im topfebenen Niemandsland des australischen
Outback gelegen, an der Kreuzung der eingleisigen OstWest-Strecke der Transaustralischen Eisenbahn mit der
Zentralaustralischen Eisenbahn, musste sich Höhn ein
Reisemobil mit extra hohem, begehbarem Dach mieten.
So entstand ein beeindruckendes Stations-Foto – aus
etwa fünf Metern Höhe.
Einige der rund vier Quadratmeter großen Acrylbilder und Leuchtkästen präsentiert das Nürnberger DB
Museum noch bis 21. Juni 2015 in der Ausstellung
„One Station – Poesie der Bahnhöfe“.
como 14 | Mai 2015
focus
Tokyo Station, 2014, Duratrans, Diasec,
LED-Leuchtkasten, 180 x 229,3 x 19 cm
Centerfold, umseitig:
Grand Central Terminal, 2014, Duratrans, Diasec,
LED-Leuchtkasten, 180 x 222 x 19 cm
Titel:
Cape Town Railway Station, 2014, Duratrans, Diasec,
LED-Leuchtkasten, 180 x 227,6 x 19 cm
Christian Höhn, seit 1994 selbstständiger Fotograf, ist
Kennern für großformatige, hyperrealistisch anmutende
Fotografien über „Megacities“ bekannt.
Zur aktuellen Bilderserie „One Station“ ist ein Buch
erschienen: „One Station – Poesie der Bahnhöfe“,
64 Seiten, Verlag für moderne Kunst, www.vfmk.de
23
Das Grand Central Terminal an der Ecke 42nd Street und Park Avenue in Manhattan, nach dem Vorgängerbau oft Grand Central Station genannt, wurde 1913 eingeweiht und ist mit 44 Bahn
steigen und 67 Gleisen auf zwei Etagen der größte Bahnhof der Welt. Es ist als geschichtlicher Meilenstein der Ingenieurskunst gelistet und dient heute ausschließlich dem Pendlerverkehr.
24
focus
como 14 | Mai 2015
Die Avenio-Straßenbahnen für Katars
Hauptstadt Doha werden umfangreichen
Klimatests unterzogen.
Das Fahrrad-Verleihsystem Velowspace arbeitet
mit Siemens-Technik.
Fortsetzung von Seite 17
Ähnliche Programme zur Förderung öffentlicher Verkehrsmittel zur nachhaltigen Stadtentwicklung gibt es unter anderem in China, Brasilien und Mexiko. Nur wenige Agglomerationen haben allerdings die Chance, ihre Verkehrssysteme
von Grund auf neu zu entwickeln und mit modernster Technik auszurüsten. Eine dieser Städte ist Riad, wo derzeit sechs
Metro-Linien gleichzeitig in Arbeit sind (siehe Seite 28). Im
nächsten Jahr werden in Doha, der Hauptstadt von Katar,
auf einer Strecke von 11,5 Kilometern mit 25 Stationen
19 Avenio-Straßenbahnen oberleitungsfrei unterwegs sein.
Leistungsfähige Klimaanlagen und spezielle Dachisolierungen schützen die Fahrgäste vor Sonnenstrahlung und hohen
Außentemperaturen. Siemens rüstet die Bahnen mit dem
HES-Energiespeichersystem aus, das die Batterien selbst bei
kürzesten Stopps an den Haltestellen auflädt und durch
Rückspeisung von Bremsenergie bis zu 30 Prozent der eingesetzten Energie wieder für den Fahrbetrieb nutzen kann.
am besten zu Fuß, andere legt man bequem mit dem eigenen
oder gemieteten Fahrrad zurück. Auch für das Carsharing
mit Fahrzeugen unterschiedlicher Größe, Metro oder Trambahn gibt es von jeder Haustür aus einen persönlichen
Komfortfaktor. Besonderes Augenmerk gehört daher der
Die „Letzte Meile“ gibt den Ausschlag
sogenannten „Last Mile“ im öffentlichen Verkehr: dem Abschnitt des Weges, den Menschen bis zur nächsten Bahn-,
Bus- oder Mietrad-Station zurücklegen müssen und der
nicht länger als ein paar hundert Meter sein sollte. Daher
zählen zu einem Smart-City-Paket neben überlegt geplanten Radwegen, Fußgängerzonen und Haltestellen auch
sinnvolle Förderkomponenten und behördliche Genehmigungen – etwa für Bike-Sharing-Angebote oder RikschaTaxidienste.
Beispielsweise hat in den Niederlanden der Fahrradverleiher
OV-Fiets bereits an 95 Standorten sein innovatives Verleihsystem Velowspace installiert. An dem mit Siemens-Technik
gesteuerten Verleih-Automat können bis zu 24 Fahrräder,
Wird der öffentliche Verkehr effizienter, könnten viele der
heutigen Autofahrer komplett auf ihr Auto verzichten –
zumindest direkt in den urbanen Großräumen. Tatsächlich
würde der öffentliche Verkehr in Zukunft so gut funktionieren, dass selbst in Megastädten ausgedehnte autofreie
Innenstadtbereiche möglich sind. Wie aber lassen sich –
abgesehen von einem dichten, gut ausgebauten ÖPNV-Netz
– öffentliche Verkehrsmittel auch für eingefleischte Automobilisten attraktiver machen?
Der Mensch achtet auf persönlichen Komfort – daher ist
mobile Vielfalt die beste Lösung: Manche Wege geht man
In den Innenstädten sind
sogar autonome Fahrzeuge
als Kurzstrecken-Taxis für
die letzte Meile denkbar –
und technisch heute schon
realisierbar.
26
focus
como 14 | Mai 2015
Auch die neuen ElektroHybridbusse für die
Hamburger Innenstadt
werden an SiemensSchnellladestationen
mit Strom versorgt.
In der schwedischen Hauptstadt
Stockholm hat im März eine mit
Elektro-Hybridbussen betriebene
Buslinie den Linienbetrieb
aufgenommen.
vor Witterung und Vandalismus geschützt, rund um die Uhr
ausgeliehen und zurückgegeben werden. In dem runden
Velowspace-Container dreht ein Karussell je nach Ausleihe
oder Rückgabe entweder ein Fahrrad oder einen freien Stellplatz zur automatisch geregelten Tür. Wird Velowspace an
Mobilitätsknoten wie zum Beispiel Bahnhofsvorplätzen aufgestellt, vereinfacht und erleichtert das System den gezielten und den spontanen Umstieg auf das Verkehrsmittel
Fahrrad.
Solche Maßnahmen sind nicht nur eine Bereicherung
für Menschen, die kein eigenes Auto besitzen. Von guten
Verbindungen und kurzen Wegen profitieren besonders
Menschen mit eingeschränkter Mobilität – und Senioren: In
vielen Ländern werden die Menschen heute deutlich älter
als früher, und die Bevölkerungsgruppe der über 70-Jährigen wächst stetig. Da ältere Menschen im urbanen Raum
vor allem zu Fuß und mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs sind, ist Barrierefreiheit eine mittlerweile selbstverständliche Forderung. Und viele Analysten sind sich einig:
Aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen werden fast
zwangsläufig zu umweltfreundlicher Mobilität in den
Ballungsräumen führen – allerdings nicht von heute auf
morgen, sondern höchstens auf lange Sicht.
Der Nachhaltigkeitsfaktor der Mobilität
Die Lebensqualität in Städten hängt auch vom Schutz der
Umwelt ab. In vielen Ländern ist die Elektrifizierung des
Fahrzeugantriebs nicht nur auf der Schiene, sondern auch
auf den Straßen bereits im Gange. So sind Elektrobusse, wie
sie derzeit auf der neuen „Innovationslinie“ in Hamburgs
Bei unerwarteten Störungen kann
Controlguide OCS auftretende
Betriebsbehinderungen mit
intelligenten Dispositionsfunktionen
minimieren.
Innenstadt verkehren, ein wichtiger Baustein für nachhaltige
urbane Mobilität. Die Elektro-Hybridbusse mit Plug-in-Technologie von Volvo fahren durchschnittlich 70 Prozent der
Strecke im Elektrobetrieb, sind geräuscharm und lokal emissionsfrei. Sie werden von einem Siemens-Ladesystem mit
Strom versorgt, der Ladevorgang an den Endstationen dauert maximal sechs Minuten.
Auch die schwedischen Städte Göteborg und Stockholm
sind auf Elektro-Kurs. Eine einjährige Testphase in Göteborg
zeigte, dass der Elektro-Hybridbus Kraftstoffverbrauch und
Kohlendioxidausstoß gegenüber Euro-6-Dieselbussen um
bis zu 75 Prozent senkt; der gesamte Energieverbrauch kann
um rund 60 Prozent reduziert werden. Und in Stockholm
bedienen bereits seit März diesen Jahres Volvo-Busse und
Siemens-Ladetechnik die Linie 73 zwischen Popsten und
Karolinska Institutet.
Wie wichtig die Alltagstauglichkeit elektrischer Fahrzeuge
auch für einen Massenmarkt ist, zeigt das Beispiel China.
Dort sind schon über 120 Millionen elektrisch angetriebene
Roller auf den Straßen unterwegs – leise, emissionsfrei und
energieeffizient. Sicher: Private Elektromobilität kann nicht
alle urbanen Fragen beantworten. Der tägliche Verkehrsstau
verändert sich zwar zum sauberen Stau, das Problem selbst
aber bleibt. In den Innenstädten muss das private Auto
deshalb eine nachrangige Option erhalten. Das intelligent
vernetzte „digitale Auto“ jedoch wird auch in Zukunft zum
Mobilitäts-Mix gehören können: Fahrassistenzen und
Car2X-Systeme (siehe Seite 4) als Vorstufe zum autonomen Fahrzeug erhöhen schon heute die Sicherheit beträchtlich und ermöglichen zugleich eine „Verflüssigung“
des Straßenverkehrs.
como 14 | Mai 2015
focus
27
Mobilität als Wirtschaftsfaktor:
2010 wurden für den Transport von
Menschen und Waren weltweit
6.400 Milliarden Euro
ausgegeben – fast 1.000 Euro pro
Erdbewohner.
Die smarte Stadt funktioniert digital
Abgesehen von intelligenten Verkehrsleitsystemen, die je
nach Umwelt- oder Verkehrssituation automatisch regelnd
eingreifen können, lässt sich das Stadtleben durch Informations- und Kommunikations-Technologie (IKT) auch auf
der persönlichen Ebene verbessern: E-Government-Programme stellen eine direkte Verbindung zwischen Bürgern
und Behörden her. Mit zahlreichen Software-Applikationen
für Mobiltelefone können die Bürger Umweltdaten im
Auge behalten, ihre Energieeffizienz verbessern oder einen
Parkplatz in der Nähe suchen (Seite 34). IKT sichert den
Zugang zu Informationen über die besten Routen, das
beste Verkehrsmittel, Staus, den nächsten Bus, Rad- und
Fußgängerwege durch die Stadt und vieles mehr. Moderne
Smart-Card-Systeme zur Abbuchung des Fahrpreises reichen über den Bereich ÖPNV hinaus und lassen sich für
ein breites Angebot nutzen – von lokalem und regionalem
ÖPNV über Carsharing bis hin zu Parkgebühren. In manchen chinesischen Städten ist das seit Jahren Praxis, in
Europa gibt es zahlreiche neue Projekte.
Digitale Technik und Internet, Datenübertragung per
Funk und Smartphone-Apps haben dafür gesorgt, dass die
mobile Gesellschaft bereits heute mitten im Wandel begriffen ist. Auch den morgen über 70-Jährigen wird der komfortable Fingertipp auf dem Smartphone selbstverständlicher erscheinen als noch der Vorgängergeneration. Damit
wird klar: Digitalisierung und Automatisierung steigern die
Verfügbarkeit urbaner Mobilitätsdienstleistungen, erhöhen
die Kapazität der Verkehrsmittel und schaffen eine neue
Qualität des Reisens. ■
28
move
como 14 | Mai 2015
Schlaflos in Riad
Sechs U-Bahn-Linien mit 176 Kilometer Streckenlänge – Saudi-Arabiens Hauptstadt
Riad plant das größte Metro-Projekt der Welt. Für die fahrerlosen U-Bahn-Linien 1
und 2 liefert Siemens die schlüsselfertige Gesamtanlage und verantwortet die
Systemintegration der Bahntechnik in einem internationalen Konsortium. Auch das
Siemens-Projektteam stammt aus aller Herren Länder.
Sebastien Gilson,
Projektmanager, Belgien
Gregoire Renie,
Stellvertretender Projektdirektor, Frankreich
Riad Metro ist Ihr erstes
Projekt bei Siemens, und
Sie ­koordinieren gleich alle
sieben Siemens-Gewerke.
Welchen Herausforderungen stellen Sie sich?
Eine der größten Herausforderungen besteht darin,
aus den Mitarbeitern der
involvierten Siemens-Unternehmen ein schlagkräftiges
Team zu bilden. Wir müssen
also Menschen aus aller
Welt dazu bewegen, einheitliche Arbeitsweisen
anzuwenden und gemeinsame Ziele zu verfolgen.
Damit alle internen Beteiligten über denselben Projektwissensstand verfügen,
müssen wir zudem geeignete Kommunikationswerkzeuge einrichten.
Sie sind von Beginn an am
Riad-Projekt beteiligt.
Welche Schritte und Maßnahmen waren für einen
erfolgreichen Projektstart
entscheidend?
Die Anfangsphase war äußerst
wichtig, weil wir in dieser Zeit
den Plan und die Strategie für
die Umsetzung des Projekts
festlegen mussten – einschließlich eines Terminplans. Dem
Engagement des Projektteams
kam deshalb so entscheidende Bedeutung zu, weil die Arbeitsbelastung sehr hoch und
die Ressourcen noch sehr begrenzt waren. Diese Mitarbeiter
waren für den erfolgreichen
Abschluss der Anlaufphase
unentbehrlich. Mittlerweile
sind wir auf Arbeitstemperatur
gekommen, aber es ist ja ganz
normal, dass die Konstruktionsphase die größten Herausforderungen birgt.
Dave Bush,
Projektdirektor, England
Graham Donald, Contract
Manager, Schottland
Ihre Aufgabe ist es, die
Einhaltung des Vertrages
zu überwachen und Änderungen zu koordinieren.
Ein Fall für starke Nerven?
Angesichts der enormen
Größe des U-Bahnprojekts in
Riad stellen uns die Anzahl
und Standorte der Mitwirkenden – Bauplätze, Subunternehmer und Zulieferer –
sowie die Verhältnisse vor
Ort vor zahlreiche Herausforderungen, und das auf
mehreren Entscheidungsebenen. Es gibt zahlreiche
Schnittstellen, die über ihre
eigenen Besonderheiten
verfügen und dabei trotzdem auf klare und einheitliche Weise integriert werden
müssen.
Weltweit haben Sie schon
viele Bahnprojekte erfolgreich realisiert. Was ist bei
diesem Großprojekt in
Riad gleich oder anders?
Allein die Tatsache, dass insgesamt sechs U-Bahn-Linien
gleichzeitig gebaut werden,
stellt uns vor eine riesige
Herausforderung – ganz zu
schweigen von der damit
verbundenen enormen
Belastung der Infrastruktur
von Riad. Dazu kommen
noch die Vor- und Nachteile
der Arbeit in einem multinationalen und multikulturellen Team, die allerdings
überall auf der Welt ähnlich
sind. Vor diesem Hintergrund ist für ein harmonisches Arbeitsumfeld ein gutes Gespür für kulturelle und
religiöse Unterschiede von
entscheidender Bedeutung.
como 14 | Mai 2015
Was ist besonders an diesem Projekt im Vergleich
zu Ihren früheren
Leittechnik-Projekten?
Die Zahl der Beteiligten an
diesem riesigen Gesamtprojekt ist außergewöhnlich.
Teams aus Châtillon, Braunschweig und Riad arbeiten
Hand in Hand. Der aufregendste Teil der Arbeit beginnt, wenn die wichtigsten
Teilsysteme zum ersten Mal
miteinander in Berührung
kommen: In Wildenrath werden wir unser CBTC-System
installieren, um es dort gemeinsam mit den aus Wien
kommenden Inspiro-Zuggarnituren und den aus Singapur gelieferten Bahnsteigtüren zu testen.
Sie leben und arbeiten
schon länger in SaudiArabien, nun ist auch Ihre
Familie hier. Lässt sich Ihre
Wahlheimat mit Portugal
vergleichen?
Aus beruflicher Sicht sind
die Herausforderungen ähnlich wie bei jedem anderen
Projekt mit einem derartigen Mix an Beteiligten. Andererseits gibt es diese kleinen Details, an die man sich
gewöhnen muss, zum Beispiel, dass das Wochenende
auf Freitag und Samstag
fällt. Es passiert mir noch
immer häufig, dass ich am
Sonntag die Büros in Europa
anrufen möchte, um geschäftliche Dinge zu erledigen.
Aber abgesehen von diesen
kleinen kulturellen Unterschieden fühle ich mich in
Riad vollkommen zuhause.
29
Wissam Rammal,
Scheduler, Libanon
Ricardo Soares,
Projektmanager Bahnelektrifizierung, Portugal
Juan Jover, Projektmanager
Bahnautomatisierung,
Spanien
Rubrik
Benjamin Polan, Assistent der
Projektleitung, Deutschland
Sie sind nun schon einige
Monate in Riad. Wie würden Sie persönlich die aktuellen Verkehrsstrukturen und -gewohnheiten
charakterisieren?
Die derzeitige Verkehrssituation wird stark von Staus
bestimmt. Da keine öffentlichen Verkehrsmittel zur
Verfügung stehen, ist jeder
auf sein eigenes Auto angewiesen. Die Straßen sind
hier zwar in einem guten
Zustand und neu, werden
dem Verkehrsaufkommen
aber trotzdem nicht gerecht.
Daher wird unser Metro-System der Stadt und den Menschen von Riad eine enorme
Entlastung bringen!
Sie koordinieren Zeitpläne
und Termine innerhalb
des multinationalen Konsortiums. Was ist bei der
Zusammenarbeit so unterschiedlicher Menschen für
Sie wichtig?
Als Mitglied eines multikulturellen Teams bin ich ständig mit der Herausforderung
konfrontiert, Koordinationsverluste aufgrund von Kommunikationsproblemen,
unterschiedlichen Arbeitsweisen, sprachlichen Barrieren und sonstigen Missverständnissen zu minimieren.
Es ist wichtig, das jeweilige
Herkunftsland des Mitarbeiters zu berücksichtigen. Ich
möchte jedoch auch betonen, dass ein multikulturelles Team aufgrund des breiten Erfahrungsspektrums
auch vielfältige Problemlösungsansätze bietet.
30
Rubrik
como 14 | Mai 2015
Elektrische Bahnen zählen generell zu den leistungs­
fähigsten Verkehrsmitteln, doch leider stößt die Verkehrs­
infrastruktur oft an Kapazitätsgrenzen. Bewährte Techno­
logien und IT-gestützte Lösungen von Siemens können
dabei helfen, vorhandene Kapazitäten besser auszulasten –
auch nachträglich.
Metro
digital
como 14 | Mai 2015 move
31
Automatische Zugsteuerung mit Trainguard MT
Weichenantrieb Achszähler
Balisenantenne
Eurobalise
Punktförmige Zugbeeinflussung mit
Fixed-Block-Betrieb
P
Balisenantenne
Weichenantrieb Achszähler
Eurobalise
Linienförmige Zugbeeinflussung mit
Moving-Block-Betrieb
endler überall auf der Welt müssen es Tag für Tag erfahren: Die Nahverkehrssysteme in und um Metropolen geraten zunehmend an ihre Grenzen. Ob aus ökologischer Einsicht oder einfach, um zeitraubenden Staus auf
der Straße aus dem Wege zu gehen – die Zahl der Bahnpendler steigt kontinuierlich. Und so können U-Bahn- und
Metro-Systeme, obwohl sie zu den leistungsfähigsten
Verkehrsmitteln überhaupt zählen, den stetig wachsenden
Strom der Passagiere oft kaum noch aufnehmen. Ein Ausbau der Infrastruktur ist allerdings nicht nur zeit- und kostenintensiv, sondern vielfach überhaupt nicht möglich.
Die Lösung liegt in der Digitalisierung und Automatisierung des Bahnbetriebs. Zum Beispiel lassen sich mit intelligenten Zugsteuerungssystemen mehr Passagiere auf vorhandenen Strecken befördern, zugleich aber Sicherheit und
Zuverlässigkeit steigern und die Energie- und Wartungskosten für die Betreiber reduzieren.
Der Grund liegt im durchaus bewährten Prinzip der automatischen Blocksicherung: Fahren mehrere Züge hintereinander auf derselben Strecke, müssen sie stets einen sicheren
Mindestabstand zueinander einhalten. Bei herkömmlichen
Verfahren ist die Strecke in feste Gleisabschnitte (Fixed Block)
aufgeteilt, die durch stationäre Signale am Streckenrand
abgesichert sind. Fährt ein Zug in einen Gleisabschnitt ein,
wird dieser in voller Länge durch das rückwärtige Haltesignal blockiert. Erst wenn sicher ist, dass der vorausgefahrene
Zug diesen Block verlassen hat, wird er für einen nachfolgenden Zug freigegeben. Solche starren Blockabstände haben
jedoch einen wesentlichen Einfluss auf die Zugfolgezeit.
Management in Braunschweig. Das Moving-Block-Verfahren
braucht weder feste Gleisabschnitte noch stationäre Signale.
Der benötigte Raumabstand zwischen zwei Zügen setzt sich
aus dem Bremsweg bei aktueller Geschwindigkeit plus einem
Sicherheitsabstand zusammen. Er wird während der Fahrt
laufend neu errechnet und direkt an die Zugsteuerung
übermittelt, die einen nachfolgenden Zug automatisch auf
Abstand hält. Die Fahrzeuge bleiben in Bewegung, und weil
sich die Blockstrecke mit den Zügen vorwärtsbewegt, lassen
sich optimal verkürzte Raumabstände und eine dichtere
Zugfolge erreichen, unter Fachleuten „Headway“ genannt.
„Das erlaubt nicht nur kurze Zugfolgezeiten von bis zu 75
Sekunden, sondern auch eine flexible Anpassung an das
jeweilige Fahrgastaufkommen“, sagt Andreas Schwarte.
Sind zudem die Fahrzeuge mit einer automatischen Steuerung (Automatic Train Operation ATO) ausgestattet, gibt
der Fahrer zwar das Signal zum Losfahren und kann in
Gefahrensituationen eingreifen. Das Fahren auf der Strecke
und das exakte Anhalten am Bahnsteig besorgt allerdings die
Automatik – und dies enorm energieeffizient: Anhand des
gespeicherten Streckenprofils berechnet das System laufend, wie es den Zug beschleunigen muss, wie es bei niedrigstem Energiebedarf die kürzestmögliche Zugfolgezeit
zum vorausfahrenden Zug einhalten – und dennoch pünktlich an der nächsten Station ankommen kann. Während
menschliche Fahrer mitunter zu stark auf die Bremse treten,
um dann wieder verstärkt zu beschleunigen, kann ein
ATO-System den Energiebedarf bei gleicher Fahrzeit um bis
zu 30 Prozent reduzieren.
CBTC löst viele Probleme
Modernisieren „unter rollendem Rad“
„Moderne interaktive Signalsysteme wie Trainguard MT von
Siemens arbeiten mit dem Moving-Block-Verfahren und
steuern die Züge via Communications-based Train Control
(CBTC), also per Funk“, sagt Andreas Schwarte, Senior Key
Expert Metro Design & Architecture bei Siemens Mobility
Weil CBTC-Systeme alle wesentlichen Informationen per
Funk direkt in den Zug übertragen, sind keine herkömmlichen Fahrsignale am Streckenrand nötig. Und was nicht vorhanden ist, muss auch nicht gewartet werden – insgesamt
sind die Maintenance-Kosten für die Zugsicherung also
32
move
como 14 | Mai 2015
Mit dem Trainguard MT
Zugsteuerungssystem lassen
sich unterschiedliche Automatisierungsgrade für den
Metrobetrieb realisieren,
zum Beispiel fahrerlos wie
in Algier und New York oder
unbegleitet wie in Hongkong.
deutlich niedriger. Für neue Metro-Projekte wie etwa die
fahrerlose U-Bahn in Saudi-Arabiens Hauptstadt Riad (siehe
Seite 28) ist heute also CBTC-basierte Signal- und Kommunikationstechnik die erste Wahl – aber wie lässt sich ein
bereits bestehendes Metro-System auf den neuesten Stand
bringen? Schließlich wird kein Betreiber den gesamten Metroverkehr mal eben für ein paar Monate stilllegen können.
„In aller Regel modernisieren wir ‚unter rollendem Rad’ –
also bei laufendem Betrieb“, sagt Andreas Schwarte. Tagsüber fahren die Züge wie gewohnt, nachts während der Betriebspausen werden notwendige Umbauten an der Strecke
durchgeführt. „Allerdings sind Migrationsstrategien sehr
komplex und individuell auf die Situation vor Ort angepasst,
ein Schema F gibt es nicht.“ Im Idealfall kann das neue
CBTC-System parallel zur ursprünglichen Zugsicherung betrieben werden. Sind beide Systeme funktionsfähig, lassen
sich auch die Fahrzeuge Stück für Stück mit dem neuen
System ausstatten – bis zum Tag Null der Umstellung fahren
die Bahnen dann im Mischbetrieb.
Meist erfahren auch die Betriebsleitzentralen eine entsprechende Modernisierung. So erhielt beispielsweise ein
Teilbereich der von New York City Transit (NYCT) betriebenen New Yorker U-Bahn vor einigen Jahren eine komplett
neue integrierte Leitzentrale mit automatischem Betriebsleitsystem: Das System steuert nun auf 175 Streckenkilometern 172 Stationen, 45 Stellwerke, 46 zentrale Technikräume, 1.758 Stelleinheiten und 4.811 Anzeigeeinheiten für
gleichzeitig bis zu 200 Zugbewegungen. Rund ein Drittel
aller U-Bahn-Stationen wird von der neuen Betriebsleitzentrale in Manhattan ferngesteuert. Auch hier erfolgte
die Umstellung auf Trainguard MT „unter rollendem Rad”.
„Einen anderen Weg sind wir in Istanbul gegangen“, so
Andreas Schwarte. Dort sollte die ursprüngliche Linie M1,
eine wichtige Verbindungslinie für den Verkehr in der
15-Millionen-Stadt, sehr kurzfristig erweitert und bei dieser Gelegenheit modernisiert werden. „Aus Zeitgründen
wurde hier zunächst die Streckenverlängerung vorüberge-
hend mit einem einfacheren System ausgerüstet, anschließend alle Fahrzeuge und dann die gesamte Linie auf CBTC
umgestellt.“ Nicht nur in abgeschlossenen U-Bahn-Netzen
lassen sich solche Modernisierungsprojekte durchführen,
das zeigt sich etwa an der von Banedanmark betriebenen
S-Bahn Kopenhagen, die auf einem Netz aus vielen Linien
mit gemeinsam genutzten Strecken bis weit ins Umland
fährt. Andreas Schwarte: „Hier werden die vorhandenen
Fahrzeuge zunächst zusätzlich mit dem neuen System
ausgerüstet, dann die Strecke abschnittsweise modernisiert und die jeweils fertigen Abschnitte umgestellt. Das
Besondere daran ist, dass nach der Umstellung alle streckenseitigen Signale abgebaut werden – sie sind dann
nicht mehr nötig.“
Alles neu – oder Bestehendes erneuern?
In der Regel lassen sich vorhandene Metro-Züge problemlos
mit einem modernen CBTC-System ausstatten. „Wenn die
technische Substanz eine Modernisierung sinnvoll erscheinen lässt, sind meist neue Triebdrehgestelle für bessere Beschleunigung fällig, Rekuperations-Systeme für die Energierückgewinnung beim Bremsen – und in der Folge oft auch
eine modernere Bahnstromversorgung. Da kann schon ein
größeres Paket zusammenkommen.“ Daher investieren viele
Betreiber bei so umfassenden Modernisierungen auch in
neue Fahrzeuge: Statt der früher üblichen, abgeschlossenen
Einzelwagen sind heute durchgängige Triebzüge mit zahlreichen breiten Türen gefordert – die erlauben jenen zügigen
Passagierwechsel an den Stationen, der für kürzere Zugfolgen unabdingbar ist. „Längst geht der Trend auch zu fahrerlosen Systemen, die den Betrieb selbst deutlich flexibler
machen“, so Schwarte. „Zum Beispiel lassen sich bei großen
Veranstaltungen oder kurzfristigem Anstieg der Fahrgastzahlen schnell zusätzliche Fahrzeuge einschleusen und anschließend wieder herausnehmen, ohne Dienstpläne fürs
Fahrpersonal ändern zu müssen.“
como 14 | Mai 2015
move
33
Innovationen auf der Schiene
Stillstand gibt es nicht: Rund 4300 Patente
meldete Siemens im vergangenen Jahr weltweit an, darunter zahlreiche Innovationen
im Bereich Mobility. Zwölf der SiemensForscher und -Entwickler wurden als „Erfinder des Jahres 2014“ ausgezeichnet – die
folgende Erfindung ist typisch für die fortschreitende Digitalisierung im Bahnverkehr.
Dass bei Bedarf sogar ein Mix aus geführten und
fahrer­losen Zügen möglich ist, belegte das Projekt
„Rubin“ in Nürnberg schon vor Jahren: Der einjährige
Mischbetrieb 2010 auf der Stammstrecke mit konventionell geführten Zügen der Linie U2 und automatisch
betriebenen U3-Zügen war Besonderheit dieser ersten
fahrerlosen U-Bahn Deutschlands. Bis heute gilt das Projekt als Nachweis dafür, dass eine Umrüstung von konventionellem auf automatischen Betrieb ohne Unterbrechung des laufenden Betriebs möglich ist – interessant
gerade für Städte, die ihr bestehendes U-Bahn-System
nach und nach automatisieren wollen.
Trainguard MT überzeugte auch den Metrobetreiber
ViaQuatro, der in der brasilianischen 11-Millionen-Stadt
São Paulo die neu errichtete Linie 4, die erste fahrerlose
U-Bahn Lateinamerikas, mit CBTC-basierter Leit- und
Kommunikationstechnik von Siemens ausrüsten ließ.
Die Linie erweitert das Metronetz des größten industriellen Ballungsraums auf dem südlichen Kontinent um
11 Stationen und 12,8 km Strecke und bindet auch die
bereits bestehenden Linien 1, 2 und 3 ein.
Und das vollautomatische Fahren liegt weiter im
Trend – weltweit: Immer mehr Nahverkehrsunternehmen entscheiden sich bei Neubau oder Modernisierung
für diese Investition in die Zukunft. Und somit für mehr
Effizienz, Flexibilität und Attraktivität. ■
„Web Based Diagnostics“: Fehler schneller finden
Auf der Schiene ist Digitalisierung längst Alltag: Rund 200
Steuergeräte sind in Schienenfahrzeugen von Siemens mit­
einander vernetzt. Ralf Beyer, Automatisierungstechniker
und Systemarchitekt der Siemens Mobility in Erlangen, hat
einen webbasierten Service für Schienenfahrzeuge entwickelt, mit dem sich diese Steuergeräte drahtlos von Tablet
oder Smartphone anwählen lassen.
Es geht vor allem darum, mögliche technische Probleme
zu diagnostizieren und Ausfälle zu prognostizieren, bevor es
dazu kommt. Doch die Technik moderner Schienenfahrzeuge
sitzt nicht mehr zentral in voluminösen Schaltschränken,
sondern überall im Zug in die Wände integriert, damit jeder
Zentimeter im Fahrzeug für eine komfortable Inneneinrichtung genutzt werden kann.
Bei „Web Based Diagnostics“, dem webbasierten Service
von Ralf Beyer, ist die Software direkt in die Komponenten
integriert und bleibt dort immer auf dem aktuellen Stand.
Der Techniker klinkt sich – die Zugangsdaten vorausgesetzt –
einfach mit dem Browser von Tablet oder Smartphone in das
Netzwerk des Fahrzeugs ein, kann dort nach Fehlern suchen
und diese auch beheben. In den Flotten des britischen
„Thameslink“, im deutschen „ICx“ sowie im österreichischen
„Desiro ÖBB“ wird Ralf Beyers Erfindung erstmals eingesetzt.
34
move
como 14 | Mai 2015
Kaum ein Autofahrer, der die Situation nicht
kennt: In Großstädten sind Parkplätze meist
Mangelware – an Haupt- und Nebenstraßen
ebenso wie in verkehrs­günstig gelegenen
Parkhäusern. Gestützt auf ein neues Radar-
Smarter
como 14 | Mai 2015
move
system von Siemens, können Verkehrsteilnehmern künftig per App oder Navigationsgerät in
Echtzeit freie Parkplätze gemeldet werden –
ein weiterer Wegbereiter für „smarte“ urbane
Strukturen.
pa r k e n
35
36
move
como 14 | Mai 2015
P
arkplatzsuche nervt. Endlich am Ziel angekommen,
ist weit und breit keine Parklücke zu sehen – und
dann beginnt ein lästiges Ritual: endlose Runden
um den Block drehen, in der Hoffnung, den Wagen dann
irgendwo in der Nähe des Ziels abstellen zu können. Das
kostet Zeit, Benzin und jede Menge Nerven.
Nach einer aktuellen internationalen Studie zum Park­
raum-Management dauert eine Parkplatzsuche in Deutsch­
land durchschnittlich fast zehn Minuten, in Italien sogar
bis zu 15 Minuten, pro Suche fährt man rund 4,5 Kilo­
meter und belastet dabei die Umwelt unnötig mit 1,3
Kilogramm CO₂. Befragungen haben zudem ergeben, dass
rund 30 Prozent aller Fahrer in verstopften Innenstädten
auf Parkplatzsuche sind. In besonders belasteten Stadtvierteln werden jährlich Strecken gefahren, die 14 Umrundungen der Erde entsprechen. So weit die Statistik.
Siemens hat nun eine Parkmanagement-Lösung ent­
wickelt, mit der Städte gezielt der zunehmenden Parkplatznot begegnen können. Mit dieser Lösung, die ab
Sommer erstmals in Berlin in einem Pilotprojekt getestet
wird, informieren sich Verkehrsteilnehmer mühelos vom
Ausgangspunkt bis zum Zielort ihrer Fahrt über freie Park­
plätze am Straßenrand. Verschiedene Sensortypen und
-technologien lassen sich zu einem „smarten“ Park­raumManagementsystem integrieren, das den individuellen
Anforderungen jedes Stadtgebiets optimal angepasst
werden kann und den Kommunen eine intelligente Park­
raumbewirtschaftung ermöglicht.
Parkplätze finden mit Radar-Augen
Kern der Smart-Parking-Lösung ist eine neu entwickelte
Radarsensorik, die „über Kopf“ angebracht wird, aus mehreren Metern Höhe ständig den Parkraum überwacht und
den Belegungsstatus von Parkflächen an eine Parkleitzentrale meldet. Diese Sensoren können ganz unkompliziert
an oder in Straßenleuchten angebracht werden und verlangen keine Eingriffe in die Infrastruktur – eine Strom-
Die Radarsensorik der Smart-Parking-Lösung überwacht
den Parkraum aus mehreren Metern Höhe und meldet den
Belegungsstatus von Parkflächen an eine Parkleitzentrale.
versorgung ist ja ohnehin vorhanden. Dennoch ist das
Ergebnis genauer und aussagekräftiger als beispielsweise
bei Bodensensoren, die ausschließlich „frei“ oder „belegt“
melden können: Die Radar-Sensorik zeigt nicht nur an, ob
sich ein Objekt auf der Parkplatzfläche befindet, sondern
liefert auch Informationen zu Position und Größe des
Fahrzeugs. Selbst blockierte Radwege und Busspuren oder
zu Unrecht genutzte Standflächen an Stromladesäulen
erkennt das Überkopf-System und schafft so die Möglichkeit, falsch geparkte Fahrzeuge zeitnah zu detektieren.
Hoch über dem Verkehrsraum angebracht, lassen sich
die Sensoren praktisch unsichtbar in die Gehäuse von
Straßenleuchten integrieren und bleiben so vor mutwilligen Beschädigungen weitgehend geschützt. Die Messdaten
gehen per Mobilfunk an die Zentrale, wo die Sensordaten
ausgewertet, die aktuelle Parkplatzbelegung errechnet
und die Informationen für Dienstleistungen wie etwa eine
Parkplatz-App aufbereitet werden. Auch RoutenplanerApps und im Fahrzeug integrierte oder infrastrukturbasierte Navigationssysteme können mithilfe dieser Informationen die Suchzeit für Autofahrer reduzieren und den
Verkehr entlasten.
Das Besondere an der Smart-Parking-Lösung ist, dass
die Software mit einem lernenden System arbeitet. Sie
erkennt, wenn sich die Parkplatzsituation zu bestimmten
Zeiten wiederholt, kombiniert statistische und Echtzeitdaten und errechnet Prognosen, aufgrund deren Autofahrer abschätzen können, welche Situation sie bei ihrer
Ankunft erwartet. Die Lösung unterstützt die Nutzer aber
auch bei der Wahl des geeigneten Verkehrsmittels: Mit Informationen über den Zeitaufwand für das Sichern einer
Parkfläche und die fußläufige Entfernung vom Parkplatz
zum gewünschten Zielort können sich Autofahrer rechtzeitig entscheiden, ob sie besser einen Park & Ride-Parkplatz
am Stadtrand ansteuern oder gleich ganz mit öffentlichen
Verkehrsmitteln anreisen. So kann ohne Frage die städtische Infrastruktur besser genutzt und gezielt vor Überlastung geschützt werden.
Routenplaner-Apps und Navigationssysteme können
mithilfe dieser Informationen freie Parkplätze anzeigen
und so die Suchzeit für Autofahrer reduzieren.
como 14 | Mai 2015
Ein erster Schritt zur intelligenten Stadt
Die Smart-Parking-Lösung als modulares, infrastrukturbasiertes Sensorsystem nutzt zur Kommunikation zwischen
Sensoren und Zentrale die „Internet of Things“-Plattform
des US-Unternehmens Intel – und bildet damit die Grundlage für ein Sensor- und Kommunikationsnetzwerk, das
selbst für künftige Smart-City-Konzepte geeignet ist. Wird
sie durch eine RFID-Lösung ergänzt, lassen sich beispielsweise auch nutzerbezogene Berechtigungen etwa auf
move
Anwohnerparkplätzen automatisch überprüfen oder Parkgebühren minutengenau erfassen und abrechnen.
Die Smart-Parking-Lösung von Siemens geht sogar noch
einen Schritt weiter: Von der Unterstützung des Verkehrsmanagements über adaptives Lichtmanagement oder die
Auswertung von Emissionsdaten bis hin zu Mehrwertservices für den Einzelhandel sind viele weitere Anwendungen
denkbar. Das Ergebnis ist eine „smarte” und innovative Stadt
mit intelligenten Steuerungsmechanismen. ■
Smart Parking auf einen Blick
Innovative Technologien
Vorteile
• Sensorik „von oben“, geschützt in die Leuchteinheiten von Straßenlaternen integriert oder autonom
• Sensorabdeckung nicht nur des reinen Parkraums,
sondern auch von Parkverbotszonen (Feuerwehrausfahrten, Tramschienen usw.)
• Authentifizierung berechtigter und unberechtigter
Parker über RFID-Technologie (Anwohner- oder
Behindertenparkplätze)
•Automatisiertes Bezahlen möglich
• Kommunikationsnetzwerk zur Weitergabe der
Daten an Zentrale
• Zusätzliche Services möglich, z.B. adaptive Licht­
regelung auf Basis des tatsächlichen
Verkehrsaufkommens
•Weniger Suchfahrten, besserer Verkehrsfluss,
weniger Staus
•Statistische Daten und Echtzeitdaten über freien
Parkraum
•Optimale Nutzung der Infrastruktur
• Einfache, kostengünstige Erfassung von
Parkdaten
•Bargeldloses Parken mit automatischer,
minuten­genauer Abrechnung möglich
•Höhere Verkehrssicherheit durch effizientere
Ahndung illegalen Parkens
•Intelligente Nutzung von Parkinfrastruktur und
Daten für weitere VerkehrsmanagementAnwendungen
•Anreiz für Autofahrer zum Umsteigen auf
öffentliche Verkehrsmittel durch transparente
Parkraum- und Zeitbedarfsprognosen
Hoch über der Straße sind die Sensoren vor
Beschädigungen geschützt. Sie lassen sich beispielsweise an einem Leuchtenmast befestigen.
37
Smart Parking im Labortest: Die Sensoren können
auch unsichtbar in das Gehäuse von Straßenleuchten
integriert werden.
38
connect
como 14 | Mai 2015
Dank Wärmebild-/Infrarotkameras
können Quadcopter den Parkraum
auch nachts erkennen
Quadcopter nutzen
drahtlose Kommunikation
zur Datenübertragung
Der Quadcopter findet über Bildverarbeitungsalgorithmen freie Stellplätze sowie
den kürzesten Anfahrtsweg.
Der Quadcopter
überwacht verdächtige
Aktivitäten
Basierend auf Zeit und
Standort wird das Fahrzeug
zum optimalen Stellplatz
geleitet
Der Quadcopter erkennt Fahrzeuge
mit Behindertenparkausweis und
leitet diese auf einen freien Stellplatz
1.
Platz
Ideen
für die Zukunft
Die Welt der Mobilität wird zunehmend komplexer, Verkehrsprobleme dringlicher.
Da sind frische Ideen gefragt. Mit Wettbewerben und Kooperationen gibt Siemens
kreativen Köpfen regelmäßig Chancen.
I
ntelligente Technologien zum Schutz wertvoller Ressourcen, Nachhaltigkeit, Klimaschutz und intelligente
Verkehrsmanagement-Konzepte für die nachhaltige
Mobilität von morgen sind seit mehr als 160 Jahren Kern­
themen bei Siemens. Sollen aber heutige und zukünftige
Verkehrsprobleme sinnvoll gelöst werden, sind mehr denn
je revolutionäre Ideen gefragt.
Ideen, um die Mobilitätsherausforderungen
von morgen zu lösen
So startete im vergangenen Jahr der Ideenwettbewerb
„Siemens Mobility IDEA Contest – Improving Design and
Engineering for All“, bei dem Kreative weltweit Innovationen
zur Verbesserung der Mobilitätswelt vorstellen konnten –
zum ersten Mal überhaupt in dieser Form.
Teilnehmer aus 43 Ländern präsentierten ihre Ideen
zunächst auf einer Webseite. In einer „Coaching Phase“
wurden ausgewählte Vorschläge mit Siemens-Experten diskutiert, konkretisiert und optimiert. In der anschließenden
„Collaboration Phase” konnten Besucher der Webseite Kommentare und Wertungen abgeben und mit den Ideengebern
über Vorteile, Nachteile und mögliche Verbesserungen diskutieren. Nur die am besten bewerteten Vorschläge durchliefen die anschließende Phase der „Pairwise Comparison“, in
der Webseitenbesucher jeweils zwei Vorschläge miteinander
vergleichen und bewerten konnten. Knapp 15 Ideen konnten
aufgrund ihrer Bewertung in die Vor­be­rei­tungs­phase gelangen und wurden schließlich der Jury aus Siemens-Managern,
Experten aus der Industrie und Anwendern präsentiert.
Drei innovative Ideen, die sich mit heutiger Technik bereits
realisieren lassen und Lösungen für die Mobilitätsherausforderungen von morgen bieten, wählte die Jury schließlich aus.
Die Idee einer intelligenten Drohnentechnologie zur Parkplatzsuche überzeugte die Jury im ersten Wettbewerb dieser
Art am meisten.
como 14 | Mai 2015
2.
connect
39
Platz
Sicherer
Fußgängerüberweg
Tragbare Geräte wie Smartwatches
oder Fitnessarmbänder kommunizieren mit vernetzten Fahrzeugen,
um den Fahrer auf Fußgänger in
der Nähe aufmerksam zu machen
3.
Platz
Falls Fußgänger keine vernetzten Geräte tragen,
erkennen Sensoren Bewegungen am Straßenrand
und senden eine Warnmeldung an das Fahrzeug
Mobile Anwendungen helfen, mit
der Umgebung zu kommunizieren,
und warnen den Fahrer
Selbstparkende, autonome Fahrzeuge
Dank seiner Näherungs- und
Belegungssensoren findet das
Fahrzeug autonom zum nächstgelegenen freien Parkplatz
Mit einem autonomen Fahrzeug spart der Fahrer Zeit, da
er – ohne selbst zu parken –
direkt am Ziel aussteigen und
sich vom Fahrzeug zu einer
vorher festgelegten Zeit wieder abholen lassen kann
Future Tram –
neue Ideen für die Straßenbahn
Auch in Deutschland laufen regelmäßig Koopera­
tionen zur Ideenfindung, beispielsweise an Hochschulen. So sind Siemens Mobility und das Institut
für Schienenfahrzeuge der RWTH Aachen Projektpartner beim Ideenwettbewerb „Future Tram“,
der Mitte April startete.
Hier können Mitarbeiter und Studierende der
RWTH Aachen ihre Ideen in den Themenfeldern
„Straßenbahn und Mensch“, „Straßenbahn und
Stadt“ sowie „Straßenbahn und Technik“ einreichen. Die Einreicher der fünf besten Ideen erhalten Geldprämien und können ihre Ideen auf
einem dreitägigen Workshop in Wien zusammen
mit Siemens-Experten weiterentwickeln. Die Ergebnisse, so viel ist jetzt schon sicher, kommen
am Ende allen Verkehrsteilnehmern zugute. ■
Siemens Mobility IDEA Contest: Die Gewinner
Platz 1:
Smartes Parken mit Quadcopter-Unterstützung
Amir Ehsani Zonouz schlägt vor, auf großen Parkflächen mithilfe eines Schwarms autonom arbeitender Quadcopter, also
Mini-Helikopter mit vier Rotoren, freie Plätze zu erfassen, einfahrende Autos zu erkennen und sie auf dem kürzesten Wege zum
Parkplatz zu leiten.
Der Vorteil: Das Verfahren spart besonders bei sehr großen
Parkflächen viel Zeit und Energie für die Parkplatzsuche. Es
benötigt keine aufwändige straßenseitige Infrastruktur und ist
daher kostengünstig.
Platz 2:
Sicherheitssystem für Fußgänger
Sakib Khan will Fußgänger in einer künftigen Car2Infrastructure-Umgebung mit „Wearables“ ausstatten, also elektronischen
Armbändern oder Smart Watches, die mit entsprechend ausgerüsteten Fahrzeugen kommunizieren. Menschen oder Haustiere
ohne Wearables werden von stationären Sensoren am Straßenrand erkannt.
Der Vorteil: Die geeignete urbane Infrastruktur
wird in absehbarer Zeit zur Verfügung stehen. Die
Anwendung lässt sich dann leicht implementieren
und verbessert die Fußgängersicherheit deutlich.
Platz 3:
Autonom parkende Fahrzeuge
Sasan Amini will in einer Car2InfrastructureUmgebung freie Plätze auf der Straße und in
Parkhäusern an autonome Fahrzeuge kommunizieren. Autos steuern fahrerlos den bestmöglichen Parkplatz an und holen den Fahrer später
an einem definierten Treffpunkt wieder ab.
Der Vorteil: Das Verfahren reduziert den Parksuchverkehr in Städten deutlich. Die Technik ist ver­fügbar,
mehrere Fahrzeughersteller bieten Automatisches
Einparken bereits an. Autonome Fahrzeuge haben
zurzeit zwar nur in wenigen Ländern eine Straßenzulassung, das Verfahren kann aber zunächst in
den Parkhäusern selbst angewendet werden.
40
Rubrik
como 14 | Mai 2015
Alle bisher erschienenen Ausgaben
von como finden Sie unter
www.siemens.de/mobility/como
Hier können Sie sich auch für ein
kostenloses Abonnement registrieren.
como
Fakten, Trends und Stories zu integrierter Mobilität
Herausgeber:
Siemens AG · Mobility Division, München
Redaktionsleitung:
Stephan Allgöwer
Siemens AG · Mobility Division · Communications
Textredaktion:
Eberhard Buhl, www.presse-team.de
Fotos: Christian Höhn aus der Serie „One Station”
S. 1, 18-23 · iStockphoto S. 4, 14, 16 links, 34/35 ·
Deutsches Institut für Urbanistik S. 8, 11 · Corbis
S. 15, 16 Mitte, 30
Alle übrigen Fotos: Siemens AG
Konzeption & Gestaltung:
Agentur Feedback, München
www.agentur-feedback.de
Druck:
Gutenberg Beuys, Langenhage
Printed in Germany
Copyright:
© Siemens AG 2015
Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung dieser
­Unterlage sowie Verwertung ihres Inhalts unzu­
lässig, soweit nicht ausdrücklich zugestanden!
Technische Änderungen vorbehalten. Die Informa­
tionen in diesem Dokument enthalten allgemeine
Beschreibungen der technischen Möglichkeiten,
welche im Einzelfall nicht immer vorliegen müssen.
www.siemens.com/mobility
[email protected]
ISSN 2190-0310
FB como d 14|2015 161011 ZS05153.5
Dispo-Nr.: 21701
Bestell-Nr.: MOCG-M10003-00
Über die kostenlose App
„Siemens Publications“ können
Nutzer von iPads oder AndroidTablets como abonnieren
und werden automatisch
benachrichtigt, sobald eine
neue Ausgabe erschienen ist.
siemens.com/publications-app
Siemens
Publications
für iOS
Siemens
Publications
für Android