Leseprobe

Leseprobe aus:
Karin Alvtegen
Der Seitensprung
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(c) 2004 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek
« I C H W E I S S N I C H T. »
Drei Worte.
Jedes für sich allein oder in einem anderen Zusammenhang vollkommen ungefährlich. Ganz ohne innewohnende
Schwere. Bloß die Feststellung, dass er sich nicht sicher war
und deshalb lieber keine Antwort gab.
Ich weiß nicht.
Drei Worte.
Als Antwort auf ihre Frage stellten sie einen Angriff auf
ihr gesamtes Dasein dar, einen plötzlichen Abgrund, der sich
in dem frisch abgeschliffenen Wohnzimmerparkett auftat.
Eigentlich hatte sie gar keine Frage gestellt, sondern die
Worte nur gesagt, um ihm zu verstehen zu geben, wie beunruhigt sie war. Wenn sie das Undenkbare aussprach, konnte
es danach nur besser werden. Ein Wendepunkt für beide.
Das letzte Jahr war ein ewiger Kampf gewesen, und mit der
Frage hatte sie ihm zeigen wollen, dass sie keine Kraft mehr
hatte. Dass sie die Last nicht mehr alleine schultern konnte.
Dass sie seine Hilfe brauchte.
Seine Antwort war falsch gewesen. Er hatte drei Worte
gebraucht, die ihr als Möglichkeit überhaupt nicht in den
Sinn gekommen waren.
«Stellst du etwa unsere gemeinsame Zukunft infrage?»
Ich weiß nicht.
Es gab keine Frage, die darauf noch folgen konnte, seine
Antwort radierte in einem einzigen Augenblick alle Wörter
aus, die sie jemals gelernt hatte. Ihr Gehirn musste sich um
180 Grad drehen und alles neu bewerten, was bislang über
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jeden Zweifel erhaben gewesen war. Dass es keine gemeinsame Zukunft gäbe, kam in ihrer Gedankenwelt nicht vor.
Axel, das Haus, irgendwann einmal zusammen Großeltern werden.
Welche Worte konnte sie finden, die von hier aus weiterführten?
Er saß schweigend auf dem Sofa, hatte die Augen fest auf
eine amerikanische Comedy-Serie gerichtet und ließ seine
Finger über die Fernbedienung flattern. Kein einziges Mal
hatte er sie angesehen, seitdem sie das Zimmer betreten hatte,
nicht einmal, als er ihre Frage beantwortete. Der Abstand
zwischen ihnen war so groß, dass sie es vielleicht gar nicht
gehört hätte, wenn er noch etwas hinzufügte.
Doch das tat sie. Klar und deutlich hörte sie ihn: «Hast du
auf dem Heimweg Milch gekauft?»
Auch diesmal sah er sie nicht an. Wollte bloß wissen, ob
sie auf dem Heimweg Milch gekauft hatte.
Ein Druck auf der Brust. Und dann dieses Stechen im linken Arm, das sie manchmal überfiel, wenn sie in Zeitnot geriet.
«Kannst du nicht den Fernseher ausschalten?»
Er sah auf die Fernbedienung hinunter und wechselte den
Sender. Verkehrsmagazin.
Da wurde ihr plötzlich klar, dass auf dem Sofa ein Fremder saß.
Er sah bekannt aus, aber sie kannte ihn nicht. Er erinnerte
an den Mann, der der Vater ihres Sohnes war und mit dem
sie, was sie vor über elf Jahren vor Gott versprochen hatte,
Freud und Leid teilen wollte, bis dass der Tod sie schied. Mit
dem sie im Laufe des letzten Jahres das beschissene Sofa abgezahlt hatte, auf dem er saß. Er stellte ihre und Axels Zukunft infrage und war noch nicht einmal in der Lage, ihr so
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viel Respekt entgegenzubringen, das Verkehrsmagazin auszuschalten und sie anzusehen.
Aus Angst vor der Frage, die sie nun stellen musste, um
wieder Luft zu bekommen, wurde ihr übel.
Sie schluckte. Wie sollte sie den Mut aufbringen, Klarheit
zu bekommen?
«Hast du eine andere kennen gelernt?»
Endlich wandte er sich zu ihr. Sein Blick war vorwurfsvoll, aber immerhin sah er sie an.
«Nein.»
Sie schloss die Augen. Zumindest gab es keine andere.
Krampfhaft versuchte sie, sich mit seiner beruhigenden Antwort über Wasser zu halten. Alles war so unbegreiflich. Das
Zimmer sah genauso aus wie vorher, aber plötzlich war alles
anders. Sie betrachtete das gerahmte Foto, das sie an Weihnachten aufgenommen hatte. Henrik im Weihnachtsmannkostüm und ein erwartungsvoller Axel inmitten eines Haufens von Weihnachtsgeschenken. Die Familie versammelt in
ihrem Elternhaus. Vor drei Monaten.
«Wie lange empfindest du schon so?»
Er sah wieder zum Fernseher.
«Ich weiß nicht.»
«Na ja, ungefähr? Sind es zwei Wochen oder zwei Jahre?»
Es dauerte eine Ewigkeit, bis seine Antwort kam.
«Ein Jahr vielleicht.»
Ein Jahr. Ein Jahr lang war er herumgelaufen und hatte
ihre gemeinsame Zukunft infrage gestellt. Ohne ein Wort zu
sagen.
Während der Sommerferien, als sie mit dem Auto nach
Italien fuhren. Während all der Abendessen mit ihren
Freunden. Als er sie auf ihrer Dienstreise nach London begleitete und sie miteinander schliefen. Die ganze Zeit über
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hatte er sich gefragt, ob er weiterhin mit ihr leben wollte
oder nicht.
Wieder betrachtete sie die Fotografie. Seine lächelnden
Augen. Ich weiß nicht, ob ich dich noch will, ob ich mit dir
weiterleben möchte.
Wieso hatte er nichts gesagt?
«Aber warum? Wie hast du dir das überhaupt vorgestellt?»
Er zuckte leicht mit den Achseln und seufzte.
«Wir haben keinen Spaß mehr.»
Sie drehte sich um und ging zum Schlafzimmer, mehr
wollte sie nicht hören.
Mit dem Rücken an der geschlossenen Schlafzimmertür
blieb sie stehen. Axels ruhige, sichere Atemzüge. Immer in
der Mitte, wie eine Verbindung zwischen ihnen, Nacht für
Nacht. Eine Versicherung und eine Verpflichtung, durch die
sie für immer zusammengehörten.
Mama, Papa, Kind.
Eine Alternative gab es nicht.
Wir haben keinen Spaß mehr.
Er saß da draußen auf dem Sofa und hielt ihr gesamtes
Dasein in seinen Händen. Welchen Sender sollte er wählen?
Er hatte ihr soeben die Kontrolle über ihr Leben entrissen,
was sie wollte, spielte keine Rolle, alles hing von ihm ab.
Ohne sich auszuziehen, kroch sie unter die Decke, legte
sich dicht an den kleinen Körper und fühlte die Panik aufsteigen.
Wie sollte sie dieses Problem lösen?
Und dann die lähmende Müdigkeit. Sie war es so leid, immer die Verantwortung zu tragen, immer tüchtig zu sein, alles voranzubringen und dafür zu sorgen, dass alles erledigt
wurde, was getan werden musste. Schon zu Beginn ihrer Be12
ziehung hatte jeder seine Rolle übernommen. Damals hatten
sie hin und wieder darüber gelacht, hatten über ihre Ungleichheit gescherzt. Mit den Jahren waren die Reifenspuren
so tief geworden, dass eine Umkehr nicht mehr möglich war.
Sie tat das, was getan werden musste, zuerst und dann das,
was sie wirklich wollte, falls noch Zeit übrig blieb. Er machte
es umgekehrt. Und wenn er getan hatte, was er wollte, war
das, was getan werden musste, schon erledigt. Sie beneidete
ihn. Hätte es am liebsten genauso gemacht wie er. Aber dann
wäre alles zusammengebrochen. Sie wusste nur, dass sie sich
unbeschreiblich danach sehnte, dass er ab und zu das Ruder
übernahm. Ihr erlaubte, sich ein Weilchen hinzusetzen, um
sich auszuruhen. Dass sie sich ein Weilchen bei ihm anlehnen
durfte.
Stattdessen saß er da draußen auf ihrem kürzlich abbezahlten Sofa und guckte das Verkehrsmagazin und stellte
ihre gemeinsame Zukunft infrage, weil er keinen Spaß mehr
hatte. Als ob sie herumgelaufen und vor Freude über ihr Leben jubiliert hätte. Aber sie versuchte es zumindest, sie hatten ja verdammt nochmal ein Kind zusammen!
Wie war es so weit gekommen? Wann war die Wende eingetreten? Warum hatte er ihr nicht von seinen Gefühlen erzählt? Es war ihnen einmal gut zusammen gegangen, sie
musste ihn zu der Einsicht bewegen, dass es wieder so werden konnte, wenn sie nur nicht aufgaben.
Aber woher sollte sie die Kraft nehmen?
Das Geräusch des Fernsehers verstummte. Erwartungsvoll
horchte sie hin, als sich seine Schritte der Schlafzimmertür
näherten. Und dann die Enttäuschung, als sie, ohne langsamer zu werden, vorbeigingen und ihren Weg zum Arbeitszimmer fortsetzten.
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Einen einzigen Wunsch hatte sie.
Einen einzigen.
Dass er zu ihr hereinkäme und sie umarmte und sagte,
dass alles wieder so werden würde wie früher. Dass sie diese
Sache gemeinsam durchstehen würden, dass all das, was sie
sich während der letzten Jahre aufgebaut hätten, wert sei,
darum zu kämpfen. Dass sie sich keine Sorgen zu machen
bräuchte.
Er kam nicht.
E R W U S S T E E S in dem Moment, als sie das Zimmer
betrat. Sie war ihm in den letzten Monaten durchs Haus gefolgt, um ein Gespräch anzufangen, aber irgendwie war es
ihm immer wieder gelungen, ihr zu entkommen. Es wäre so
einfach gewesen, weiterhin zu schweigen, sich weiterhin im
dumpfer werdenden Alltag zu verstecken und dem Abgrund
auszuweichen.
Nun war es zu spät. Nun stand sie dort und versperrte
ihm den Weg zu seiner Freistatt im Arbeitszimmer, und diesmal hatte er keine Chance.
Wie sollte er jemals die Wahrheit sagen? Mit welchen
Worten würde er es wagen zu erzählen? Und dann diese lähmende Angst. Nicht nur vor seinen Gefühlen und ihren Folgen, sondern auch vor ihrer Reaktion. Er fragte sich, ob sie
hören konnte, wie sein Herz klopfte, wie es versuchte, sich
zu befreien und zu fliehen, um nicht offenbaren zu müssen,
was sich in seinem Innern verbarg.
Und dann ihre Frage, die den Stein ins Rollen brachte.
«Stellst du etwa unsere gemeinsame Zukunft infrage?»
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Ja! Ja! Ja!
«Ich weiß nicht.»
Er verabscheute diese Angst, und er hasste es, dass sie diejenige war, die sie ihm einflößte. Er wagte nicht einmal, sie
anzusehen. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er sich vor ihr
ekelte. Sie ekelte ihn an, weil sie in den letzten Jahren unerschütterlich wie eine Statue neben ihm gestanden hatte, während er allmählich immer tiefer in der Trostlosigkeit versunken war. Sie hatte dafür gesorgt, dass alles seinen gewohnten
Gang ging, als spielte es gar keine Rolle, dass er sich kaum
mehr beteiligte. Doch damit hatte sie nur erreicht, dass er
sich nutzlos vorkam wie ein unfähiges Kind.
Immer alles so schnell. Alles erledigt und fertig, bevor er
überhaupt gemerkt hatte, dass es getan werden musste. Immer bereit, Probleme zu lösen, auch diejenigen, die sie gar
nichts angingen, bevor er selbst überhaupt zum Nachdenken
gekommen war. Wie eine ungeduldige Dampflok stampfte
sie los und versuchte, alles geradezubiegen. Aber alles konnte
man nicht geradebiegen. Je deutlicher er signalisierte, dass er
auf Abstand ging, desto eifriger hatte sie dafür gesorgt, dass
es nicht auffiel. Und mit jedem Tag, der verging, wurde ihm
bewusster, dass es eigentlich gar keine Rolle spielte, was er
tat. Sie brauchte ihn nicht mehr.
Vielleicht hatte sie das nie getan.
Er war nur ein Ding, das im Laufe der Reise an die Lokomotive gekoppelt worden war.
Nicht eine Sekunde lang hatte sie begriffen, was er wirklich fühlte. Dass der Überdruss und die Vorhersehbarkeit
ihn langsam, aber sicher erstickten. Das halbe Leben war
vorüber, und genauso würde der Rest aussehen. Mehr als
das würde nicht geschehen. Es war der Moment gekommen,
in dem sich all das, was er wirklich wollte, nicht mehr län15
ger aufschieben ließ. Das, was er später immer hatte tun
wollen. Später war jetzt. Alle Träume und Erwartungen, die
er gehorsam beiseite geschoben hatte, meldeten sich und
fragten ihn immer nachdrücklicher, wohin sie ziehen sollten. Sollten sie ihn verlassen, oder wollte er, dass sie blieben,
und wenn ja, warum? Weshalb sollten sie bleiben, wenn er
ohnehin nicht vorhatte, einen einzigen von ihnen zu verwirklichen?
Er dachte an seine Eltern. Die saßen dort in Katrineholm
in ihrem abbezahlten Einfamilienhaus. Alles geschafft und
fertig. Abend für Abend Seite an Seite, jeder in seinem gut
eingesessenen Fernsehsessel. Alle Gespräche seit langem verstummt, jede Rücksicht, jede Erwartung, alles war schon vor
Jahren aufgrund mangelnder Nahrung unweigerlich eingegangen. Übrig blieben nur die gegenseitigen Vorwürfe darüber, was sie verloren hatten, was ihnen alles abhanden gekommen war. Weil sie einander nicht mehr hatten geben
können und weil es seit langem zu spät war. Zwanzig Meter
von den Sesseln entfernt verliefen die Eisenbahngleise, und
jede Stunde, Jahr für Jahr, war der Zug vorbeigefahren, der
sie von dort hätte wegbringen können. Nun hatten sie sich
damit abgefunden, dass ausgerechnet ihr Zug niemals kommen würde. Er war vor langer Zeit vorbeigefahren und würde weiterhin vorüberdonnern und die gut geputzten Fensterscheiben im Wohnzimmer erzittern lassen. Sie hatten es nicht
einmal geschafft, ein Sommerhäuschen zu erwerben, obwohl
ihr Vermögen nach dem Verkauf der Autohandlung des
Vaters das gut und gerne zugelassen hätte. Keine einzige Reise. Als wäre ein Ortswechsel für ihr Leben zu bedrohlich.
Lange her, dass sie sich aufgerafft hatten und die hundert Kilometer nach Stockholm gefahren waren. Nicht einmal zu
Axels sechstem Geburtstag kamen sie, sondern schickten
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bloß eine vorgedruckte Glückwunschkarte mit ihren Namenszügen und einem ungefalteten Hunderter darin. Anstatt an Familientreffen teilzunehmen, blieben sie zu Hause
und gaben sich den Minderwertigkeitsgefühlen hin, die Evas
wohlhabende Eltern mit ihren akademischen Ausbildungen
und intellektuellen Freunden in ihnen auslösten. Gefangen
in ihrem eigenen Dasein, saßen sie, wo sie saßen, verbittert
und vergrämt.
Jeder als Geisel des anderen in der großen Angst vor der
Einsamkeit.
Aus den Augenwinkeln sah er, dass sie reglos im Wohnzimmer stand. Das Geräusch vom Fernseher kam stoßweise, wie
ein Puls im Takt des Herzschlags.
Er verspürte ein verzweifeltes Bedürfnis, Zeit zu gewinnen, sich an etwas zu klammern, das noch immer im Gewohnten verankert war.
«Hast du auf dem Heimweg Milch gekauft?»
Sie antwortete nicht. Die Angst pochte in seinem Magen.
Warum hatte er nicht einfach weitergeschwiegen?
«Kannst du nicht den Fernseher ausschalten?»
Der Zeigefinger reagierte automatisch, drückte aber auf
den falschen Knopf. Eine Sekunde lang gezögert, und das
Reptiliengehirn beschloss, es nicht noch einmal zu versuchen. Das Gefühl, plötzlich nicht mehr zu gehorchen, verdrängte die Angst. Er hatte es in der Hand.
«Hast du eine andere kennen gelernt?»
«Nein.»
Seine Lippen hatten die Antwort ohne sein Zutun geformt. Wie ein rettender Felsvorsprung beim freien Fall in
den Abgrund. Ein Zwischenstopp, nicht mehr oben und
noch nicht unten. Doch was sollte er dort?
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