unter Spannung - Auto Service Praxis

automobiltechnik fahrwerk
Dämpfung mit magnetorheologischer Flüssigkeit
Unter Spannung
In Pkw von acht Marken, darunter Audi und – neu – Land Rover, findet man inzwischen Stoßdämpfer mit magnetorheologischer Flüssigkeit. Wie funktionieren diese Dämpfer? Was ist bei ihrer Prüfung und Entsorgung zu beachten?
S
o genannte Zielkonflikte entstehen
bei der Entwicklung und Auslegung
von Automobilen gleich mehrfach,
u. a. beim Fahrwerk. Stoßdämpfer sollen,
je nach Fahrbahn- und Gemütszustand,
komfortabel oder sportlich ansprechen.
Dazu hat man zahlreiche Lösungen entwickelt, die entweder mit Bypässen oder
schalt-/regelbaren Ventilen arbeiten. Eine
Lösung jüngeren Datums verzichtet auf
diese Details und nutzt die variable Viskosität magnetorheologischer Flüssigkeiten.
Aufbau ähnlich, Funktion verändert
Die Entwicklung magnetorheologischer
Flüssigkeiten geht auf die 1940er Jahre
zurück. Im Autobau kennt man sie seit
rund zehn Jahren, als Zulieferer Delphi
und Automobilhersteller General Motors
mit ihrem Einsatz in Pkw-Stoßdämpfern
starteten (vgl. Infokasten auf dieser Seite
unten und Tabelle auf Seite 11 oben).
Der Aufbau eines Stoßdämpfers mit
magnetorheologischer Flüssigkeit ähnelt
dem eines konventionellen Stoßdämpfers.
Statt des Kolbens mit Ventilen für Zug-
und Druckstufe kommt ein Kolben mit
integrierter Magnetspule und Ölkanälen
zum Einsatz. Das Dämpferöl wird durch
ein synthetisches Kohlenwasserstoff-Öl
ersetzt. In diesem Öl befindet sich eine
Vielzahl magnetisch polarisierbarer Partikel, meist Carbonyleisenpulver, im Durchmesserbereich von fünf bis zehn Mikrometer. Die Partikel sind globular, wirken
also kaum abrasiv, wozu auch die Verchromung der Dämpferrohr-Innenfläche
(Kolbenlaufbahn) beiträgt. Sedimentation
wird über Additivzugabe verhindert.
Funktion: Im spannungslosen Zustand
der Magnetspule ist die Ausrichtung der
Partikel zufällig. Liegt eine Spannung an,
entsteht ein Magnetfeld, das die Partikel
polarisiert und in Ketten entlang der Feld-
Hintergrund
Erst Delphi, jetzt BWI
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Magnetisch polarisierbare
Partikel bei bestromter (links)
und unbestromter Spule
Bilder: Audi, Bilstein, Sogefi
Bei den in Pkw-Fahrwerken eingesetzten Stoßdämpfern mit magnetorheologischer
Flüssigkeit handelt es sich ursprünglich um eine Entwicklung der US-amerikanischen
Delphi Corporation, die im Zug deren Neuaufstellung nach Insolvenz als Bestandteil
der Chassis-Sparte an den chinesischen Zulieferer Beijing West Industries (BWI) veräußert wurde. Audi zufolge ist BWI aktuell der einzige Lieferant derartiger Dämpfersysteme, die trotz vergleichbarer Funktion unterschiedlich bezeichnet werden. Beispiele:
00Magne Ride (Delphi/BWI, Land Rover)
00Magnetic Ride (Audi)
00Magna Ride (Ferrari)
00Magnetic Selective Ride Control (GM)
Porsche nutzt ebenfalls das Prinzip der Dämpfung per magnetorheologischer Flüssigkeit, allerdings nicht bei Stoßdämpfern, sondern bei aktiven (O-Ton:„dynamischen“)
Motorlagern von 911 GT3 und 911 Turbo (997) sowie 911 Carrera (991).
www.autoservicepraxis.de
Pkw mit MR-Stoßdämpfern
Marke
Baureihen
Audi
A3 (8V), S3 (8P), TT (8J), TTS, R8
Buick
Lucerne
Cadillac
CTS-V, DTS, Seville, SLS (Shanghai GM), SRX, STS, XLR, XLR-V
Chevrolet
Corvette (C5, C6, ZR1)
Ferrari
458 Italia, 599 GTB, California, F12 Berlinetta, FF
Holden
HSV Grange, HSV GTS, HSV Senator Signature, HSV W427
Honda
Acura MDX, Acura ZDX
Land Rover
Range Rover Evoque
Quelle: BWI
linien ausrichtet – je höher die Spannung und somit die Feldstärke, umso intensiver. Die Ausrichtung der Partikel verändert
die Viskosität des synthetischen Kohlenwasserstoff-Öls in Richtung niedrigviskos. Das Öl wird dickflüssiger, die Dämpfung
straffer. Gegenüber anderen variablen Dämpfersystemen hat
dieses den Vorteil der Schnelligkeit: Die Ausrichtung der Partikel ist nicht zeitintensiv, das Ansprechverhalten kann somit in
Sekundenbruchteilen verändert werden. Geregelt wird dabei die
Spannung, und zwar stufenlos. Die elektrische Leistungsaufnahme einer Magnetspule liegt bei maximal 20 Watt.
Einrohrdämpfer, vorn „upside down“ eingebaut
Die Details eines Dämpfersystems mit magnetorheologischer
Flüssigkeit – vom Aufbau über Handhabung und Prüfung bis
zur Entsorgung – am Beispiel des Audi TT der Baureihe 8J:
Magnetic Ride, so der Name des Dämpfersystems bei Audi
(vgl. Infokasten auf Seite 10 unten), wird beim TT optional und
beim TTS in Serie eingebaut. So wie bei allen anderen Anwendungen handelt es sich auch beim Audi TT um Einrohrdämpfer,
hinten konventionell und vorn (wegen des Mc Pherson-Feder-
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Vor Achsdämpfungsprüfung
linken Taster länger als sechs
Sekunden gedrückt halten
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automobiltechnik fahrwerk
beins „upside down“ eingebaut. Über einen
Taster am Mitteltunnel, unmittelbar hinter
dem Schalthebel, kann der Fahrer das
Grund-Kennfeld wählen: Normal- oder
Sport-Modus (vgl. Bild auf Seite 11 unten).
„Im Modus ‚Normal‘ bewegen sich das TT
Coupé und der TT Roadster ausgewogen
– agil und komfortabel zugleich. In der
Betriebsart Sport unterdrücken hohe
Dämpfkräfte das Rollen weitgehend. Der
TT ist knackig-straff an die Straße angebunden, sein Setup höchst dynamisch“, so
der Originalton von Audi.
Radselektive Dämpfungsanpassung
Im Fahrbetrieb passt das unter dem Beifahrersitz verbaute Steuergerät die Dämpfung radselektiv an, und zwar unter Berücksichtigung dieser Informationen:
00 Karosserieniveau
00 Fahrgeschwindigkeit
00 Lenkwinkel
00 Querbeschleunigung
00 Dämpfungsmodus
Zwar scheiterte die Integration der Achsdämpfungsprüfung in den Umfang der
Hauptuntersuchung (HU) wiederholt,
doch sind zahlreiche Werkstätten und
Autohäuser mit Prüfständen ausgestattet.
Unabhängig von deren Prinzip muss ein
Audi TT mit Magnetic Ride-Option vor
dem Befahren des Prüfstands konditioniert werden: Hält man den genannten
Taster am Mitteltunnel länger als sechs
Produkte
Einstieg in den Motorsport
Von Bilstein kommt ein neues Sportfahrwerk, das dem Hersteller
zufolge sowohl auf Rennstrecken als auch auf dem Weg dorthin
passende Einstellungen ermöglicht: das Gewindefahrwerk „Clubsport“. Es erlaubt die werkzeuglose Verstellung der Dämpfung in Zug
und Druck in jeweils zehn Raststufen. „Intensive Fahrversuche mit dem
Weltmeister Walter Röhrl auf der Nordschleife und nachhaltige gemeinsame
Abstimmfahrten im hauseigenen Testcenter Papenburg waren die Voraussetzung für
die herausragende Performance dieses neuen Clubsport-Fahrwerks“, erklärt eine
Mitteilung von Bilstein. Erste und ab sofort lieferbare Anwendungen sind BMW M3
(E36 und E46), Porsche 911 GT2 und 911 GT3 (997) sowie VW Golf VI. Optional ist das
Fahrwerk als Komplett-Kit einschließlich Aluminium-Stützlager lieferbar.
Thyssen Krupp Bilstein Tuning GmbH, www.bilstein.de
Sekunden gedrückt, schaltet das Steuergerät auf Bestromung auch im Stand. Mit
diesem Trick lässt sich das Dämpfersystem
reproduzierbar prüfen. Alternativ zur
konventionellen Achsdämpfungsprüfung
arbeitet man bei der FSD Fahrzeugsystemdaten GmbH, der gemeinsamen Tochter der deutschen Prüforganisationen mit
Sitz in Dresden, an der Achsdämpfungsprüfung mittels so genanntem HU-Adapter. Beim Überfahren einer definierten
Schwelle mit ebensolcher Geschwindigkeit
soll über Beschleunigungssensoren ein
Messwert generiert werden. Nach dieser
Prüfung befragt, antwortete Audi: „Hier
Entwicklung
Schraubenfedern aus GFK
Der italienische Zulieferer Sogefi (Internet: www.
sogefigroup.com) hat Schraubenfedern aus
Glasfaser-verstärktem Kunststoff (GFK) für
Serienanwendungen in Pkw und leichten Nfz
entwickelt. Deren Vorteile liegen, so Sogefi, bei
reduziertem Gewicht, nicht stattfindender Korrosion, auszuschließendem Bruch und vereinfachter Fertigung (Temperatur-/Energieintensität, Verfahrensschritte, Abfall). Erster Anwender wird Audi sein, der die GFKSchraubenfedern noch in diesem Jahr im R8 e-tron und ab 2013 „im großen Stil in
den Mittel- und Oberklassemodellen“ (O-Ton) einsetzen will. Fertigung (O-Ton Audi):
„Als Kern der Feder dienen lange, miteinander verdrillte Glasfasern, die mit Epoxidharz
getränkt werden. Um diese ‚Seele‘, die wenige Millimeter Durchmesser hat, wickelt
eine Maschine weitere Fasern, abwechselnd in +45 Grad und -45 Grad Winkel zur
Längsrichtung.“ Laut Audi weist eine GFK-Feder im Vergleich zur Stahlfeder mehr
Drahtstärke und Gesamtdurchmesser sowie weniger Windungen auf. Die werkstoffbedingt hellgrüne Farbe wird durch Beimischung von Graphit in Schwarz geändert.
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handelt es sich um den immer bestromten
Fahrzustand, es wird normal geregelt auf
Basis der Fahrzeuggeschwindigkeit und
der Radwegsensorsignale.“
Definitiv die falsche Antwort gab man
beim Autobauer auf die Frage, auf welche
Lebensdauer die Dämpfer ausgelegt sind:
„MR-Dämpfer werden genauso wie hydrau­
lische Dämpfer auf die Lebensdauer des
Fahrzeugs ausgelegt. Die Dauerlaufabsicherung ist ausgerichtet auf 300.000 km,
entsprechend einem Fahrzeugleben.“
Erfahrene Werkstattprofis klopfen sich
jetzt vor lauter Lachen auf die Schenkel.
Sie wissen, dass Stoßdämpfer spätestens
nach 100.000 Kilometern auf den Tester
gehören und ganz sicher keine 200.000
Kilometer Fahrleistung erleben. Anders
formuliert: Fahrzeuge mit solchen Stoßdämpfern würde man auch ohne Tester
erkennen. Wo bleibt die Sicherheit?
Entsorgung: Öl absaugen und filtern
Ein gutes Stück aufwändiger als gewohnt
gestaltet sich die Entsorgung verschlissener Stoßdämpfer mit magnetorheologischer Flüssigkeit. Hier wird zusätzlich
zur Absaugung des Öls dessen Filterung
und separate Entsorgung fällig, was für
Dämpfererneuerung und Fahrzeugverschrottung gleichermaßen gilt. Originalton der Audi-Fachabteilung auf Anfrage
von asp: „Das Öl wird analog zu hydraulischen Dämpfern abgesaugt. Anschließend findet eine Filterung der Partikel
statt, die zusammen mit anderen Rückständen wie zum Beispiel Motorölschlamm
entsorgt werden.“
Peter Diehl
www.autoservicepraxis.de