Wales → Nationalismus { 00.03.61 • Wales war seit langem von den östlichen Gebieten der britischen Insel isoliert: * - mit der Landung Cäsars nahm die Sonderentwicklung ihren Anfang, denn im Gegensatz zum heutigen England, das schnell romanisiert wurde, blieben die nördlichen und westlichen Gebiete von der römischen Zivilisation relativ undurchdrungen - mit der Konstantinischen Wende wurde dieser Gegensatz noch verschärft, da die romanisierten Gebiete nun, im Gegensatz zu den keltisch-heidnischen, christianisiert wurden - mit der Eroberung der britischen Insel durch die Sachsen und Angeln entstand ein neuer Gegensatz, da sich das Heidentum nun im Osten ausbreitete, während sich die christlich-romanisierte Bevölkerung in den Westen zurückzog → die Isolierung im Westen führte auch politisch zu einer Sonderentwicklung, denn es kam hier nie zur Ausbildung einer Zentralgewalt und einer stabilen Herrschaft, stattdessen blieb Wales weitgehend zersplittert und regionalisiert • die Normannen begannen ab 1066 mit der Errichtung eines zentralisierten Herrschaftssystems in England und betrachteten das benachbarte Wales bald als ihr natürliches Interessengebiet → unter Edward I. wurden schließlich weite Teile von Wales militärisch erobert und der englischen Krone unterstellt (1284) → obwohl die englische Königsdynastie der Tudors walisischer Herkunft war, kam es 1536 unter Henry VIII. zu einer Vereinigung zwischen England und Wales • die Folge der politischen Assimilation mit dem Verlust jeglicher politischer Autonomie war eine Rückbesinnung auf die Gemeinsamkeiten der walisischen Kultur → Kulturbewegung des 18. Jahrhunderts blieb jedoch auf eine kleine Elite beschränkt (starke Konzentration auf die Literatur, dadurch nur für die lesende Minderheit von Bedeutung) * Ursprungsbedeutung von Wales ist »Fremder«. In ihrer eigenen Sprache bezeichneten sich die Waliser mit »Cymru« = einheimisch • breitere Bevölkerungsschichten mobilisierte erst die ab 1735 einsetzende neue religiöse Doktrin des Nonkonformismus (gegen die Vorherrschaft der anglikanischen Hochkirche) → gerade die in Wales verbreitete Armut bildete einen guten Nährboden für die neue Doktrin, die ein besseres Leben im Jenseits versprach und den Menschen ein neues Selbstwertgefühl vermittelte • »nationales Erwachen« durch einen 1847 veröffentlichten Regierungsbericht, der das Selbstwertgefühl der Waliser kränkte → Vorwurf der moralischen Rückständigkeit der ganzen walisischen Nation durch die Schuld des Nonkonformismus → die Reaktion der Waliser allerdings war keine politische Rebellion gegen England, sondern eine freiwillige Selbstunterwerfung gegen England in der Hoffnung auf Besserung (nationales Aufholprogramm) • vorrangiges Ziel dieser Nationalbewegung war: 1. Beseitigung des Primats der anglikanischen Kirche 2. Anerkennung der walisischen kulturellen Tradition • die walisische Nationalbewegung war mit 2 grundsätzlichen Problemen konfrontiert: 1. für ein berufliches Fortkommen stellte die walisische Sprache eher ein Hindernis dar 2. es fehlte an politischen Führern: - Wertesystem des Nonkonformismus begünstigte eher das soziale Engagement im kleinen Kreis, als die Unterordnung unter fremde Politiker, die für die Sache anderer kämpften - Politik galt neben der Religion nur als unwichtige Nebensache - religiöse Wertvorstellungen der Menschenliebe und des ehrwürdigen Auftretens deckten sich nicht mit den Anforderungen an energisch und konfliktfreudig auftretende Politiker ⇒ dennoch formierte sich an der walisischen Basis der liberalen Partei eine nationalistische Gruppe → »Cymru Fydd« (= Junges Wales) enthielt aber nur mäßigen Zulauf, 1896 scheiterte die Gründung einer walisischen Nationalpartei Wales → Nationalismus | 00.03.61 • nachdem die walisische Nationalbewegung liberaler Parlamentarier in Form der »Welsh Parliamentary Party« ab 1880 durch die Auseinandersetzungen mit der irischen Home-Rule-Bewegung profitieren konnte, da sie auf diese Weise Beachtung fand, kam es nach dem Wahlsieg der Konservativen 1895 nur noch zu nationalistischen Einzelaktionen • um die Jahrhundertwende wurde der Nationalbewegung durch tiefgreifende soziale Veränderungen zunehmend der Boden entzogen: - Industrialisierung im Süden Wales (reichhaltige Kohlevorkommen, Stahlproduktion) → Zerfall der traditionellen bäuerlichen Gesellschaft - Verlust des Einflusses des Nonkonformismus - schwindende Bedeutung der walisischen Sprache - schnell wachsende Arbeiterbewegung im Süden, die im Konflikt mit den liberalen Nationalisten im Norden geriet • nach dem 1. WK verlor die Nationalbewegung weiter an Einfluß: - da Großbritannien den Krieg gewonnen hat, wurde das System und die innere Ordnung weniger stark in Frage gestellt - die liberale Partei, die die walisischen nationalen Interessen vertrat, fiel hinter die Arbeiterpartei zurück ⇒ als Reaktion darauf formierte eine kleine Gruppe junger Intellektueller aus dem ländlichen Millieu 1925 eine neue Partei: »Welsh Nationalist Party« (WNP) antimoderne nationalistische Bewegung gegen den englischen Einfluß und für den Austritt Wales aus dem Vereinigten Königreich • nach dem 2. WK nahm die Bereitschaft der britischen Regierung für Veränderungen ab (sie setzte auf politische und materielle Stabilisierung des Königreiches nach dem Entkolonialisierungsprozeß), außerdem wurde der Nationalismus an sich wegen seiner extremen Variante des Faschismus stärker diskreditiert ⇒ wegen dieser Tendenz änderte die WNP ihren Namen in »Plaid Cymru« (= Partei von Wales): → die neue Partei wollte jetzt alle Waliser ansprechen, nicht nur die ländliche Bevölkerung des Nordens → den Hauptgegner sah man fortan nicht mehr im englischen Volk, sondern im »System«, das sich durch institutionelle Veränderungen reformieren lasse • in den 50er und 60er Jahren trat Plaid Cymru für die Schaffung eines eigenen regionalen Parlaments ein → die Labour Party nahm diesen Kurs der administrativen Devolution auf: - 1969 Einrichtung einer Regierungskommission → nach langwierigen Debatten Beschluß der Einrichtung einer exekutiven Versammlung ohne Recht auf Besteuerung und Gesetzgebung - 1979 lehnten die Waliser mit einer 4:1 Mehrheit in einem Referendum dieses »Scheinparlament« ab → das Ergebnis des Referendums stürzte die Nationalisten in eine tiefe Krise • in den 80er Jahren vollzog sich dennoch ein großer Umschwung in der öffentlichten Meinung → Hinwendung zur traditionellen walisischen Kultur v.a. von jüngeren und in England geborenen Bevölkerungsteilen ⇒ die kulturelle Identitätsfindung wurde von einer fortgesetzten politischen Devolution begleitet → Wales entwickelte sich im Inneren immer mehr zu einer regionalen Einheit, es gibt heute kaum mehr ernsthafte Auseinandersetzungen um die Anerkennung von Wales als einer historischen Nation: → trotzdem spezifisch unterschiedliche Schlußfolgerungen: - Konservative: Beibehaltung der jetzigen Verhältnisse Labour Party: Errichtung einer schwachen exekutiven Versammlung Liberale: Regionalparlament Nationalisten: eigener Nationalstaat in ferner Zukunft, politische Einbindung eines solchen in ein »Europa der Regionen«
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