30 | DI E STI F TUNG 1/15 „Wir stellen uns in Syrien auf ein langes Nothilfeprogramm ein“ Im Gespräch mit Thomas Schiffelmann (Handicap International) über die aktuellen Herausforderungen der Flüchtlingsarbeit DIE STIFTUNG: Im vergangenen Jahr sind die Themen Flucht und Vertreibung besonders nah an unsere Haustür gerückt. Was können Stiftungen tun, um die Not zu lindern? Thomas Schiffelmann: Das Thema Not und Vertreibung wird immer wichtiger, denn mehr Länder denn je sind zurzeit von schweren Bürgerkriegen betroffen, unter denen hauptsächlich die Zivilbevölkerung leidet. Besonders zu berücksichtigen ist, an welcher Stelle die Hilfe ansetzen soll. Menschen, die durch Krieg und Repressionen ihre Heimat verlassen, haben die schlimmsten Erlebnisse schon hinter sich. Viele sind aber nicht nur psychisch schwer geschädigt, sondern auch physisch und bedürfen dringend therapeutischer Hilfe – so wie viele Menschen aus Syrien, die durch kriegerische Handlungen Gliedmaßen verloren haben. DIE STIFTUNG: Was ist für diese Menschen die größte Hilfe? Schiffelmann: Eine speziell auf die Menschen abgestimmte und gute therapeutische Versorgung ist immer noch am drängendsten, da viele Krankenhäuser extrem überlastet sind oder kaum mehr richtig arbeiten können. Handicap International unterstützt diese lokalen Krankenhäuser mit speziellem medizinischem Gerät: orthopädische Hilfsmittel wie Prothesen und Orthesen, Mobilitätshilfen wie Rollstühle und Toilettenstühle sowie spezielles Material wie Matratzen, die Wundliegegeschwüren vorbeugen. Aber auch die Schulung von Personal zur Durchführung von postoperativen Rehabilitationsmaßnahmen gehört zu unserem Engagement. Zusätzlich müssen die Menschen mit Brennmaterial zum Heizen und Kochen und mit angemessener Kleidung versorgt werden, um die kalten Wintermonate zu überstehen. Darüber hinaus werden Nahrungsmittel, Hygieneprodukte und in geringem Umfang finanzielle Unterstützung verteilt. Eine weitere wichtige präventive Maßnahme ist die Aufklärung über Risiken, die von Minen und explosiven Überresten von Kriegsmaterial ausgehen. DIE STIFTUNG: Was für eine Situation finden Sie eigentlich vor, wenn Sie als Mitarbeiter einer NPO gegenwärtig in Syrien oder den Grenzgebieten der Nachbarstaaten eintreffen? Die Geschichte der achtjährigen Ahlam aus Syrien An einem Septembertag im Jahr 2013 drangen Granatsplitter in das vermeintlich schützende Wohnzimmer von Ahlams Familie ein und verletzten das kleine Mädchen sehr schwer. Um ihr Leben zu retten, musste ihr rechtes Bein amputiert werden. Im März 2014, in einem Flüchtlingslager im Libanon, traf ein Team von Handicap International auf Ahlam. Ihr großer Wunsch nach einem neuen Bein konnte erfüllt werden. Voller Begeisterung begann Ahlam mit dem Gehtraining und kann mittlerweile sehr gut mit den anderen Kindern mithalten. Alle sechs Monate muss die Prothese angepasst werden, da sich das Mädchen noch im Wachstum befindet. Handicap International begleitet sie auf ihrem Weg zurück in Kurze Zeit nach den ersten Gehübungen traut sich Ahlam ein aufrechtes Leben. (2.v.r.) nach draußen und zeigt stolz ihr neues Bein. Thomas Schiffelmann ist Leiter Marketing von Handicap International in Deutschland mit Sitz in München. Die humanitäre Hilfsorganisation setzt sich weltweit in rund 60 Ländern mit mehr als 300 Projekten für Menschen mit Behinderung ein. Die Programme fördern deren Autonomie und echte Integration in die Gesellschaft für ein aufrechtes Leben. Schiffelmann: In solchen außergewöhnlichen Notsituationen herrscht völliges Chaos. Wichtig ist erst einmal eine Evaluation der Lage und Notwendigkeiten. Teams von Handicap International versuchen primär diejenigen Menschen mit Behinderung und ihre Belange zu identifizieren, die sich nicht oder nur sehr schwer selbst helfen können. Denn gerade diese Menschen haben oft kaum Zugang zu Hilfsmaßnahmen, da sie in ihrer Bewegung sehr eingeschränkt sind. DIE STIFTUNG: Wie sinnvoll ist es da, eine Spende mit einem konkreten Verwendungszweck zu belegen, z.B. einer Beschränkung auf die Soforthilfe in einem bestimmten Flüchtlingslager? Schiffelmann: Grundsätzlich ist es für Hilfsorganisationen sehr schwer, wenn der Verwendungszweck stark eingeschränkt P R A XI S | 31 ist. Hilfreicher wäre eine Angabe wie „Nothilfe Syrien“. Dann können die Hilfsgelder dort eingesetzt werden, wo sie am meisten benötigt werden, und der bürokratische Aufwand bleibt gering. DIE STIFTUNG: Sicher kommt auch bei Ihren Förderern die Frage auf, ob die Hilfe wirklich dort ankommt, wo sie gebraucht wird. Was entgegnen Sie darauf? Schiffelmann: Ich selbst habe Kontakt zu vielen Kollegen aus den Programmen und kann versichern, dass die Arbeit sehr zielgerichtet und auf die hilfsbedürftigen Menschen gut abgestimmt ist. Wir lassen unsere Arbeit regelmäßig von unabhängiger Stelle prüfen und erhalten jedes Jahr das uneingeschränkte Testat. FOTO: © ELIAS SAADE/HANDICAP INTERNATIONAL, ABBILDUNG: HANDICAP INTERNATIONAL DIE STIFTUNG: Was ist in diesem Zusammenhang von den oft gehörten Versprechen zu halten, dass 100% der Spenden tatsächlich bei den Bedürftigen ankommen? Schiffelmann: Diese Versprechen sind genauer zu betrachten. Jeder Spender möchte, dass mit seinem Geld sorgsam umgegangen wird. Das braucht eine gewisse Administration und Professionalität. Natürlich sorgen wir dafür, dass dieser Aufwand so gering wie möglich gehalten wird, und veröffentlichen die genauen Zahlen und Verwaltungskostenquoten in unserem Jahresbericht. DIE STIFTUNG: Wie gelingt es speziell, Großspender zu gewinnen? Schiffelmann: Selbstverständlich haben Großspender andere, gehobenere Ansprüche bezüglich ihrer Spendenaktivitäten. Das Vertrauen des Großspenders in eine Organisation muss durch individuelle Beziehungspflege und speziell auf sie zugeschnittene Projekte erarbeitet werden. Eine der letzten Großspenden kam durch die Vermittlung des stellvertrenden Vorstandsvorsitzenden der Stiftung „Stifter für Stifter“ aus München zustande, mit der ich seit einigen Jahren eng zusammenarbeite. Er empfahl uns einen Großspender, der sich für Menschen mit Behinderung im Ausland einsetzen wollte und daraufhin das Nothilfeprojekt von Handicap International in Syrien mit 20.000 EUR gefördert hat. DIE STIFTUNG: Auf der anderen Seite erleben Flüchtlinge in Deutschland aktuell Vor dem Bürgerkrieg in Syrien flüchten die Menschen vor allem nach Jordanien und in den Libanon. keine vorbildliche Willkommenskultur: Zum rechten Rand offene Bündnisse gegen Islamismus haben einen beängstigenden Zuspruch, es gibt erneut Anschläge auf Asylbewerberheime und immer wieder kommt es zu Konflikten zwischen ethnischen Gruppen. Hat es da nicht auch seine Berechtigung, zuhause Projekte für menschenwürdige Lebensverhältnisse und Toleranz zu fördern? Schiffelmann: Das ist richtig. Deshalb unterhält Handicap International das Projekt Com In in München. Ziel ist die Förderung der Einbindung von Flüchtlingen mit Behinderung in den Alltag in Deutschland. Wichtiger ist derzeit allerdings die Versorgung von Flüchtlingen im Ausland, die Zuflucht in den Nachbarländern von Syrien wie Libanon oder Jordanien suchen. Viele Millionen Menschen mussten all ihr Hab und Gut zurücklassen und befinden sich in großer Not. Hier ist weit mehr Hilfe erforderlich. Wir müssen die Menschen dabei unterstützen, die Zeit zu überbrücken, bis sie wieder in ihre Heimat zurückkehren können, wenn dort Frieden herrscht. Handicap International hat bisher über 180.000 Menschen aus Syrien geholfen – allen voran Kindern, Älteren und Menschen mit Behinderung. 330 Mitarbeiter unterstützen Menschen mit eingeschränkter Mobilität vor Ort, damit diese Zugang zu humanitärer Hilfe bekommen. Da der Bürgerkrieg in Syrien leider wohl noch einige Zeit andauern wird, stellen wir uns auf ein langes Nothilfeprogramm ein, für das weiterhin dringend Unterstützung benötigt wird. DIE STIFTUNG: Hoffen wir, dass der Einsatz von Non-Profit-Organisationen in dieser Region die Not lindern kann. Herr Schiffelmann, vielen Dank für dieses Gespräch. Das Interview führte Gregor Jungheim. Anzeige der Newsletter für NPO & Co jeden ersten Dienstag im Monat Jetzt anmelden: www.die-stiftung.de Eigenanzeige-DS-Stiftogramm-Leuchtturm.indd 1 04.09.14 10:43
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