„Wir stellen uns in Syrien auf ein langes Nothilfeprogramm ein“

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„Wir stellen uns in Syrien auf ein
langes Nothilfeprogramm ein“
Im Gespräch mit Thomas Schiffelmann (Handicap International)
über die aktuellen Herausforderungen der Flüchtlingsarbeit
DIE STIFTUNG: Im vergangenen Jahr sind die
Themen Flucht und Vertreibung besonders
nah an unsere Haustür gerückt. Was können
Stiftungen tun, um die Not zu lindern?
Thomas Schiffelmann: Das Thema Not
und Vertreibung wird immer wichtiger,
denn mehr Länder denn je sind zurzeit von
schweren Bürgerkriegen betroffen, unter
denen hauptsächlich die Zivilbevölkerung
leidet. Besonders zu berücksichtigen ist,
an welcher Stelle die Hilfe ansetzen soll.
Menschen, die durch Krieg und Repressionen ihre Heimat verlassen, haben die
schlimmsten Erlebnisse schon hinter sich.
Viele sind aber nicht nur psychisch schwer
geschädigt, sondern auch physisch und
bedürfen dringend therapeutischer Hilfe –
so wie viele Menschen aus Syrien, die
durch kriegerische Handlungen Gliedmaßen verloren haben.
DIE STIFTUNG: Was ist für diese Menschen
die größte Hilfe?
Schiffelmann: Eine speziell auf die Menschen abgestimmte und gute therapeutische Versorgung ist immer noch am drängendsten, da viele Krankenhäuser extrem
überlastet sind oder kaum mehr richtig
arbeiten können. Handicap International
unterstützt diese lokalen Krankenhäuser
mit speziellem medizinischem Gerät: orthopädische Hilfsmittel wie Prothesen und
Orthesen, Mobilitätshilfen wie Rollstühle
und Toilettenstühle sowie spezielles Material wie Matratzen, die Wundliegegeschwüren vorbeugen. Aber auch die
Schulung von Personal zur Durchführung
von postoperativen Rehabilitationsmaßnahmen gehört zu unserem Engagement.
Zusätzlich müssen die Menschen mit
Brennmaterial zum Heizen und Kochen
und mit angemessener Kleidung versorgt
werden, um die kalten Wintermonate zu
überstehen. Darüber hinaus werden
Nahrungsmittel, Hygieneprodukte und in
geringem Umfang finanzielle Unterstützung verteilt. Eine weitere wichtige präventive Maßnahme ist die Aufklärung über
Risiken, die von Minen und explosiven
Überresten von Kriegsmaterial ausgehen.
DIE STIFTUNG: Was für eine Situation finden
Sie eigentlich vor, wenn Sie als Mitarbeiter
einer NPO gegenwärtig in Syrien oder den
Grenzgebieten der Nachbarstaaten eintreffen?
Die Geschichte der achtjährigen Ahlam aus Syrien
An einem Septembertag im Jahr 2013 drangen Granatsplitter in das vermeintlich schützende
Wohnzimmer von Ahlams Familie ein und verletzten das kleine Mädchen sehr schwer. Um ihr
Leben zu retten, musste ihr rechtes Bein amputiert werden. Im März 2014, in einem Flüchtlingslager im Libanon, traf ein Team von
Handicap International auf Ahlam.
Ihr großer Wunsch nach einem neuen
Bein konnte erfüllt werden. Voller
Begeisterung begann Ahlam mit dem
Gehtraining und kann mittlerweile
sehr gut mit den anderen Kindern
mithalten. Alle sechs Monate muss
die Prothese angepasst werden, da
sich das Mädchen noch im Wachstum
befindet. Handicap International begleitet sie auf ihrem Weg zurück in Kurze Zeit nach den ersten Gehübungen traut sich Ahlam
ein aufrechtes Leben.
(2.v.r.) nach draußen und zeigt stolz ihr neues Bein.
Thomas Schiffelmann ist Leiter Marketing von
Handicap International in Deutschland mit Sitz
in München. Die humanitäre Hilfsorganisation
setzt sich weltweit in rund 60 Ländern mit mehr
als 300 Projekten für Menschen mit Behinderung
ein. Die Programme fördern deren Autonomie
und echte Integration in die Gesellschaft für ein
aufrechtes Leben.
Schiffelmann: In solchen außergewöhnlichen Notsituationen herrscht völliges
Chaos. Wichtig ist erst einmal eine Evaluation der Lage und Notwendigkeiten.
Teams von Handicap International versuchen primär diejenigen Menschen mit
Behinderung und ihre Belange zu identifizieren, die sich nicht oder nur sehr
schwer selbst helfen können. Denn gerade
diese Menschen haben oft kaum Zugang
zu Hilfsmaßnahmen, da sie in ihrer Bewegung sehr eingeschränkt sind.
DIE STIFTUNG: Wie sinnvoll ist es da, eine
Spende mit einem konkreten Verwendungszweck zu belegen, z.B. einer Beschränkung
auf die Soforthilfe in einem bestimmten
Flüchtlingslager?
Schiffelmann: Grundsätzlich ist es für Hilfsorganisationen sehr schwer, wenn der
Verwendungszweck stark eingeschränkt
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ist. Hilfreicher wäre eine Angabe wie „Nothilfe Syrien“. Dann können die Hilfsgelder
dort eingesetzt werden, wo sie am meisten benötigt werden, und der bürokratische Aufwand bleibt gering.
DIE STIFTUNG: Sicher kommt auch bei Ihren
Förderern die Frage auf, ob die Hilfe wirklich dort ankommt, wo sie gebraucht wird.
Was entgegnen Sie darauf?
Schiffelmann: Ich selbst habe Kontakt zu
vielen Kollegen aus den Programmen und
kann versichern, dass die Arbeit sehr zielgerichtet und auf die hilfsbedürftigen
Menschen gut abgestimmt ist. Wir lassen
unsere Arbeit regelmäßig von unabhängiger Stelle prüfen und erhalten jedes
Jahr das uneingeschränkte Testat.
FOTO: © ELIAS SAADE/HANDICAP INTERNATIONAL, ABBILDUNG: HANDICAP INTERNATIONAL
DIE STIFTUNG: Was ist in diesem Zusammenhang von den oft gehörten Versprechen
zu halten, dass 100% der Spenden tatsächlich bei den Bedürftigen ankommen?
Schiffelmann: Diese Versprechen sind genauer zu betrachten. Jeder Spender
möchte, dass mit seinem Geld sorgsam
umgegangen wird. Das braucht eine gewisse Administration und Professionalität. Natürlich sorgen wir dafür, dass
dieser Aufwand so gering wie möglich
gehalten wird, und veröffentlichen die
genauen Zahlen und Verwaltungskostenquoten in unserem Jahresbericht.
DIE STIFTUNG: Wie gelingt es speziell, Großspender zu gewinnen?
Schiffelmann: Selbstverständlich haben
Großspender andere, gehobenere Ansprüche bezüglich ihrer Spendenaktivitäten. Das Vertrauen des Großspenders in
eine Organisation muss durch individuelle
Beziehungspflege und speziell auf sie zugeschnittene Projekte erarbeitet werden.
Eine der letzten Großspenden kam durch
die Vermittlung des stellvertrenden Vorstandsvorsitzenden der Stiftung „Stifter
für Stifter“ aus München zustande, mit
der ich seit einigen Jahren eng zusammenarbeite. Er empfahl uns einen Großspender, der sich für Menschen mit Behinderung im Ausland einsetzen wollte
und daraufhin das Nothilfeprojekt von
Handicap International in Syrien mit
20.000 EUR gefördert hat.
DIE STIFTUNG: Auf der anderen Seite erleben Flüchtlinge in Deutschland aktuell
Vor dem Bürgerkrieg in Syrien flüchten die Menschen vor allem nach Jordanien und in den Libanon.
keine vorbildliche Willkommenskultur: Zum
rechten Rand offene Bündnisse gegen Islamismus haben einen beängstigenden
Zuspruch, es gibt erneut Anschläge auf Asylbewerberheime und immer wieder kommt es
zu Konflikten zwischen ethnischen Gruppen.
Hat es da nicht auch seine Berechtigung, zuhause Projekte für menschenwürdige Lebensverhältnisse und Toleranz zu fördern?
Schiffelmann: Das ist richtig. Deshalb
unterhält Handicap International das
Projekt Com In in München. Ziel ist die
Förderung der Einbindung von Flüchtlingen mit Behinderung in den Alltag in
Deutschland.
Wichtiger ist derzeit allerdings die
Versorgung von Flüchtlingen im Ausland,
die Zuflucht in den Nachbarländern von
Syrien wie Libanon oder Jordanien suchen.
Viele Millionen Menschen mussten all ihr
Hab und Gut zurücklassen und befinden
sich in großer Not. Hier ist weit mehr
Hilfe erforderlich. Wir müssen die Menschen dabei unterstützen, die Zeit zu
überbrücken, bis sie wieder in ihre Heimat zurückkehren können, wenn dort
Frieden herrscht. Handicap International
hat bisher über 180.000 Menschen aus
Syrien geholfen – allen voran Kindern,
Älteren und Menschen mit Behinderung.
330 Mitarbeiter unterstützen Menschen
mit eingeschränkter Mobilität vor Ort,
damit diese Zugang zu humanitärer Hilfe
bekommen. Da der Bürgerkrieg in Syrien
leider wohl noch einige Zeit andauern
wird, stellen wir uns auf ein langes Nothilfeprogramm ein, für das weiterhin
dringend Unterstützung benötigt wird.
DIE STIFTUNG: Hoffen wir, dass der Einsatz
von Non-Profit-Organisationen in dieser
Region die Not lindern kann. Herr Schiffelmann, vielen Dank für dieses Gespräch.
Das Interview führte Gregor Jungheim.
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