Ansichten eines Jägers

Freitag, 18. September 2015
GESELLSCHAFT
WOCHENENDE 61
dieser Wilderer-Utensilien Schlachtvieh
für viele Jahre kaufen können. Es war
also keineswegs die hehre ErnährerRolle, die unsere jagenden Vorfahren
umtrieb, sondern pure Jagdleidenschaft.
Jetzt drücken die Nachfahren der
Freischützen, darunter immer mehr
Frauen, artig als Jungjäger die Schulbank. Zwei Hegejahre sind zu absolvieren, dann kommt eine anspruchsvolle
Schiessprüfung. Schliesslich stehen ein
Dutzend ganztägige Theoriekurse und
ein gar nicht so einfaches Schlussexamen vor dem ersten Jagdpatent. Die
Bei der zerstörerischen
Volksjagd ging es nicht
um Fleischbeschaffung.
vor Jahrzehnten eingeführten Lehrgänge und Prüfungen haben dazu geführt, dass die Patentjäger heutzutage
mit beträchtlicher Sachkenntnis und erstaunlicher Disziplin ihrer Jagd frönen.
Wie ein toller Hund
Der kapitale Bock ist tot, der Jäger ist stolz.
ARNO BALZARINI / KEYSTONE
Ansichten eines Jägers
Die Jagd ist Leidenschaft. Sie gleicht einer Sucht, die beglückt und quält
– und die doch verhalten jagen lässt. Denn da ist die tief verwurzelte Angst,
es könnte die Jagd eines Tages endgültig vorbei sein. VON LUZIUS THELER
Der Gemsbock quert eine Rinne, verschwindet kurz im Gefels und taucht am
Gegenhang wieder auf. Vor einer Kuppe
verhofft das Tier für einen Augenblick
und bietet die breite Seite dar. Das
Fadenkreuz im Zielfernrohr sucht den
Punkt direkt hinter der Schulter des
Vorderlaufes. Die rechte Hand schliesst
sich pressend um den Pistolengriff und
den Schafthals der Büchse. Der Zeigefinger verstärkt kaum merklich den
Druck auf den Abzug – und der Schuss
bricht. Die Wucht des 11,7 Gramm
schweren Kegelspitzgeschosses vom Kaliber 8 mal 68 wirft das Tier von den
Läufen. Noch bevor der Schussknall
verhallt, ist alles Leben aus dem Tierkörper gewichen. Der Bock liegt.
Die Knie zittern. Der Magen krampft
sich zusammen. Der Atem fliegt. Ich
kann den Aufruhr, der mich nach dem
Schuss überfällt, nicht unterdrücken.
Auch nach 30 Jagdjahren und einem
guten halben Hundert Abschüssen ist
mir, als hätte ich Ungeheuerliches getan:
das wunderbare Tier getötet. Erst eine
Viertelstunde später gibt sich das: Ich
bin beim Tier, fahre ein über das andere
Mal mit der Hand über das schon dunkel
verfärbte, dichte Fell: Dann schiebe ich
einen Föhrenzweig als letzten Bissen in
den Äser des Bocks, zähle die Jahrringe
am Horn. Dann macht sich die ganze
Anspannung mit einem Jauchzer Luft.
Ich bin glücklich, ich habe gejagt.
Wie bei einer Femme fatale
Ich kenne diesen Gemsbock. Beim
«Spiegeln», also beim Beobachten des
Wildes während des ganzen Jahres, habe
ich ihn oft gesehen. Er schlug mir und
den anderen Jägern während der letzten
Hochjagden immer wieder ein Schnippchen. Er zog sich ins nahe Jagdbanngebiet zurück oder schlug sich in die Dickungen. Zehn Jahre ist er alt, ein
Prachtbursche. Zehn harte Winter hat er
überlebt; er überstand während der
Brunft die harten Kämpfe mit seinen
Rivalen. Einmal entrann er wohl knapp
einem Steinschlag: Während Wochen
baumelte der linke Hinterlauf wie leblos
am Körper; ein halbes Jahr später
schonte der Bock noch. Wir nannten ihn
«den Lahmen».
In den letzten 30 Jahren bin ich fast
120 Wochen auf die Hoch- und Niederjagd gegangen. Das sind mehr als zwei
Jahre meines Lebens. 720-mal schrillte
der Wecker vor aller Zeit, meist zwischen 4 Uhr und 5 Uhr in der Früh. Nach
dem Frühstück oder einer Tasse Kaffee
raus aus der Hütte, auch beim schlimmsten Hudelwetter – «Gemswetter» eben,
wie die Altvorderen sagten. Dann nicht
selten bis zur einbrechenden Nacht auf
den Beinen, in den ersten Jagdjahren oft
bis zur völligen physischen Erschöpfung. Auf der Gebirgsjagd nehmen wir
aus freien Stücken Strapazen auf uns, die
wir in den abgehärteten Gebirgszügen
der Gebirgsinfanterie gewiss mit Meuterei quittiert hätten.
All diese Mühen soll ich mir angetan
haben und noch antun, um einfach nur
die Rolle von Luchs und Bär und Wolf in
der Wildbahn zu übernehmen? Das ist
blanker Unsinn. Jagd hat für mich wenig
mit dem Gesäusel über den Jäger als
hehren Regulator in der Wildbahn zu
tun. Das ist eine Mär, die von wohlmeinenden Verbandsleuten und deren
Kommunikationsberatern in die Welt
gesetzt wurde. Jagd, das ist eine Leidenschaft, eine Sucht gar, die uns beglückt,
die uns beherrscht und die uns quält.
Und ähnlich wie bei den Verlockungen
einer femme fatale können wir nicht davon lassen.
Scheinbares Paradoxon: Genau diese
Passion ist es, die uns bei allem Jagdeifer
verhalten und rücksichtsvoll jagen lässt.
Es treibt den Jäger eine tiefsitzende
Angst um, die Angst, es könnte einmal
aus und vorbei sein mit der Jagd. Diese
Angst ist es nicht zuletzt, die den Jäger
widersprüchlich um Wohl und Weh des
Wildes bangen lässt, ihn, der doch dem
Tier manchmal den Tod bringt.
Der Hintergedanke mancher Umweltschützer, es lasse sich die ungeliebte
Jagd durch den rigorosen Schutz und damit die flächendeckende Verbreitung
von Grossraubtieren zuerst eindämmen
und dann ersetzen, ist naiv und verkennt
schlichte Grundwahrheiten: Ungezählte
Generationen meiner Vorfahren gingen
auf Gemsjagd. Manche von ihnen liessen gar zur Zeit des Heuens alles stehen
und liegen und verschwanden für Tage
ins Gebirge, wenn ein Hirt davon berichtete, dass er irgendwo im hintersten
Teil des Bietsch- oder Baltschiedertales
ein Tier gesichtet habe. Ich bin in dieser
langen Reihe von leidenschaftlichen
Bergjägern erst der Zweite, der mit der
Jagdbewilligung, dem Patent, im Rucksack auf die Pirsch geht. Bis und mit
Grossonkel Theodor haben sie allesamt
«ohne Papier» gejagt, also gewildert.
Es war eine zügellose, schlechte Jagd:
Die «Frävler» gingen das ganze Jahr
über um, auch in der Notzeit im Winter;
sie schonten weder Muttertiere noch
ihre Jungen. In Amtsstuben galten Wildtiere als Schädlinge oder als Nahrungskonkurrenten für das Vieh. Für den Abschuss eines «Lämmergeiers», also eines
Bartgeiers, gab es Prämien; die Ausrot-
tung von Hirsch, Reh und Steinwild
wurde toleriert.
Die Jagdgesetze waren lax, und sie
fanden kaum Anwendung. Mit dem Niedergang des Adels im Spätmittelalter
hob eine Volksjagd an, die sich als zerstörerisch erweisen sollte. Bessere Waffen taten ein Übriges: Wenige Jahrzehnte nach dem Aufkommen der
modernen Repetierbüchsen mit ihren
leistungsstarken Patronen und den gezogenen Läufen, die weite Schüsse von
beachtlicher Präzision ermöglichten,
stand es erbärmlich um die Wildbestände im ganzen Alpenraum.
Da ging es keineswegs um die Fleischbeschaffung für die hungrigen Mäuler.
Das ist ein beschönigender Mythos. In
meiner Alp- und Jagdhütte hängen Waffen und Fallen von «Grossettro» Theodor, vom Grossonkel also, an der Wand.
Sie waren zur Verheimlichung konstruiert worden, sind zerlegbar, damit man
sie besser im Rucksack oder in den
Hosenbeinen verstecken konnte. Wie
meine der Jagd nicht wohlgesinnte
Grossmutter väterlicherseits treffend anmerkte, hätte man mit dem Gegenwert
Und doch ist der Firnis der hegenden,
sauberen Jagd dünn, immer noch. Darum
sollten sich jene, denen es vor dem Hintergrund der Rückkehr der Grossraubtiere eigentlich um jagdliche Einschränkungen oder gar um ein Jagdverbot zu
tun ist, eines gut merken: Die Alternative
zur verantwortungsvollen, durchaus
nach wildbiologischen Erkenntnissen betriebenen Jagd wäre nicht ihr Ende, sondern Wiederkehr der schwarzen, der
schlechten Jagd – mit modernsten technischen Hilfsmitteln.
Was der Wolf mit Schafen und anderen Nutztieren anrichtet, ist bekannt.
Die gerissenen Haustiere, oft genug
schwer verletzt, werden in einer Statistik
geführt und abgegolten. Ihr Leiden zählt
nicht. Diese Entschädigung bedeutet für
die meisten Schäfer keinen Trost, denn
sie betreiben ihre Viehhaltung fast ohne
Ausnahme einzig aus Liebhaberei heraus. Die Züchter beklagen die gähnende
Lücke zwischen dem Wert der Tiere und
ihrem Preis. Was Wölfe, vor allem im
Rudel, mit schwerfälligen Gemsgeissen
kurz vor dem Setzen, also vor der Geburt
der Jungtiere, anrichten können, ist erst
in Einzelfällen dokumentiert. Der Wolf
wählt nicht aus wie der Luchs. Der Wolf
tötet wie ein toller Hund. Das laute Wehgeschrei darüber, dass der Schutz dieses
Raubtiers nun von den eidgenössischen
Räten ein wenig aufgeweicht worden ist,
erscheint darum vielen Bergbewohnern
als schierer Hohn. Wenn es dann zu viel
wird, dann greift man zur Selbsthilfe. Gezielte Einzelabschüsse und eines Tages
vielleicht sogar die geregelte Jagd auf
Wolf und Luchs und Bär wären für die
Raubtiere weit besser als das Ausbringen
von Gift-Kapseln.
Es halten sich die Jagdverbände in
der Diskussion um den Wolf auffallend
zurück. Sie lassen lieber die Kleinviehzüchter das grosse Klagelied anstimmen.
Doch in der Jägerschaft brodelt es. Die
meisten Jäger, die ich kenne, halten es
wohl wie ich: Wenn er denn plötzlich vor
Büchse oder Flinte käme, Isegrim der
Graue, dann putzten wir ihm wohl mit
Pulver und mit Blei die Ohren . . .
Der Rothirsch – ein «seltsames Tier»
Luzius Theler Die Jagd war bis zum
18. Jahrhundert ein Privileg des Adels.
Vor allem der Rothirsch, das Steinwild
und die Gemse genossen strengen
Schutz. An der Wende zur Neuzeit
änderte sich dies. Die Volksjagd erwies
sich bald als Vektor des Niedergangs:
Das Steinwild war bereits ausgerottet,
als zu Beginn des 19. Jahrhunderts der
Hirsch und das Reh in den meisten Kantonen der Schweiz verschwanden.
Nachdem der Hirsch im Mittelland
ausgerottet war, ereilte ihn dasselbe
Schicksal in den Berggebieten. Sogar der
Gemse drohte die Ausrottung: Im Eidgenössischen Jagdbanngebiet AletschBietschhorn mit einem heutigen Bestand von gegen 600 Tieren gab es Mitte
des 19. Jahrhunderts laut dem Naturforscher Edmund von Fellenberg nur
noch vereinzelte Exemplare der einst
häufigen Art. Während die Wiederansiedlung des Steinwildes durch Diebstahl von Jungtieren aus dem Jagdrevier
von König Vittorio Emanuele II. im italienischen Gran-Paradiso-Nationalpark
lückenlos dokumentiert ist, vollzog sich
die Wiedereinwanderung des Rehwildes
und des Rotwildes «auf leisen Schalen»
über natürliche Wanderung und einige
Auswilderungen.
Erst nach der Schaffung des Nationalparks entwickelte sich in der Schweiz
wieder eine stabile Rotwildpopulation.
C. A. W. Guggisberg, der Autor der
Bände «Das Tierleben der Alpen», be-
richtet von einem Wiederansiedlungsversuch von Rotwild aus den Karpaten
im Walliser Val Ferret um die Mitte des
20. Jahrhunderts. Das Wild entwickelte
sich zwar prächtig, aber die Jagd wurde
viel zu früh freigegeben; der Bestand erlosch wieder. Gleichwohl – dadurch, dass
der Bund Anfang des 20. Jahrhunderts
strenge Jagdgesetze erliess, Wild-Asyle
schuf und eine strenge Wildhut aufzog,
besserte sich die Lage. Als 1942 im Goms
der erste Walliser Rothirsch der Neuzeit
erlegt wurde, war das eine Sensation. Die
Bewohner der Dörfer liefen zusammen,
als sich die Kunde verbreitete, dass ein
«seltsames Tier» geschossen worden sei.
Die Erinnerung an den Rothirsch war
längst verblasst.