Kilometer 0 DIE SUPERHELDEN Ohne die Tankwarte wäre man auf der russischen Route 66 völlig verloren. Sieben Porträts. Kilometer 1563 Kilometer 10 165 Kilometer 4430 Kilometer 8661 Kilometer 5948 Kilometer 7747 Seit gut einem Jahr führt eine TRANSSIBIRISCHE STRASSE quer durch Russland, von der Ostsee ans Japanische Meer, von Sankt Petersburg nach Wladiwostok. Mehr als 25 Jahre dauerten allein die Bauarbeiten am letzten Teilstück in Sibirien und im Jahr vor der Eröffnung leitete Präsident Putin ein Viertel des Gesamtetats für Straßenbau in dieses Prestigeprojekt. Und so heißt es jetzt: Vollgas – wir sehen uns am Pazifik! Kilometer 0, Sankt Petersburg, Sergej Wassiljewitsch Stankewitsch, 30. Kilometer 1563, hinter Kasan, Rinat Schaichulowitsch Gaschigulin, 49. Kilometer 4430, hinter Novosibirsk, Iwan Wiktorowitsch Kudrjawzew, 46. Kilometer 5948, vor Irkutsk, Iwan, 20, und Rakow, 21 (rechts). von FLORIAN TÖPFL Fotos: CHRISTOPHER BLÖCHINGER der Stadt. Wenn der Typ hier aufkreuzt und in dem kleinen Café dort drüben in aller Ruhe zu Mittag isst, umstellen mehr als ein Dutzend Bodyguards die Tankstelle. Der Mann hat’s auch nötig: Vor fünf Jahren hat er sich drei Kugeln eingefangen.« Fracht,desto höher der Wegzoll.Nein,als Lkw-Fahrer kannst du heute kein Geld mehr verdienen. Deshalb arbeite ich seit vier Jahren hier an der Tankstelle.« Kilometer 4430 che bin ich als Mechaniker für sechs Lkws zuständig, 24 Stunden arbeite ich an der Tankstelle. Angst vor Banditen habe ich nicht. Sechs Kilometer von hier ist ein Posten der Straßenpolizei, da steht sogar ein Truppenpanzer mit einer Kanone herum. Wenn etwas passiert, rufe ich dort an – und an den Jungs dort kommt keiner vorbei.« Kilometer 1563 »Benzin bekommen Sie an meiner Tankstelle nicht – nur Propangas.Acht Rubel kostet der Liter Gas,Benzin ist um mehr als die Hälfte teurer. Deshalb hat fast jeder dritte Fahrer in Sibirien seinen Wagen mittlerweile umgerüstet. Was? Bei euch in Europa gibt es kaum Gasautos? Aber Gas ist doch viel umweltfreundlicher – und ich dachte, im entwickelten Deutschland achtet man auf so was! Hier in der Gegend hat dieser Trend schon vor drei oder vier Jahren eingesetzt und in Kasachstan fahren sie schon seit Jahrzehnten mit Gasautos herum. Bis vor acht Jahren habe ich in der Hauptstadt Almaty gewohnt und bei der russischen Firma Semiregje als Einkäufer gearbeitet. Das waren noch Zeiten! Anfang der Neunziger war ich dann sogar in Deutschland, in Frankfurt am Main. Mit einer Iljuschin IL 76 sind wir hingeflogen und haben 50 Tonnen Fracht geholt: Trauben-Nuss-Schokolade, 5er-BMWs und guten Wodka – alles Dinge, die es in Kasachstan nicht gab. Aber nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde es für uns Russen immer schwieriger in Kasachstan: Meine zwei Kinder sollten in der Schule ihre Prüfungen plötzlich auf Kasachisch schreiben. Wie sollte das denn gehen? Also bin ich hierher zurück nach Jurga gezogen, meiner Geburtsstadt. Seit 1996 arbeite ich jetzt für die Gasfirma Jurgas.Drei Tage in der Wo- Iwan: »Fahren Sie einfach hinter uns her, dann zeigen wir Ihnen unsere Tankstelle! Fünf Minuten von der Straße entfernt haben wir noch 200 Liter Diesel in einer Scheune. Wir sind immer einen Rubel billiger als jede andere Tankstelle. Wo wir den Sprit herhaben? Den hat uns ein Kumpel eingegossen, der bei einer Waldkolchose arbeitet. Manchmal treibt er 500 Kilo auf, manchmal eine Tonne. Dafür bekommt er seinen Anteil, wenn wir den Diesel hier an der Straße verkaufen. Eigentlich gehen wir beide zur Berufsschule für Bergbau. Abends sitzen wir an der Straße und machen Business. Wenn ein Lkw vorbeikommt, halten wir dieses Pappschild hier hoch. Der Fahrer hält an, wir handeln einen guten Preis aus – so läuft’s eben. Ob ich auf dieser Straße schon viel unterwegs war? Na, mir reicht’s! Gerade vor zwei Monaten bin ich vom Militärdienst aus Tschetschenien zurückgekommen. Sehen Sie hier die Verbrennung an meinem linken Unterschenkel? Ich war Fahrer von einem Truppenpanzer, bis mir eines Nachts eine selbst gebastelte Mine unter die Räder kam. Vier der sieben Kameraden in meinem Wagen > sind dabei ums Leben gekommen.« Kilometer 0 »An der Pistole sieht man doch, dass ich eigentlich nicht Tankwart, sondern Wachmann bin.Aber am Wochenende hat der Kollege frei, dann mache ich seinen Job – und helfe den Frauen beim Tanken. Gefährlich ist es direkt hinter der Peter-und-Paul-Festung sowieso nicht. Hier laufen viel zu viele Polizisten rum – wegen der Touristen. Aber bis vor drei Jahren habe ich an einer Tankstelle am Stadtrand gearbeitet, da war das was anderes: Eines Nachts haben dort zwei Maskierte meinen Kollegen erschossen und die zwei Mädchen an der Kasse gleich mit. Und das alles für kaum tausend Dollar! Hier im Zentrum ist das Einzige, was wirklich gefährlich ist,der Verkehr. Sehen Sie die Kreuzung dort drüben? Da passiert alle paar Tage ein Unfall. Wenn ich es krachen höre, laufe ich sofort hinüber und helfe. Erst gestern hat es wieder ein junges Mädchen auf dem Motorrad erwischt. Nicht einmal 18 Jahre war die alt. Zufällig habe ich sogar gesehen, wie sie hier vorbeifuhr, in ein Auto raste und in hohem Bogen über die Motorhaube flog. Mann! Hier auf meinem Handy habe ich ein Foto: Da unten aus dem Bein steht sogar der Knochen raus. Schrecklich! Aber ich glaube, sie hat es überlebt. Mal abgesehen von den Unfällen ist hier eigentlich nur was los, wenn der Besitzer der Tankstelle vorbeikommt. Der war früher Bandit – wie eben all die reichen Geschäftsleute in Russland. Mehr als hundert Tankstellen gehören ihm und dazu noch eine der größten Banken SÜDDEUTSCHE ZEITUNG MAGAZIN »Nach Wladiwostok wollen Sie? Normalerweise fahren die Leute in die andere Richtung: Sie überführen japanische Gebrauchtwagen nach Westen. In Wladik sind die Kisten für einen Spottpreis zu haben, weil sie direkt aus Japan mit dem Schiff ankommen. So etwa zehn Tage und Nächte fahren die Jungs bis hierher durch – die halten nicht mal zum Schlafen an. Bis vor vier Jahren war ich selbst Fernfahrer und hatte meinen eigenen Lkw. Nach Sibirien bin ich zum letzten Mal vor zwanzig Jahren gefahren.Da war in Omsk noch Schluss mit asphaltierten Wegen. Sobald es zu regnen anfing, saßen wir fest – oft wochenlang. Als Fernfahrer habe ich die ganze Sowjetunion gesehen: die Ukraine, Karelien, Sibirien und den Kaukasus. Noch im Jahr 2000 bin ich dreimal nach Tschetschenien gefahren, obwohl dort gerade der Krieg ausgebrochen war. Jeden Tag habe ich die Bomben gehört. Und wenn der Donner zu nahe kam, sind wir aus unseren Lkws gesprungen und haben uns im Wald versteckt.Mit dem Fahren habe ich vor vier Jahren Schluss gemacht, weil mich die Gaischniki, die Straßenpolizisten, zu sehr genervt haben: Auf den 800 Kilometern von hier bis nach Moskau gibt es mehr als ein Dutzend Posten. Jedem musst du 50 bis 100 Rubel zahlen. Je teurer die 16 Kilometer 5948 17 SÜDDEUTSCHE ZEITUNG MAGAZIN Kilometer 7747, hinter Tschita, Alexander Wladimirowitsch Suchorukow, 34. Kilometer 8661, vor Chabarowsk, Alexandr Anatoljewitsch Chabarow, 45. Anzeige 1/1 noch das Pferd. Mit dem Auto in die Stadt zu fahren können wir uns sowieso nicht leisten. Das Einzige, was sich hier in den letzten Jahren wirklich verändert hat, ist das Klima. Seit die Regierung nicht weit von hier das größte Wasserkraftwerk im Fernen Osten gebaut hat, wird es im Winter nicht mehr kälter als minus 35 Grad! Dafür sind die Sommer umso kühler. Ein furchtbares Klima! Als ich ein Kind war, war es schon im Mai so heiß, dass wir in unserem See baden konnten – und das, obwohl noch Eisschollen auf dem Wasser trieben! Das waren schöne Zeiten! Letzten Sommer dagegen habe ich meine Schuhe nicht ein einziges Mal ausziehen können. Die Politiker sagen, all das habe keinen Einfluss aufs Klima. Aber die erzählen uns doch sowieso, was sie wollen. Übrigens: Wenn Sie weiterfahren, hüten Sie sich bloß vor Wegelagerern, die Schutzgeld erpressen! Die Banditen haben sich vor allem auf Autoüberführer aus Wladiwostok spezialisiert. Die überholen dich, winken dich an den Straßenrand und kassieren 100 Dollar pro Auto ab. Viele Autoüberführer haben ein Gewehr unter dem Beifahrersitz – nach einem Warnschuss bei voller Fahrt aus dem Fenster vergeht den meisten Banditen die Lust. Heute ist das Leben härter als früher. Und nun hat mich vor 40 Tagen auch noch meine Frau allein gelassen, mit einem Sohn und einer Tochter. Sie ist an einem Hornissenbiss gestorben. Allergische Reaktion oder so was. Aber irgendwie muss das Leben weitergehen. Auch wenn ich nicht > weiß, wie.« Kilometer 7747 »Einen Tankwart suchen Sie? Einen solchen werden Sie auf den nächsten 600 Kilometern nicht mehr finden. Die Einzigen, die bis jetzt hier tanken, sind wir Bauarbeiter. Vor drei Tagen hat unsere Firma den Auftrag für dieses 25 Kilometer lange Teilstück bekommen, das wir jetzt zunächst einmal in eine Schotterpiste verwandeln sollen. Gemeinsam mit 14 Kumpels hause ich in einer Blockhütte, die Goldgräber vor ein paar Jahren verlassen haben. 15 Betten, ein paar Tische und in der Ecke ein Holzofen – mehr Komfort gibt es nicht. Aber ich bin das gewohnt, seit zwölf Jahren arbeite ich schon an der Straße.Jede Nacht sitze ich zwölf Stunden hinterm Lenkrad meines MoAZ-25-Tonners. Im Führerhaus liegt ein geladenes Gewehr, damit erlege ich alles, was sich am Wegesrand bewegt. Auch Bären. Denen schießt du am besten in die linke Brusthälfte, wie beim Menschen. Denn wenn eine Kugel in den Schädel trifft, kannst du die 1300 Dollar für das Fell vergessen.Wir verpflegen uns hier selbst, in unserer Hütte haben wir noch 150 Kilo Bärenfleisch gebunkert. Die Tage sind lang in der Wildnis, aber Streit gibt’s bei uns trotzdem nicht.Da könnten wir uns ja gleich umbringen,so verrückt wie die Hormone hier spielen nach einem ganzen Monat ohne Frauen. Wir saufen unsere Gefühle mit Wodka weg.« Kilometer 8661 »Für uns Leute aus dem Dorf hat sich durch die neue Straße nicht viel verändert. Unser billigstes Transportmittel ist immer SÜDDEUTSCHE ZEITUNG MAGAZIN 18 Kilometer 10165, Wladiwostok, Wladimir Pawlowitsch Masjko, 47. Anzeige 1/1 Kilometer 10165 »Kommen Sie, ich bin Geschäftsführer dieser Tankstelle, ich erzähle Ihnen etwas über unsere Stadt. Sehen Sie dort unten im Hafen den Flugzeugträger? Der stand noch vor zehn Jahren unter meinem Kommando.Wir kreuzten hauptsächlich in den Gewässern zwischen Indonesien und Mosambik. Wie groß meine Besatzung war? Das ist ein militärisches Geheimnis. Sie sind doch nicht von der Stasi, oder? Na gut,dann sage ich es Ihnen: 400 Männer.Die Zeiten haben sich sowieso geändert. Heute können Sie jeden Winkel der Stadt besichtigen. Aber bis Mitte der achtziger Jahre war Wladiwostok eine geschlossene Welt: Hier lag die sowjetische Pazifikflotte vor Anker. Wenn uns Freunde besuchen wollten, mussten wir bei der Polizei einen Antrag stellen. Ob sich das Leben zum Besseren verändert hat? Ich bin ein Mann aus der alten Zeit.Als Marinekapitän hätte ich unter den Kommunisten doppelt so viel Rente bekommen,wie ein Ingenieur damals verdiente. Heute bekomme ich nicht einmal 250 Dollar im Monat und muss noch zusätzlich auf einer Tankstelle arbeiten.Verstehen Sie den Unterschied? Die Versorgung der Stadt war unter den Kommunisten gesichert,es herrschte Ordnung und wir hatten Sicherheit.Ich will mich aber nicht beklagen: Der Handel mit China und Japan kommt ins Rollen, überall in unserer Stadt wird gebaut. Und auch meiner Familie geht es nicht schlecht: Letztes Jahr waren wir in Thailand im Urlaub und dieses Jahr fahren wir auf die Krim.Aber was würde ich wohl in Ihrem Land machen als pensionierter Marinekapitän? Mit Sicherheit nicht auf einer Tankstelle arbeiten.« ————————— 20 21 SÜDDEUTSCHE ZEITUNG MAGAZIN
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