Die Werkanalyse herunterladen - Orchestre Philharmonique de

Donnerstag, 28. Januar 2016, 20.00 Uhr
Straßburg, PMC Salle Érasme
Marko Letonja Leitung
Christina und Michelle Naughton Klavier
Georges Bizet (1838-1875)
L’Arlésienne (Die Arlesierin), Suite Nr. 2
Pastorale
Intermezzo
Menuet
Farandole
16’
Camille Saint-Saëns (1835-1921)
Le Carnaval des animaux, grande fantaisie zoologique
35’
(Der Karneval der Tiere, große zoologische Fantasie)
Introduction et Marche royale (Introduktion und königlicher Marsch des Löwen)
Poules et coqs (Hühner und Hähne)
Hémiones (Halbesel)
Tortues (Schildkröten)
L’Éléphant (Der Elefant)
Kangourous (Kängurus)
Aquarium (Das Aquarium)
Personnages à longues oreilles (Persönlichkeiten mit langen Ohren)
Le Coucou au fond des bois (Der Kuckuck im tiefen Wald)
Volière (Das Vogelhaus)
Pianistes (Pianisten)
Fossiles (Fossilien)
Le Cygne (Der Schwan)
Finale (Finale)
Maurice Ravel (1875-1937)
Ma mère l’oye (Mutter Gans), Suite
16’
Pavane de la Belle au bois dormant (Dornröschens Pavane)
Petit Poucet (Der kleine Däumling)
Laideronnette, Impératrice des pagodes (Laideronnette, Kaiserin der Pagoden)
Les Entretiens de la Belle et la Bête (Die Schöne und das Biest)
Le Jardin féérique (Der Feengarten)
La Valse (Der Walzer), choreografisches Gedicht
12’
Boléro für Orchester
16’
Die französische Musik enthält Kostbarkeiten, die gleich bei ihrer Uraufführung das
Publikum begeisterten. Zwischen 1872 und 1928 eroberten fünf Meisterwerke einen
dauerhaften Platz in der Musikwelt. Das Orchestre philharmonique de Strasbourg unter
Leitung von Marko Letonja präsentiert sie an ein- und demselben Abend.
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Georges Bizet (1838-1875)
L’Arlésienne (Die Arlesierin), Suite Nr. 2
Georges Bizet komponierte L’Arlésienne in einem entscheidenden Moment seines
Lebens, den der Musikwissenschaftler Jean Roy als „Übergang vom Talent zum Genie“
bezeichnet. Mit Der Arlesierin, einem Schauspiel in drei Akten und fünf Bildern nach der
gleichnamigen Erzählung in Briefe aus meiner Mühle, war dem französischen Schriftsteller
Alphonse Daudet ein außergewöhnliches und von Emile Zola zutiefst bewundertes Werk
über Liebesleid und Freitod gelungen. 1872 nahm Léon Carvalho, der frisch ernannte
Leiter des (heute nicht mehr existierenden) Théâtre du Vaudeville in Paris das Stück auf
den Spielplan, um das Genre des Melodrams wiederzubeleben. Die Bühnenmusik gab er
bei Bizet in Auftrag: Eine Partitur aus 27 Nummern sollte es sein, darunter kurze
Melodramen „in denen die Musik – ähnlich wie im Film – den Dialog unterstützt“. Zudem
musste Bizet mit einem Orchester aus 26 Instrumentalisten zurechtkommen, da Carvalhos
Budget nicht mehr hergab.
Daudet, ein großer Musikliebhaber, war glücklich mit dem Ergebnis, doch die Uraufführung
des Stücks am 30. September 1872 war ein Desaster – was den Autor mehr mitnahm als
den Komponisten: „Es war ein phänomenaler Reinfall, zur schönsten Musik der Welt, in
Kostümen aus Samt und Seide und inmitten einer Opéra-comique-Kulisse. Ich war
niedergeschlagen, als ich das Theater verließ, und in meinen Ohren klang noch das
alberne Gelächter nach, das die gefühlvollen Szenen beim Publikum ausgelöst hatten.“
Bizet verlor keine Zeit und schrieb seine Bühnenmusik zu einer Suite für großes Orchester
um, die am 10. November 1872 unter der Leitung von Jules Pasdeloup erfolgreich
uraufgeführt wurde. 1879, vier Jahre nach Bizets Tod, bat Bizets Verleger Choudens den
Komponisten Ernest Guiraud um eine zweite Suite in vier Teilen: Pastorale – Intermezzo –
Menuet – Farandole. Das Menuet entlieh Guiraud Bizets Oper La Jolie Fille de Perth aus
dem Jahr 1867.
Camille Saint-Saëns (1835-1921)
Le Carnaval des animaux, grande fantaisie zoologique
(Der Karneval der Tiere, große zoologische Fantasie)
Berlioz sagte einmal über Saint-Saëns: „Dieser junge Mann weiß alles, ihm fehlt es
lediglich an Unerfahrenheit.“ Camille Saint-Saëns wurde in der Julimonarchie geboren und
starb in der Dritten Französischen Republik unter Aristide Briand – ein außergewöhnlich
langes Leben. Sein Werk, das gerne des Akademismus bezichtigt wird, verdient es,
rehabilitiert zu werden. Sein künstlerisches Credo war die Form: Er legte größten Wert auf
Klarheit, Schlichtheit, Prägnanz und Ausgeglichenheit und lehnte jegliche Übertreibung ab.
Saint-Saëns komponierte den Karneval der Tiere Anfang 1886 in Österreich für den
Cellisten Charles Lebouc, der das Stück am 9. März 1886 bei einem Privatkonzert
uraufführte. Am 2. April folgte eine weitere private Aufführung bei Pauline Viardot und in
Anwesenheit von Franz Liszt, der die Orchestrierung der Komposition lobte. Saint-Saëns
weigerte sich jedoch, das Werk zu veröffentlichen oder zu Lebzeiten vor einem größeren
Publikum aufzuführen. Einer posthumen Aufführung hingegen stimmte er zu. Lediglich Der
Schwan entwischte der Selbstzensur.
Die Partitur mit dem Untertitel Große zoologische Fantasie geht auf eine typisch
französische Tradition zurück, die von Janequin über Rameau und Couperin bis zu
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Chabrier, Ravel und Poulenc reicht, und bei der Tiere in Szene gesetzt oder musikalisch
imitiert werden. In vierzehn spöttischen, bisweilen beißend sarkastischen Bildern lässt
Saint-Saëns seine Tiere vor dem inneren Auge vorüberziehen und veralbert dabei
berühmte Komponisten und Interpreten. Die Orchesterbesetzung schwankt zwischen
Kammermusik und sinfonischem Werk und umfasst zwei Klaviere, zwei Violinen, eine
Viola, ein Violoncello, einen Kontrabass, eine Querflöte, eine Klarinette, eine Harmonika
(oder Glockenspiel) und ein Xylophon.
In Saint-Saëns’ Tierreich begegnet man folgenden Kreaturen: dem Löwen, der durch
lautes Brüllen klarstellt, wer der König der Tiere ist; Hühnern und Hähnen mit einer kurzen
Anspielung auf Rameaus La Poule; flinken Halbeseln, verkörpert durch zwei rasend
schnelle Klaviere; Schildkröten, die grotesk langsam den Cancan aus Offenbachs
Orpheus in der Unterwelt tanzen; einem Elefanten bzw. Kontrabass, der sich am Elfentanz
aus Fausts Verdammnis von Berlioz versucht; Kängurus, die von einem Klavier zum
nächsten hüpfen; einem Aquarium mit leichten, kristallklaren Klängen (Celesta, Flöte,
Klavier und Streicher); Persönlichkeiten mit langen Ohren, deren typischer Eselsschrei von
zwei Violinen präsentiert wird; einem Kuckuck im tiefen Wald, dessen poetischer Ruf (eine
große Terz) von der Klarinette ausgeführt wird; einem Vogelhaus, symbolisiert von einer
sehr lebhaften Flöte; Pianisten, die für Saint-Saëns echte Zirkustiere sind und ihre
Tonleitern reichlich ungeschickt und mit jeder Menge falscher Noten vortragen; Fossilien,
versteinerten Tieren, die einen seltsamen Reigen aufführen – zu Saint-Saëns eigener
Danse macabre, zu französischen Volksliedern (J’ai du bon tabac, Ah vous dirai-je
maman, Partant pour la Syrie) und zu Rosinas Arie Una voce poco fa aus Rossinis Barbier
von Sevilla; einem Schwan, dessen sehnsuchtsvoller Gesang vom Cello vorgetragen wird;
und schließlich im Finale noch einmal fast allen Tieren dieses großartigen „Bestiariums“.
Der Karneval der Tiere wurde wenige Monate nach Saint-Saëns’ Tod veröffentlicht und am
25. und 26. Februar 1922 unter der Leitung von Gabriel Pierné erstmals öffentlich
aufgeführt. Francis Blanche verfasste dazu kurze Texte, die bei der Aufführung von einem
Erzähler vorgetragen werden können.
Maurice Ravel (1875-1937)
Ma mère l’oye (Mutter Gans), Suite
Ravel behielt sein ganzes Leben lang kindliche Charakterzüge bei. Wenn er sich bei
Empfängen langweilte, gesellte er sich gerne zu den Kindern. Ganz besonders mochte er
Mimie und Jean, die Kinder seiner Freunde Cipa und Ida Godebski, für die er eine
fünfteilige Klaviersuite zu vier Händen mit dem Titel Ma mère l’oye (Mutter Gans)
komponierte. Die Inspiration dazu holte er sich aus Märchen von Charles Perrault, MarieCatherine d’Aulnoy und Marie Leprince de Beaumont.
Die Klaviersuite wurde am 10. April 1910 von der sechsjährigen Germaine Durony und der
zehnjährigen Jeanne Leleu uraufgeführt. Wohl angeregt durch das Beispiel von
Strawinskys Petruschka (Juni 1911), fasste Ravel den Entschluss, die Partitur zu
orchestrieren und ein Ballett daraus zu machen, indem er ein Vorspiel, Zwischenspiele
und La Danse du rouet (Tanz des Spinnrads) hinzufügte. Es traf sich gut, dass Jacques
Rouché, der Direktor des Pariser Théâtre des Arts, ebendiese Orchestrierung bei ihm in
Auftrag gab. Das Ballett wurde am 28. Januar 1912 uraufgeführt.
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Die Handlung greift die Geschichte von Dornröschen auf und mischt sie mit traumartigen
Szenen. Das Ballett gipfelt im Feengarten, wo die schöne Prinzessin vom Märchenprinzen
wach geküsst wird.
Wir hören heute jedoch nicht die Ballettmusik, sondern die Suite mit folgendem Ablauf:
Pavane de la Belle au bois dormant (Dornröschens Pavane) – Petit Poucet (Der kleine
Däumling) – Laideronnette, Impératrice des pagodes (Laideronnette, Kaiserin der
Pagoden) – Les Entretiens de la Belle et la Bête (Die Schöne und das Biest) – Le Jardin
féérique (Der Feengarten).
La Valse (Der Walzer), choreografisches Gedicht
Bereits 1906 wollte Ravel eine Hommage in Walzerform für Johann Strauss komponieren.
„Was ich momentan in Angriff nehme, ist nicht sonderlich subtil: einen großen Walzer, eine
Arte Hommage an den großen Strauss – nicht Richard, sondern den anderen, Johann. Sie
kennen meine tiefe Sympathie für diese wunderbaren Rhythmen und wissen, dass ich die
im Tanz zum Ausdruck kommende Lebensfreude weit mehr schätze als den Franck’schen
Puritanismus.“ Ravel kam immer wieder auf sein Projekt zurück, wobei der Erste Weltkrieg
die Ausgangsidee grundlegend veränderte. Im Entwurf zu seiner Autobiografie von 1928
schrieb er: „Ich hatte dieses Werk als eine Art Apotheose des Wiener Walzers geplant
(Projekt von 1906), zu der sich vor meinem geistigen Auge die Vorstellung eines
fantastischen, schicksalhaften Wirbels gesellte, dem niemand entrinnen kann (Vision von
1919). Ich siedle diesen Walzer in einer kaiserlichen Residenz um 1855 an.“ Viel mehr
verriet Ravel nicht, doch in einem Brief aus späteren Jahren steht zu lesen, „wie sehr der
Tod, all diese Toten“ seine Gedanken beherrschten, als er La Valse komponierte. Das
Werk wurde für ein großes Orchester mit Holzbläsern in Dreiergruppen und Blechbläsern
konzipiert und entwickelt sich crescendo in zwei Teilen. Sieben Themen folgen nahtlos im
Dreivierteltakt aufeinander. Dieser unerbittliche Rhythmus verstärkt das unterschwellig
Bedrohliche von Ravels Walzer und „kann als Warnung an all jene verstanden werden, die
sich fortan mit Jazz und beschwingter Musik berauschten“.
Boléro für Orchester
Der Boléro entstand zwischen Juli und Oktober 1928. Er war sofort ein Erfolg, und der
französische Kritiker Emile Vuillermoz schrieb 1939: „Zufrieden pfeift der Mann auf der
Straße die ersten Takte des Boléro, doch nur wenige professionelle Musiker sind in der
Lage, den ganzen Satz mit all seinen kunstvollen und heimtückischen Wendungen
fehlerfrei aus dem Gedächtnis zu spielen.“
Den Anstoß zu der Komposition gab Ida Rubinstein, der das Werk gewidmet ist. Zurück in
Saint-Jean-de-Luz (und nicht Montfort, wie Roland-Manuel behauptet), soll Ravel vor
einem morgendlichen Bad zögerlich und mit einem Finger ein Motiv auf dem Klavier
gespielt haben. „Finden Sie nicht, dass dieses Thema etwas Eindringliches hat?“ fragte
er. „Ich werde versuchen, es unablässig zu wiederholen, ohne Durchführung, und das
Orchester so gut ich kann allmählich immer lauter werden zu lassen.“ Und so wiederholte
Ravel zu einem Ostinato-Rhythmus im Dreivierteltakt acht Mal dasselbe achttaktige
Thema in C-Dur und ein ebenfalls achttaktiges Gegenthema in c-Moll. „Lediglich die
dynamische Steigerung (ein gigantisches Crescendo) und die Klangfarben der
Instrumente (im Wechselspiel mit Rhythmus und Melodie) bringen klangliche Vielfalt.“ Auf
dem Höhepunkt dieses musikalischen Marathons wechselt die Tonart unvermittelt nach EDur, um aber nach nur acht Takten wieder zu einem triumphalen C-Dur zurückzukehren.
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Bei der Uraufführung des Balletts am 22. November 1928 an der Pariser Oper tanzte Ida
Rubinstein in einer Choreografie von Bronislava Nijinska und unter musikalischer Leitung
von Walter Straram. Am 11. Januar 1930 dirigierte Ravel das Orchestre Lamoureux bei
der ersten konzertanten Aufführung des Werks. Der Erfolg seines Boléro war ihm
verhasst, und gerne machte er sich über seine Bewunderer lustig: „Mein Meisterwerk?
Der Boléro natürlich! Nur leider enthält er keine Musik.“
! Bibliografische Empfehlungen
Ravel, Marcel Marnat, Fayard
! Diskografische Empfehlungen
Georges Bizet, L’Arlésienne, Orchestersuite Nr. 2
● Royal Philharmonic Orchestra, Sir Thomas Beecham (EMI)
● Les Musiciens du Louvre, Marc Minkowski (Naïve)
● Orchestre du Capitole de Toulouse, Michel Plasson (EMI)
● Detroit Symphony Orchestra, Paul Paray (Mercury)
Camille Saint-Saëns, Le Carnaval des animaux
● London Sinfonietta, Charles Dutoit (Decca)
● Ensemble Musique Oblique (Harmonia Mundi)
● Philharmonia Orchestra, Igor Markhevitch (Warner)
Maurice Ravel, Ma mère l’oye
● London Symphony Orchestra, Pierre Monteux (Philips)
● Berliner Philharmoniker, Sir Simon Rattle (Warner)
● London Symphony Orchestra, Claudio Abbado (DG)
Maurice Ravel, La Valse
● Boston Symphony Orchestra, Charles Munch (Sony)
● Boston Symphony Orchestra, Seiji Ozawa (DG)
● Berliner Philharmoniker, Pierre Boulez (DG)
Maurice Ravel, Boléro
● Boston Symphony Orchestra, Seiji Ozawa (DG)
● Orchestre du théâtre des Champs-Élysées, Pedro De Freitas Branco (EMI)
● Orchestre de Paris, Jean Martinon (EMI)
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