Historisches Denken bei Ausstellungsbesuchenden

Historisches Denken bei Ausstellungsbesuchenden
Forschungsinteresse
Das Dissertationsprojekt fragt danach, welche Assoziationen der Besuch einer historischen Ausstellung
bei Besuchenden auslöst und inwiefern diese mit theoretisch entwickelten Konzeptionen historischen
Denkens gefasst werden können.
Innerhalb der Geschichtsdidaktik stellt historisches Denken ein zentrales Konzept dar (z. B. Rüsen 1983,
v. a. S. 24 ff., Hasberg/Körber 2003, Körber et al. 2007, van Drie/van Boxtel 2008). Die Bandbreite reicht
dabei von eher auf den Geschichtsunterricht bezogenen Konzeptionen bis hin zu breiteren Ansätzen, die
historisches Denken universell als Denken eines Individuums in Auseinandersetzung mit Historischem in
den Blick nehmen. Mit diesem zweiten, breiteren Verständnis erweist sich die Geschichtsdidaktik als eine
Disziplin, die sich von der Fokussierung auf den schulischen Geschichtsunterricht gelöst hat und sich
vielmehr für das weite Feld individuellen und gesellschaftlichen Umgangs mit Vergangenheit interessiert
(stellvertretend: Jeismann 1988, Rüsen 1994). Potenziell kann historisches Denken nach diesem
Verständnis auch beim Museumsbesuch auftreten und dabei durch die bestehenden theoretischen
Konzeptionen gefasst werden (Schreiber et al. 2007, S. 19 u. 22, Körber 2009 u. 2010, von Borries 2009).
Inwieweit dies der Fall ist, wird mittels einer explorativen, qualitativen Studie erhoben.
Ein spezifischer Aspekt historischen Denkens ist dabei von besonderem Interesse: Als Bezugspunkt der
Beschäftigung mit Vergangenem wird in vielen Modellen die aktuelle Gegenwart des Individuums, seine
Lebenswelt oder Lebenspraxis genannt (so etwa bei Rüsen 1983, Hasberg/Körber 2003, Körber et al.
2007). Die Gegenwart stellt demnach die Folie dar, von der aus Interessen in Bezug auf die
Vergangenheit formuliert werden, beispielsweise ausgelöst durch eine Verunsicherung oder ein zeitliches
Orientierungsbedürfnis. Die Gegenwart gilt sowohl als Ausgangs- wie auch als Zielpunkt einer
Beschäftigung mit Historischem. Im vorliegenden Dissertationsprojekt interessiert genau dieser Aspekt
historischen Denkens, in dem es um die Verbindung der in der Ausstellung gezeigten historischen
Erzählung mit der Person der Besuchenden und ihrer Zeit geht. Welche Bedeutung messen die
Besuchenden der gezeigten Geschichte für sich selbst und die Gegenwart zu?
Historische Ausstellungen werden dabei nicht im positivistischen Sinn als Abbilder der Vergangenheit
verstanden, sondern als Konstruktionen, in denen mittels Rückgriff auf historische Quellen
unterschiedlichster Art sowie mittels weiterer Elemente wie Texte, Gestaltungsmittel usw. eine mögliche
Geschichte erzählt wird. Die Besuchenden kommen nun ihrerseits mit den ausgestellten historischen
Quellen in Kontakt, zugleich aber auch mit den Deutungen, die die Ausstellungsmacher auf deren Basis
vorgenommen haben.
Seite 1/3
Universität Basel
Institut für Bildungswissenschaften
Riehenstrasse 154
4058 Basel, Switzerland
bildungswissenschaften.unibas.ch
Julia Thyroff M. A.
Assistentin
T +41 61 207 53 07
[email protected]
Das IBW wird von der Universität Basel
und der Pädagogischen Hochschule der
FHNW (PH FHNW) gemeinsam
finanziert und geführt
Ort der Datenerhebung: Die Ausstellung "14/18. Die Schweiz und der Grosse Krieg"
Das vorliegende Projekt wurde mit Besucher/innen der Wanderausstellung "14/18. Die Schweiz und der
Grosse Krieg" durchgeführt, die anlässlich des hundertjährigen Gedenkens an den Ersten Weltkrieg von
August 2014 bis Februar 2015 im Museum für Geschichte in Basel zu sehen war. Zu dieser Zeit wurde die
Datenerhebung durchgeführt.
Die Ausstellung bricht mit klischeehaften Vorstellungen von der Schweiz als einer Insel, die in den Wogen
des Krieges vollkommen unbeeinflusst blieb. Stattdessen kommen beispielsweise soziale Spannungen,
wirtschaftliche Not, aber auch Profite durch wirtschaftliche Zusammenarbeit mit den kriegführenden
Nachbarländern zur Sprache. In ihrer Konzeption kommt die Ausstellung mit relativ wenigen
dreidimensionalen Objekten aus und setzt vielmehr auf grossformatige Fotografien und Filme.
Immer wieder werden ästhetische Gestaltungselemente (z. B. Farben) und räumliche Gegebenheiten
(z. B. Enge) als Bedeutungsträger eingesetzt, die thematische Aussagen versinnbildlichen.
Welche Assoziationen löst nun der Besuch dieser Ausstellung bei den Studienteilnehmenden aus?
Messen die Besuchenden dem Gesehenen Bedeutung für sich selbst und ihre Zeit bei und inwiefern?
Welchen Anteil haben daran die verschiedenen Elemente der Ausstellung, also Fotografien,
dreidimensionale Objekte, Texte usw. und gibt es möglicherweise besonders stimulierende Elemente?
Wie bringen die Besuchenden das Gesehene in einen Zusammenhang mit sich selbst und der eigenen
Gegenwart? Wie verorten sie sich selbst in Bezug auf das Gesehene? Diesen Fragen geht die Studie
nach.
Methoden der Datenerhebung
Bei dem Projekt handelt es sich um eine qualitativ-empirische Studie, die auf zwei verschiedenen Formen
der Datenerhebung basiert:
I) In einem ersten Schritt besuchten die Studienteilnehmer/innen - erwachsene Einzelbesucher/innen
verschiedener Altersklassen - die Ausstellung "14/18" und waren ganz allgemein aufgefordert, alles ihnen
dabei in den Sinn Kommende zu äussern, also laut zu denken. Gesprochenes Wort und Laufwege wurden
mittels Audio- und Videoaufnahme aufgezeichnet. Da Lautes Denken (Ericsson/Simon 1980 u. 1984,
Someren et al. 1994, Konrad 2010) als Erhebungsmethode im Kontext der Museumsbesucherforschung
bislang noch kaum eingesetzt wurde (Ausnahmen: Wise 2011, Buttkereit 2014), fragt das
Dissertationsprojekt auch nach Erklärungskraft und Leistungsfähigkeit der Methode im Rahmen des
neuen Anwendungsfeldes.
II) In einem zweiten Schritt fand unmittelbar im Anschluss an den Ausstellungsbesuch ein teilstrukturiertes
und leitfadengestütztes Interview vom Typ eines fokussierten Interviews statt (Merton/Kendall 1993, S.
171 ff.; Hopf 2009, S. 353 ff.), in dem die zuvor erlebte Situation - hier der Ausstellungsbesuch - sowie die
dabei ausgelösten Assoziationen zum Gesprächsgegenstand wurden.
Stand des Projekts (Oktober 2015)
Die Datenerhebung wurde mit 30 Personen durchgeführt und ist abgeschlossen. Das erhobene Material
wird in den nächsten Monaten mittels induktiver Kategorienbildung inhaltsanalytisch ausgewertet. In
einem zweiten Schritt werden die entstandenen Kategorien auf ihre Passung mit bereits bestehenden
theoretischen Konzeptionen historischen Denkens hin befragt. Die Fertigstellung des Projekts ist für das
Jahr 2017 geplant.
Betreuende: Prof. Dr. Hans-Ulrich Grunder, Prof. Dr. Béatrice Ziegler
Laufzeit: 2013 - 2017
Seite 2/3
Auswahlbibliographie



















Borries, Bodo von (2009): Lernende in Historischen Museen und Ausstellungen. Erhoffter
Kompetenzerwerb und kritische Rückfragen. In: Popp, Susanne/Schönemann, Bernd (Hrsg.):
Historische Kompetenzen und Museen. Idstein. S. 100–120.
Buttkereit, Florence-Aline et al. (2014): Prozeßbegleitendes lautes Denken im Museum:
Methodenbericht und Ergebnisdokumentation. Online publiziert unter:
https://opus4.kobv.de/opus4-uni-passau/frontdoor/index/index/docId/229 (Zugriff am 10.09.2015)
Drie, Jannet van/Boxtel, Carla van (2008): Historical Reasoning: Towards a Framework for
Analyzing Students' Reasoning about the Past. In: Educational Psychology Review. Vol. 20. Issue
2. S. 87-110.
Ericsson, K. Anders/Simon, Herbert A. (1984): Protocol analysis: verbal reports as data.
Cambridge.
Ericsson, K. Anders/Simon, Herbert A. (1980): Verbal reports as Data. In: Psychological Review.
87 (3). S. 215-251.
Jeismann, Karl-Ernst (1988): Eröffnungsvortrag. Geschichtsbewußtsein als zentrale Kategorie der
Geschichtsdidaktik. In: Schneider, Gerhard (Hrsg.): Geschichtsbewußtsein und historischpolitisches Lernen. Pfaffenweiler. S. 1-24.
Hasberg, Wolfgang/Körber, Andreas (2003): Geschichtsbewusstsein dynamisch. In: Körber,
Andreas (Hrsg.): Geschichte – Leben – Lernen. v. Borries, Bodo zum 60. Geburtstag.
Schwalbach/Ts. S. 177-200.
Hopf, Christel (2009): Qualitative Interviews - ein Überblick. In: Flick, Uwe u. a. (Hrsg.): Qualitative
Forschung. Ein Handbuch. 7. Aufl. Reinbek bei Hamburg. S. 349-360.
Körber, Andreas et al. (2007) (Hrsg.): Kompetenzen historischen Denkens. Ein Strukturmodell als
Beitrag zur Kompetenzorientierung in der Geschichtsdidaktik. Neuried 2007.
Körber, Andreas (2009): Kompetenzorientiertes historisches Lernen im Museum? Eine Skizze auf
der Basis des Kompetenzmodells "Historisches Denken". In: Popp, Susanne/Schönemann, Bernd
(Hrsg.): Historische Kompetenzen und Museen. Idstein. S. 62–80.
Körber, Andreas (2010): Historisches Denken zwischen Museum und Schule. In: Christoph,
Barbara/Dippold, Günter (Hrsg.): Museum und Schule - Erfolgreiche Partner? Vorträge einer
Tagung des Bezirks Oberfranken und der Hanns-Seidel-Stiftung. Bayreuth. S. 23–46.
Konrad, Klaus (2010): Lautes Denken. In: Mey, Günter/Mruck, Katja (Hrsg.): Handbuch
Qualitative Forschung in der Psychologie. Wiesbaden. S. 476-490.
Kuckartz, Udo (2014): Qualitative Inhaltsanalyse. Methoden, Praxis, Computerunterstützung. 2.
durchgesehene Aufl. Weinheim/Basel.
Merton, Robert K./Kendall, Patricia L. (1993): Das fokussierte Interview. In: Hopf,
Christel/Weingarten, Elmar (Hrsg.): Qualitative Sozialforschung. 3. Aufl. Stuttgart. S. 171-204.
Rüsen, Jörn (1983): Historische Vernunft. Göttingen.
Rüsen, Jörn (1994): Was ist Geschichtskultur? Überlegungen zu einer neuen Art, über
Geschichte nachzudenken. In: Füßmann, Klaus et al. (Hrsg.): Historische Faszination.
Geschichtskultur heute. Köln/Weimar/Wien. S. 3-26.
Schreiber, Waltraud et al. (2007): Historisches Denken. Ein Kompetenz-Strukturmodell
(Basisbeitrag). In: Körber, Andreas et al. (Hrsg.): Kompetenzen historischen Denkens. Ein
Strukturmodell als Beitrag zur Kompetenzorientierung in der Geschichtsdidaktik. Neuried. S. 1753.
Someren, Maarten W. et al. (1994): The think aloud method. A practical guide to modelling
cognitive processes. London/San Diego.
Wise, Susie (2011): Visitors encounter the dust: How People think with objects in a history
museum exihibtion. A dissertation submitted to the School of Education and the committee on
graduate studies of Stanford University. Online publiziert unter:
https://books.google.ch/books?id=J6_BafrJ_eoC&pg=PR1&dq=susie+wise+visitors+encounter+th
e+dust&hl=de&sa=X&ved=0CCEQ6AEwAGoVChMIs7vvr5H2xwIVwUAUCh2Q2gj7#v=onepage&
q=susie%20wise%20visitors%20encounter%20the%20dust&f=false (Zugriff am 14.09.2015)
Seite 3/3