30 Jahre Leben mit Tschernobyl 5 Jahre Leben mit Fukushima

ippnw
report
die information der ippnw
1. auflage, feb 2016, 10,00€
internationale
ärzte
für die verhütung des
atomkrieges – ärzte in
sozialer verantwortung
30 Jahre Leben mit Tschernobyl
5 Jahre Leben mit Fukushima
Gesundheitliche Folgen der Atomkatastrophen
von Tschernobyl und Fukushima
30 Jahre Leben mit Tschernobyl
5 Jahre Leben mit Fukushima
Gesundheitliche Folgen der Atomkatastrophen
von Tschernobyl und Fukushima
Ein Report von
IPPNW Deutschland
Abkürzungen
BEIR
Biological Effects of Ionizing Radiation
Bq – Becquerel Beschreibt die Aktivität eines radioaktiven Materials und gibt die Anzahll der
Atomkerne an, die pro Sekunde zerfallen.
Gy – Gray
Gray gibt die durch ionisierende Strahlung verursachte Energiedosis an.
1 Gy = 1 J/kg
IAEO
Internationale Atomenergie-Organisation, auch: IAEA
ICRP
International Commission on Radiological Protection
JAEO
Japanische Atomenergie-Agentur
Personen Sv
Kollektivdosis = Anzahl der Personen (P) x Durchschnittsdosis (Sv)
Sv – Sievert
Das Sievert ist die Maßeinheit für Strahlendosen. In Deutschland wird der
Grenzwert von 0,001 Sv (1 mSv) pro Jahr offiziell als unbedenklich eingestuft.
UNSCEAR Wissenschaftlicher Ausschuss der Vereinten Nationen zur Untersuchung der
Auswirkungen der atomaren Strahlung
(United Nations Scientific Committee on the Effects of Atomic Radiation)
WHOWeltgesundheitsorganisation
Hinweis:
„Tschernobylregion“ ist die verkürzte Bezeichnung der kontaminierten Gebiete in Russland,
Weißrussland und der Ukraine.
Abkürzungen..........................................................................................................................................................................3
Einleitung................................................................................................................................................................................7
TEIL A:
30 Jahre Leben mit Tschernobyl
Überblick über die gesundheitlichen Folgen der Atomkatastrophe
1. Zusammenfassung Tschernobylfolgen..................................................................................................................... 10
1.1. Erhöhung des Krebsrisikos............................................................................................................................................ 10
1.2.Nichtkrebserkrankungen................................................................................................................................................ 11
1.3. Störungen des Erbguts................................................................................................................................................... 11
1.4. Gesundheit der Liquidatoren ........................................................................................................................................ 12
2. Der Unfallhergang............................................................................................................................................................ 13
3. Eckdaten der Katastrophe............................................................................................................................................ 15
4. Abschätzung der Gesundheitsfolgen durch den Super-GAU von Tschernobyl..................................... 19
5. Gesundheitliche Folgen für die Liquidatoren
..................................................................................................... 24
5. 1. Mortalität unter Liquidatoren......................................................................................................................................... 24
5. 2. Krebserkrankungen........................................................................................................................................................ 25
5. 3. Nichtkrebserkrankungen................................................................................................................................................ 25
5. 3.1. Herz-Kreislauferkrankungen .................................................................................................................................25
5. 3.2. Augenerkrankungen ...............................................................................................................................................26
5. 3.3. Psychische Erkrankungen........................................................................................................................................27
5. 3.4. Vorzeitige Alterungsprozesse und Schädigung des Zentralen Nervensystems..........................................................27
5. 4. Genetische Veränderungen bei Kindern von Liquidatoren......................................................................................... 28
6. Gesundheitsfolgen bei der kontaminierten Bevölkerung................................................................................ 30
6. 1. Anstieg von Krebserkrankungen .................................................................................................................................. 30
6. 1. 1. Schilddrüsenkrebs in der Tschernobylregion.......................................................................................................... 30
6. 1. 2. Andere Krebserkrankungen Tschernobylregion ..................................................................................................... 33
6. 1. 3. Krebserkrankungen in anderen europäischen Ländern...........................................................................................35
6. 2. Nichtkrebserkrankungen................................................................................................................................................ 37
6. 2. 1. Erkrankungen der blutbildenden Organe und des lymphatischen Systems............................................................ 38
6. 2. 2. Kardiovaskuläre Erkrankungen................................................................................................................................39
6. 2. 3. Benigne Schilddrüsenerkrankungen ......................................................................................................................39
6. 2. 4. Diabetes................................................................................................................................................................ 40
6. 2. 5. Lungenerkrankungen.............................................................................................................................................. 41
6. 2. 6. Hirnschädigungen / Psychische Erkrankungen....................................................................................................... 41
7. Mutagene und teratogene Effekte
........................................................................................................................... 42
7. 1. Fehlbildungen in der Tschernobylregion....................................................................................................................... 42
7. 2. Fehlbildungen im restlichen Europa.............................................................................................................................. 43
7. 3. Down-Syndrom in Deutschland und Europa................................................................................................................ 45
7. 4. Totgeburten und Anstieg der Perinatalsterblichkeit in der ehemaligen UdSSR....................................................... 46
7. 5. Totgeburten und Anstieg der Perinatalsterblichkeit im restlichen Europa................................................................ 46
7. 6. Veränderung des Geschlechterverhältnisses .............................................................................................................. 47
7. 7. Chromosomenaberrationen............................................................................................................................................ 47
TEIL B:
5 Jahre Leben mit Fukushima
Überblick über die gesundheitlichen Folgen der Atomkatastrophe
1. Der Beginn der Atomkatastrophe.............................................................................................................................. 52
2. Emissionen und Kontamination
............................................................................................................................... 54
2. 1. Atmosphärische Emissionen.......................................................................................................................................... 56
2. 2. Emissionen in den Pazifischen Ozean.......................................................................................................................... 58
2. 3. Radioaktive Kontamination von Lebensmitteln............................................................................................................ 60
3. Auswirkungen der Atomkatastrophe auf die menschliche Gesundheit
.................................................. 64
3. 1. Gesundheitliche Auswirkungen auf die Arbeiter.......................................................................................................... 65
3. 2. Gesundheitliche Auswirkungen auf die Allgemeinbevölkerung.................................................................................. 66
4. Schilddrüsen-Reihenuntersuchungen in der Präfektur Fukushima........................................................... 69
4. 1. Die Baseline-Studie........................................................................................................................................................ 70
4. 2. Die Hauptuntersuchung................................................................................................................................................. 70
4. 3. Prognosen................................................................................................................................................... 71
5. Auswirkungen der Atomkatastrophe auf das Ökosystem
6. Ausblick
.............................................................................. 73
............................................................................................................................................................................... 75
Forderungen der IPPNW
.............................................................................................................................................. 77
FOLGEN VON TSCHERNOBYL UND FUKUSHIMA
Einleitung
„Die Atomindustrie kann jedes Jahr eine
Katastrophe wie Tschernobyl verkraften.“
HANS BLIX, 1986 IN SEINER FUNKTION
ALS DIREKTOR DER IAEO
Vor 30 Jahren, am 26. April 1986, fand die Mär von der „sicheren Atomkraft“ mit dem Super-GAU von Tschernobyl ein
abruptes Ende. Millionen Menschen wurden zu Opfern radioaktiver Verstrahlung. Riesige Territorien wurden unbewohnbar. Die
radioaktive Wolke zog um die ganze Erde. In den Köpfen zahlloser Menschen wuchs die Erkenntnis von den Gefahren der
Atomenergienutzung. Auch in Deutschland erkrankten und
starben Menschen aufgrund der mit Nahrung und Atemluft in
den Körper aufgenommenen radioaktiven Partikel.
Vor 5 Jahren, am 11. März 2011, zeigte sich, dass die Menschheit die Lektion von Tschernobyl nicht gelernt hat, als es in
Fukushima ebenfalls zum Super-GAU kam. Durch mehrere
Kernschmelzen, Explosionen, Brände, Lecks und absichtliche
Freisetzungen gelangten immense Mengen radioaktiver Stoffe
in die Umwelt. Auf der internationalen Bewertungsskala für nukleare Ereignisse INES wird die Havarie des Atomkraftwerks
Fukushima Dai-ichi in der höchsten Kategorie geführt, gleichauf
mit dem Super-GAU von Tschernobyl. Mehr als 200.000 Menschen aus der Präfektur Fukushima mussten damals ihre Heimat verlassen und in Übergangslager evakuiert werden, wo bis
heute noch knapp Hunderttausend ausharren. Aber die Folgen
der Katastrophe erstreckten sich weit über die Grenzen der Präfektur hinaus. Millionen von Menschen wurden seit Beginn der
Katastrophe erhöhten Strahlendosen ausgesetzt – vor allem in
den Regionen mit relevantem radioaktiven Niederschlag, aber
auch in weniger belasteten Teilen des Landes, wo Menschen
mit verstrahltem Trinkwasser und radioaktiv kontaminierter
Nahrung konfrontiert wurden.
Tschernobyl und Fukushima – beide Atomkatastrophen stehen
stellvertretend für das enorme menschliche Leid, die generationsübergreifenden gesundheitlichen Folgen und die ökologische Zerstörung, die in den letzten 70 Jahren durch die Nukleare Kette verursacht wurden. Vom Uranbergbau über die
zivile und militärische Nutzung der Kernspaltung bis hin zu
Atommüll, Fallout und radioaktivem Abraum schädigt die Atom­
industrie Mensch und Umwelt. Wir wissen heute, dass wir aus
der Atomkraft aussteigen müssen – und wir wissen, dass dies
problemlos möglich ist. Wir verfügen seit langem über regenerierbare und nachhaltige Alternativen zur fossilen und atomaren
Energieerzeugung.
Bereits 1991 wurde als eine der ersten gesundheitlichen Folgen
der Atomkatastrophe von Tschernobyl eine erhöhte Zahl von
Schilddrüsenkrebsfällen festgestellt. Von den Organisationen
der Atomlobby wie UNSCEAR oder IAEO wurden diese trotz
erdrückender Beweise zunächst nicht der Kernschmelze von
Tschernobyl zugeschreiben. Dies änderte sich erst 1996.
Die medizinisch-biologische Bewertung von Strahlenfolgen ist
bis heute eine kontroverse Angelegenheit. Es geht um den
Streit, wie viel radioaktive Kontamination eine Gesellschaft aus
industriepolitischen Gründen heraus ertragen muss – ähnlich
wie bei der Bewertung von chemisch und toxisch bedingten
Umweltschäden.
Das einleitende Zitat von Hans Blix kennzeichnet wie kein anderes die ignorante Haltung der Atomindustrie und zahlreicher
internationaler UN-Organisationen wie UNSCEAR, IAEO und
WHO zur Gefahr und den medizinischen und biologischen Folgen von Atomkatastrophen.
Selbst kurz nach der Fukushima-Katastrophe 2011 weigerte
sich Hans Blix, inzwischen Berater des schwedischen Atomkonzerns Vattenfall, im schwedischen Rundfunk erneut, das
7
IPPNW REPORT
menschliche und ökologische Ausmaß der Atomkatastrophe
von Fukushima zur Kenntnis zu nehmen: Die Welt sei angewiesen auf Atomenergie, ohne sie könne der Energiebedarf in
großen Städten wie Shanghai und Kalkutta nicht gedeckt werden1. Ähnliche Argumente hört man von Vertretern der Atomindustrie immer wieder.
im mSv–Bereich ließ sich im Umfeld von Atomkraftwerken und
Atommülllagern in Deutschland, Frankreich und der Schweiz
eine Veränderung des Geschlechterverhältnisses nachweisen.
Ähnliche Effekte wurden nach den atmosphärischen Atombombentests und aufgrund des Super-GAUs von Tschernobyl
nachgewiesen.6
Doch jenseits des alten Streits zwischen den Befürwortern der
sogenannten friedlichen Nutzung von Atomenergie und deren
Gegnern um das Ausmaß der gesundheitlichen Schäden nach
Atomunfällen und die Folgen langfristiger Strahlenexposition,
mehren sich die von beiden Seiten anerkannten Forschungsergebnisse, die nachweisen, dass ionisierende Strahlung gefährlicher ist als bislang angenommen. Die Arbeiten stammen u.a.
von Medizinern, die in groß angelegten epidemiologischen Studien das ansteigende Krebsrisiko durch medizinische Röntgendiagnostik ins Blickfeld nahmen und fanden, dass jede durchgeführte CT-Untersuchung das Krebsrisiko signifikant erhöhte.2
Bei der Auswertung der Studienergebnisse zu Tschernobyl und
Fukushima wurde der unterschiedliche gesellschaftspolitische
Kontext, in dem die Atomkatastrophen stattfanden, mit einbezogen. Festzustellen ist, dass sowohl die Sowjetregierung und
die jeweiligen Nachfolgeregierungen als auch die japanische
Regierung systematisch Methoden benutzten, um Folgen für
die Gesundheit und Umwelt möglichst unsichtbar zu machen.
Es folgten große epidemiologische Studien zum Krebsrisiko bei
Arbeitern des Uranbergbaus und der Atomwirtschaft sowie Untersuchungen des Krebsrisikos in der Allgemeinbevölkerung
aufgrund der Radonbelastung in Wohnhäusern und der sog.
„Hintergrundstrahlung“.3 All diese Studien zeigten, dass schon
kleine Strahlendosen im einstelligen mSv-Bereich das Erkrankungsrisiko signifikant erhöhen.4 Es gibt keinen Schwellenwert,
unterhalb dessen Strahlung unschädlich wäre.
Ein weiterer Trend, der in der Forschung zu Strahlenfolgen immer deutlicher wird, ist das gehäufte Auftreten von Nichtkrebserkrankungen, z.B. Herzinfarkten oder Schlaganfällen, die
von russischsprachigen Forschern schon früh als Strahlenfolge
erkannt wurden. Der Zusammenhang dieser Krankheiten zur
Strahlenexposition wird inzwischen auch von westlichen Forschern bei Arbeitern in Nuklearanlagen gesehen5.
Auch konnten in neueren Studien erbgutschädigende Effekte
von Niedrigdosisstrahlung nachgewiesen werden. Das Geschlechtsverhältnis bei Geburt (Verhältnis männliche zu weiblichen Neugeborenen) scheint dabei ein besonders empfindlicher Marker für ein strahlenbedingtes genetisches bzw.
epigenitisches Risiko zu sein: Schon nach Strahlenexpositionen
1 http://sverigesradio.se/sida/artikel.aspx?programid=2054&artik
el=4410227
2 https://www.ippnw.de/atomenergie/artikel/de/aerzte-zeigen-krebserkrankungen-sc.html
3 Spycher et al. (2015) Background Ionizing Radiation and the Risk of
Childhood Cancer: A Census-Based Nationwide Cohort Study, Environmental Health Perspectives 123(6): 622-28
4 http://www.ippnw-ulm.de/Dokumente/Ulmer_Expertentreffen_-_Gefahren_ionisierender_Strahlung.pdf
5 Mark P. Little, Tamara V. Azizova et al. (2012), Systematic Review and
Meta-analysis of Circulatory Disease from Exposure to Low-Level Ionizing
Radiation and Estimates of Potential Population Mortality Risks. Environmental Health Perspectives, volume 120 (11), November 2012 S. 1503 -11
8
So wird die Analyse der gesundheitlichen Folgen von Tschernobyl bis heute durch eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Sachverhalte erschwert: Wesentliche Daten zum Ablauf der Tschernobyl-Katastrophe und zu den gesundheitlichen Folgen sind
nicht frei zugänglich und unterliegen der Geheimhaltung. Bis
heute besteht unter Wissenschaftlern keine Einigkeit darüber,
wie viel an radioaktivem Inventar durch die Explosion im Reaktor ausgetreten ist. Die unterschiedlichen Schätzungen reichen
von 3,5 % bis 95 % des ursprünglichen Reaktorinventars.
In den ersten Jahren nach der Katastrophe wurden vom Ministerium für Gesundheitswesen der UdSSR und vom KGB zudem zahlreiche Verbote ausgesprochen, die zur Folge hatten,
dass für die Beurteilung der Lage wesentliche Informationen
nicht gewonnen, geheim gehalten oder verfälscht wurden.7
Auch in Japan setzt die aktuelle, mit der Atomindustrie eng
verflochtene Regierung alles daran, die Akte Fukushima so
schnell wir möglich zu schließen. So werden außer der Reihenuntersuchung kindlicher Schilddrüsen in der Präfektur Fukushima keine epidemiologischen Studien durchgeführt – getreu
dem Motto: Was nicht untersucht wird, kann auch nicht gefunden werden. Auch wurden Gesetze zum sog. „Geheimnisverrat“
erlassen, die es Journalisten und Wissenschaftlern erschweren
sollen, unabhängig zu den Ereignissen in Fukushima zu forschen und zu berichten.
Diese Politik der Verharmlosung und Vertuschung schadet vor
allem den betroffenen Menschen und ihrer Gesundheit. Diese
Publikation soll hingegen aufklären – über die Folgen der Atomkatastrophen für die menschliche Gesundheit und die Gesellschaften, die mit diesen Folgen leben müssen – im Fall von
Tschernobyl seit 30 Jahren, im Fall von Fukushima seit 5 Jahren.
6 Scherb, H et al. (2015) „Ionizing radiation and the human gender
proportion at birth – A concise review of the literature and complementary
analyses of historical and recent data.“ Early Human Development 91 (12)
841–850. http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/26527392
7 Jaroshinskaja, A. (1994): Verschlusssache Tschernobyl Die geheimen
Dokumente aus dem Kreml; Berin, Basis Druck Verlag GmbH,
FOLGEN VON TSCHERNOBYL UND FUKUSHIMA
Teil A: 30 Jahre Leben mit Tschernobyl
Überblick über die gesundheitlichen Folgen
der Atomkatastrophe
9
IPPNW REPORT
1. Zusammenfassung Tschernobylfolgen
Der Super-GAU von Tschernobyl stellt die größte nukleare Katastrophe des 20. Jahrhundert dar. Sie betrifft noch immer Millionen von Menschen:
»» schätzungsweise 830.000 Liquidatoren
»» mehr als 350.000 Evakuierte aus der 30 km-Zone und
weiteren sehr stark kontaminierten Regionen
»» ca. 8,3 Millionen Menschen aus den stark strahlenbelasteten Regionen in Russland, Weißrussland und der
Ukraine
»» ca. 600 Millionen Menschen in anderen Teilen Europas,
die geringeren Strahlendosen ausgesetzt wurden.1 2
Rund 36 % der Gesamtradioaktivität ging damals über Weißrussland, Russland und der Ukraine nieder, etwa 53 % über
dem Rest Europas. 11 % verteilten sich über den restlichen
Globus. Die Angaben zur Kollektivdosis bewegen sich von 2,4
Millionen Personensievert (Quelle: Sowjetunion 1986, weltweit,
Zeitraum 70 Jahre) bis zu 55.000 Personensievert (Quelle;
IAEO/WHO 2005, nur Weißrusssland, Russland und Ukraine,
Zeitraum 20 Jahre).3
1.1. Erhöhung des Krebsrisikos
a.Schilddrüsenkrebs: Unerwartet schnell zeigte sich
schon 3–4 Jahre nach Beginn der Atomkatastrophe ein
rasanter Anstieg von Schilddrüsenkrebse bei Kindern,
besonders in der hoch belasteten Zone von Gomel,
Weißrussland. IAEO und WHO erkannten den Zusammenhang mit dem Super-GAU erst 10 Jahre später an.
UNSCEAR gab 2008 6.848 behandelte Schilddrüsenkrebserkrankungen bei Menschen an, die 1986 unter
18 Jahre alt waren. Auch in Russland und der Ukraine
zeigte sich ein signifikanter Anstieg der Schilddrüsenkrebszahlen bei Kindern.4 Und nicht nur Kinder, auch
Erwachsene und ganz besonders Frauen zeigen in den
betroffenen Gebieten zunehmende Schilddrüsenkrebsraten.5
b.Andere Krebserkrankungen: In Weißrussland kam es
laut Daten des nationalen Krebsregisters zu einem
generellen Anstieg diverser Krebsarten neben Schilddrüsenkrebs. Besonders betroffen waren dabei Prostata,
Haut, Nieren, Darm, Knochenmark, lymphatisches
System und die weibliche Brust.6 Auch wurde ein
signifikanter Anstieg von Brustkrebs und Kinderleukämien sowohl in Weißrussland als auch in der Ukraine
Die gesundheitlichen Folgen zeigten sich anders als von den
Wissenschaftlern der Atomindustrie und ihrer Lobby prognostiziert:
1 Fairlie, I.; Summner, D. (2006) The Other Report On Chernobyl; http://
cricket.biol.sc.edu/chernobyl/papers/TORCH.pdf
2 Yablokov, A.V.; Nesterenko, V.B. (2009) Chernobyl: Consequences of
the Catastrophe for People and the Environment, Annals of the New York
Academy of Sciences Vol.1181
3 USSR State Committee on the Utilization of Atomic Energy. The accident at the Chernobyl nuclear power plant and its consequences: information compiled for the IAEA Experts Meeting, 1986 August 25–9, Vienna.
Part II, Annexes 2, 7, Draft, 1986 August.
10
4 Cardis E. and Hatch M. (2011) The Chernobyl accident – an Epidemiological Perspective, Clin Oncol (R Coll Radiol), 23(4), 251–260.
5 Mürbeth, S. et al. (2004) Thyroid cancer has increased in the adult
populations of countries moderately affected by Chernobyl fallout, Med Sci
Monit, 10(7), 300-306
6 Zubets, O., Okeanov , A., (2014) Cancer Epidemiology in the Republic
of Belarus, http://www.tschernobylkongress.de/fileadmin/user_upload/
Arnoldshain_Doku/Zubec-Olga.pdf , Okeanov, A. E.; Sosnovskaya, E. Y.;
Priatkina, O. P. (2004), A national cancer registry to assess trends after
Chernobyl accident, Swiss Medical Weekly, 134, 645-649.
FOLGEN VON TSCHERNOBYL UND FUKUSHIMA
festgestellt.7 Ivanov et al. berichteten 2002 zudem von
einem erhöhten Auftreten von Krebserkrankungen in
den besonders strahlenbelasteten russischen Gebieten
Kaluga und Bryansk.8 Vor allem in der Gruppe der
Liquidatoren wurden vermehrt Leukämien und Schilddrüsenkrebs festgestellt.9 10
1.2. Nichtkrebserkrankungen
Es findet sich zudem ein deutlicher Anstieg von Nichtkrebserkrankungen bei allen hochbestrahlten Populationen aus den
ehemaligen Sowjetrepubliken wie z.B. benignen Tumoren, kardiovaskulären, zerebrovaskulären, respiratorischen, gastrointestinalen, endokrinologischen und psychischen Erkrankungen,
Katarakten und Störungen der Intelligenzentwicklung. Die Anzahl dieser Erkrankungen übersteigt die Anzahl der Krebserkrankungen bei weitem.11 Es dauerte 23 Jahre, bis UNSCEAR
kardiovaskuläre und zerebrovaskuläre Erkrankungen sowie Katarakte bei Liquidatoren als strahlungsbedingt anerkannt hat12.
Sowohl Burlakova13 als auch Loganovsky14 haben die komplexen interaktiven Prozesse bei höheren Strahlenwirkungen auf
Liquidatoren als vorzeitige Alterungsprozesse charakterisiert.
Frühe Studien aus Weißrussland, Russland und der Ukraine an
belasteten Evakuierten und Kindern zeigen zudem einen Anstieg von Veränderungen der Blutzellen mit daraus resultie-
7 Pukkala, E.; Poliakov, S.; Ryzhov, A.; Kesminiene, A.; Drozdevich, V,;
Kovgan, L.; Kyyronen, P.; Malakhova, I.V.; Gulak, L.; Cardis, E. (2006):
Breast cancer in Belarus and Ukraine after the Chernobyl accident. International Journal of Cancer, 119 (3), 651-658.
8 Ivanov, V.K., Tsyb, A.F. (2002) Medical Radiological consequences of
the Chernobyl accident for the population of Russia, assessment of radiation related risks.Mocow. „Meditsina“ Publishing House, S. 389; in Burlakova &Naidich (2006): 20 years after the Chernobyl accident; Past, Present, Future, Nova Science Publishers Inc. New York
9 Kashcheev et al. (2015) Incidence and mortality of solid cancer
among emergency workers of the Chernobyl accident: assessment of radiation risks for the follow-up period of 1992-2009,Radiat Environ Biophysics, 54(1):13-23
10 Buzunov V., Omelyanetz N., Strapko N. et al. (1996) Chernobyl NPP
accident consequences cleaning up participants in Ukraine—health status
epidemiologic study—main results. In: Karaoglou A, Desmet G, Kelly GN,
et al, eds. The radiological consequences of the Chernobyl accident. Luxembourg, Belgium: Office for Official Publications of the European Communities, 1996:871–8.
11 Tereshenko, V.M. et al. (2003) Epidemiologic research on non-neoplastic morbidity in Chornobyl NPP accident liquidation participants in
1986-87 Hygiene of population aggregates issue 41 p. 283-287 (zitiert
nach Greenpeace report 2006)
12 UNSCEAR (2008) Sources and Effects of Ionizing Radiation,
http://www.unscear.org/docs/reports/2008/11-80076_Report_2008_
Annex_D.pdf , S. 62
13 Burlakova, E. & Naidich, V.I. (2006)
14 Loganovsky, K. (2012) Brain damage following the exposure to low
doses of ionizing radiation as a result of the Chernobyl accident, Clinical
Neuropsychiatry 9(5):203-204.
render Abwehrschwäche sowie von obstruktiven und nichtobstruktiven Lungenerkrankungen15 16.
1.3. Störungen des Erbguts
Fehlbildungen, chromosomale Aberrationen und die Erhöhung
der perinatalen Sterblichkeit (Totgeburten, Fehlgeburten) wurden bereits in den ersten Jahren der Atomkatastrophe in Weißrussland, der Ukraine und in einigen mittel- und osteuropäischen Ländern registriert17.
In Weißrussland18 und in West-Berlin stieg die Anzahl von Neugeborenen mit Down-Syndrom. A. Körblein und H. Scherb wiesen in verschiedenen Untersuchungen eine erhöhte Perinatalsterblichkeit in Deutschland, Polen, Ungarn und in den
skandinavischen Ländern nach und stellten eine Relation zur
Cäsium-Belastung her. Scherb und Sperling haben die Anzahl
der zusätzlichen Tot- und Fehlgeburten in Deutschland auf
1.000–3.000 geschätzt19. Für drei skandinavische Länder
schätzte Körblein die Zahl der zusätzlichen Tot- und Fehlgeburten auf ca. 1.200. In neuen Studien konnten Scherb und
Weigelt zeigen, dass sich auch das Geschlechterverhältnis zwischen weiblichen und männlichen Neugeborenen zugunsten
des männlichen Geschlechts veränderte.20 500.000 Mädchen
fehlen demnach in Europa. Diese Studien sowie die ausführlichen weißrussischen Arbeiten zu Fehlbildungen, Tot- und
Fehlgeburten werden allerdings bisher von den internationalen
Institutionen (UNSCEAR, IAEO, ICRP) nicht in Betracht gezogen. Deren Wissenschaftler halten an einer Schwellendosis für
15 Stepanova, E. et al. (2008) Exposure from the Chernobyl accident
had adverse effects on erythrocytes, leukocytes, and platelets in children
in the Narodichesky region, Ukraine: A 6-year follow-up study, Environmental Health 7(21):1-13.
16 Svendsen, E.R. et al. (2010): 137, Cesium Exposure and Spirometry
Measures in Ukrainian Children Affected by the Chernobyl Nuclear Incident, Environmental Health Perspectives 118(5):720-725.
17 Lazjuk, G.I., Satow, Y. (2004): Some Issues on the long term investigations on genetic consequences of the Chernobyl accident; www.rri.
kyoto-u.ac.jp/NSRG/reports/.../lazjuk.pdf ; Scherb., H, Weigelt, E.(2003)
Congenital Malformation and Stillbirth in Germany and Europe Before and
After the Chernobyl Nuclear Power Plant Accident; Körblein, A.: Säuglingssterblichkeit nach Tschernobyl; http://www.strahlentelex.de/OttoHug24.
htm; Vorobtsova, IE., Semenov, AV. (2006): Complex cytogenetic characteristic of people suffered from Chernobyl accident, http://www.ncbi.nlm.
nih.gov/pubmed/16756111
18 Lazjuk, G.I. et al. (1995): Frequency Changes of inherited anomalies
in the Republic of Belarus after the Chernobyl accident; in: Radiation Protection Dosimetry, Vol 62 No 1 / 2, S. 71 – 74
19 Scherb, H., Sperling, K. (2011) Heutige Lehren aus dem Reaktorunfall von Tschernobyl. Naturw. Rdsch., 64 (5), S.229-239. www.naturwissenschaftliche-rundschau.de/navigation/dokumente/NR_5_2011_HB_
Scherb.pdf
20 Scherb, H., Voigt, C. (2013) Strahleninduzierte genetische Effekte
nach Tschernobyl und in der Nähe von Nuklearanlagen. Ulmer Expertentreffen – Gefahren von ionisierender Strahlung auch im Niedrigstrahlungsbereich – Expertise zur Grenzwertdebatte – Update 2013, 18./19. Oktober
2013, Ulm, Germany.
11
IPPNW REPORT
teratogene und chromosomale Schäden fest. Diese Annahme
wurde inzwischen von zahlreichen Studien widerlegt21.
1.4. Gesundheit der Liquidatoren
Die Liquidatoren stellen die am schwersten betroffene Gruppe
im Rahmen der Atomkatastrophe von Tschernobyl dar und werden daher in dieser Publikation noch einmal separat besprochen. Bezüglich des Ausmaßes der Morbidität und Mortalität
bei den Liquidatoren existieren zwar unterschiedliche Zahlenangaben, aber über die Tatsache, dass die meisten von ihnen
an mehreren verschiedenen schweren Krankheiten leiden (Multimorbidität) und deshalb arbeitsunfähig sind, herrscht in den
medizinischen Studien Einigkeit. Yablokov schätzt aufgrund
verschiedener Studien, dass bis 2005 schon 112.000–125.000
Liquidatoren verstorben sind.22 Die Hauptursache sind Schlaganfälle und Herzinfarkte, die zweithäufigste Todesursache sind
Krebserkrankungen. Die Tschernobylforscher Burlakova23 und
Bebeshko24 identifizierten viele somatische Veränderungen als
strahlenbedingte, vorzeitige Alterungsprozesse.
21 z.B. Schmitz-Feuerhake, I. (2015) Das vergessene Risiko durch ionisierende Strahlung für die Nachkommen exponierter Eltern; in: umwelt–
medizin–gesellschaft, 28(4): 264-269.
22 Yablokov, A.V. (2009): Mortality after the Chernobyl Accident, in: Ann
N Y Acad Sci, 1181: 192-216.
23 Internationaler Kongress: 20 Jahre Tschernobyl – Erwartungen und
Lehren für die Zukunft: Vortrag: Prof. Elena Burlakova, Moskau: Naturwissenschaftliche Prinzipien von Schadwirkungen der Strahlung auf den Gesundheitszustand der Bevölkerung
http://www.strahlentelex.de/20_Jahre_nach_Tschernobyl_Abstracts_
GSS_Berlin-Charite_2006.pdf
24 Bebeshko, V., Bazyka, D., Loganovsky, Volovik, S.,Kovalenko, A., Korkushko, O. & Manton, K. (2006), Does Ionizing radiation accelerate aging
phenomina? (pp.13-19). In: Contributed papers to the International conference „20 years after chernobyl Accident Future Outlook“ April 24 – 26th
2006, Kyiv, Ukraine , Kyiv HOLTEH
12
FOLGEN VON TSCHERNOBYL UND FUKUSHIMA
2. Der Unfallhergang
„300 Meter über dem Reaktor erreichte die
Radioaktivität 18 Sv/Std. Die Hubschrauberpiloten bekamen mitten im Flug Schwindelanfälle.
Um ihre Sandsäcke in den brennenden Schlund
des Kraftwerks zu werfen, streckten sie den Kopf
aus der Kabine und arbeiteten auf Sicht.“
AUS: IGOR KOSTIN: TSCHERNOBYL NAHAUFNAHME
Das sowjetische Atomkraftwerk Tschernobyl liegt rund 100 Kilometer nördlich der ukrainischen Hauptstadt Kiew, nahe der
weißrussischen Grenze. In der Nacht auf Samstag, den 26.
April 1986, führten die Ingenieure gerade einen Betriebstest am
Reaktor 4 durch, als dieser plötzlich außer Kontrolle geriet: die
Leistung erhöhte sich immer weiter, die Notabschaltung versagte, die atomare Kettenreaktion nahm rasend schnell zu. Gerade einmal 44 Sekunden nach Beginn des Tests zerstörten
zwei Explosionen das Dach und den Kern des Reaktors. Das
Kühlwasser begann abzulaufen, so dass die Graphitstäbe im
Reaktorkern Feuer fingen und die Brennstäbe zu schmelzen
begannen. Das Feuer, das durch den schwer zu löschenden
Brand der Graphitstäbe aufrechterhalten wurde, dauerte bis
zum 10. Mai 1986.
190.000 kg hoch radioaktives Material befand sich zu diesem
Zeitpunkt im Reaktor. 12 Trillionen Becquerel (12 x 1018 Bq
bzw. 12.000 Peta-Bq) an radioaktiven Partikeln wurden durch
die Explosion und die darauf folgenden Feuer binnen weniger
Tage in die Atmosphäre freigesetzt – 200mal so viel wie die
Atombomben von Hiroshima und Nagasaki zusammen. Darun-
ter waren 85 PBq langlebiges Cäsium-137 und 1.760 PBq Jod131.1
Da der Wind sich im Laufe der folgenden Tage oft drehte, zogen
mehrere radioaktive Wolken von Tschernobyl aus übers Land.
Etwa 36% der Gesamtradioaktivität von Cäsium-137 regnete
über den drei Sowjetrepubliken Weißrussland, Ukraine und
Russland nieder – vor allem nördlich des Kraftwerks über den
weißrussischen Regionen Gomel und Mogilev. Weitere 53% der
Radionuklide verteilten sich über das restliche Europa, vor allem
Skandinavien, Ost- und Mitteleuropa und den Balkan, die übrigen 11% über der gesamten nördliche Hemisphäre. In
Deutschland wurde besonders der Südosten Bayerns und Baden-Württemberg kontaminiert.2
36 Stunden nach Beginn der Kernschmelze wurden in der Bundesrepublik, der Schweiz, der Tschechoslowakei und Schweden
bereits erhöhte Strahlendosen registriert. Analysen zeigten
schnell, dass es sich um eine Kernschmelze in einem Atomkraftwerk handeln musste, doch die Öffentlichkeit erfuhr davon
vorerst noch nichts. Die sowjetische Nachrichtenagentur TASS
meldete erst am Abend des 28. April 1986, dass es einen Unfall im AKW Tschernobyl gegeben habe. In der BRD berichteten
am darauffolgenden Tag viele Zeitungen prominent über das
Ereignis, in der DDR schaffte es die Nachricht nur als kleine
Meldung auf die hinteren Seiten. Eine Gesundheitsgefahr durch
den Fallout aus Tschernobyl stritten beide deutschen Regierungen zunächst ab.
1 Fairlie, I.; Summner, D. (2006) The Other Report On Chernobyl; http://
cricket.biol.sc.edu/chernobyl/papers/TORCH.pdf
2 Bennett, B. (1996) Assessment by UNSCEAR of Worldwide Doses
from the Chernobyl Accident in Proceedings of an IAEA Conference One
Decade after Chernobyl: Summing up the Consequences of the Accident,
Vienna, 8-12 April 1996, Jan. 2016.
13
IPPNW REPORT
Derweil hatte in Tschernobyl die Werksfeuerwehr als erste Reaktion auf die Katastrophe mit verzweifelten Löschversuchen
begonnen, konnte den Graphitbrand im Inneren des Reaktorkerns jedoch erst nach zwei Wochen beenden. Erst der Einsatz
von Helikoptern, die insgesamt 5.000 Tonnen Bor, Blei, Sand
und Lehm über dem Reaktor abwarfen, brachte die Wende. Im
Lauf der Tage, Wochen und Monate nach dem Super-GAU
schickte die Regierung Schätzungen zufolge insgesamt bis zu
830.000 Menschen zum Katastrophendienst nach Tschernobyl. Die meisten dieser „Liquidatoren“ waren Rekruten der
Roten Armee aus allen Teilen der Sowjetunion. Sie räumten mit
bloßen Händen hochradioaktiven Schutt beiseite, trugen kontaminierte Erde ab, keulten verstrahlte Tiere, gruben radioaktiven Müll um und errichteten um die Atomruine den sog. Sarkophag, der die hohe Strahlung einschließen sollte. Aber auch
einfache ArbeiterInnen, IngenieurInnen, ÄrztInnen, KrankenpflegerInnen und WissenschaftlerInnen waren in Tschernobyl
im Einsatz und riskierten dabei hohe Strahlendosen.
Weil die gesundheitlichen Auswirkungen ionisierender Strahlung
sowohl in der Sowjetunion als auch im Westen unterschätzt und
heruntergespielt wurden, kamen effektive Schutzmaßnahmen
für die Bevölkerung viel zu spät oder unterblieben ganz. So
spielten Kinder weiterhin auf verstrahlten Wiesen und Spielplätzen, liefen PassantInnen ungeschützt durch radioaktiven Regen. In Kiew und Minsk fanden wie in allen sozialistischen Staaten die traditionellen Feierlichkeiten und Umzüge zum 1. Mai
statt. Millionen von Menschen waren zudem einer erhöhten
Strahlenbelastung ausgesetzt, weil sie kontaminierte Nahrung,
Trinkwasser und Milch verzehrten.
Vor allem in Teilen der ehemaligen Sowjetunion traf der SuperGAU von Tschernobyl die Menschen schwer: In der Stadt Prypjat, gerade einmal 3 Kilometer vom havarierten Reaktor entfernt, stiegen die Strahlenwerte bis auf das 250-fache der
normalen Hintergrunddosis an.3 Die Bewohner Prypjats klagten
bereits mehrere Stunden nach der Explosion im Atomkraftwerk
über Kopfschmerzen und Übelkeit und gaben einen eigentümlichen metallischen Geschmack an. Dennoch wurden die rund
50.000 Bewohner der Stadt erst 36 Stunden nach Beginn des
Super-GAUs evakuiert. Kontrollen von Milch und Trinkwasser
gab es erst ab dem 1. Mai, Jodtabletten zum Schutz der Schilddrüse vor radioaktivem Jod wurden erst 4 Wochen nach der
Kernschmelze und somit viel zu spät verteilt. Auch die Evakuierung der Dörfer innerhalb der Sperrzone 30 Kilometer rings um
den Reaktor und in anderen stark kontaminierten Gebieten begann erst eine Woche nach der Reaktorexplosion. Viele der
Dörfer wurden mit Planierraupen eingeebnet, ihre verstrahlten
Trümmer mit Erde abgedeckt. Insgesamt knapp 400.000 Menschen mussten ihre Heimat verlassen, mehr als 8,3 Millionen
Menschen lebten plötzlich in kontaminierten Gebieten.
3 Repin, V.S. (1995) „Radiological-hygienic importance of radiation sources and doses for population of 30-km zone after the accident on ChNPP.
Problem of reconstruction, assessment of risks“. Institute of epidemiology
and prophylaxis of radiation injury, National Academy of Medicine, Ukraine
14
FOLGEN VON TSCHERNOBYL UND FUKUSHIMA
3. Eckdaten der Katastrophe
Welche Populationen sind durch die
Tschernobyl-Katastrophe betroffen?
830.000 Liquidatoren, 350.400 Evakuierte aus der 30 km-Zone
und weiteren sehr stark kontaminierten Zonen, 8.300.000
Menschen aus stark strahlenbelasteten Zonen in Russland,
Weißrussland und der Ukraine und 600.000.000 Menschen in
geringer strahlenbelasteten Regionen im restlichen Europa1 2.
Bei der Abschätzung der Belastung der Böden mir radioaktivem
Cäsium gilt zu beachten, dass bereits vor dem Super-GAU von
Tschernobyl radioaktives Cäsium in den Böden enthalten war
– aufgrund der atmosphärischen Atomwaffentests der 1950er
bis 1970er Jahre. De Cort et al. führten 1996 im Auftrag der EU
Messungen der Cäsiumkonzentration in verschiedenen europäischen Ländern durch und schätzten die Konzentration von
Cäsium-137 in Europa vor der Atomkatastrophe von Tschernobyl auf 0-3,5 kBq/m². Die Karte auf der folgenden Seite zeigt
die Belastung in Europa zehn Jahre nach dem Super-GAU. 3
(siehe Abbildung 3-1)
Durch komplexe Umrechnungen kann man aus der Bodenkonzentration die zusätzliche Strahlendosis durch Gammastrahlung
(„groundshine“) abschätzen. Basierend auf den Angaben zu
Verhalten, Exposition und Konzentration von Cäsium-137 in den
ehemaligen Sowjetrepubliken Weißrussland, Ukraine und Russ­
land ist von einer durchschnittlichen zusätzlichen Strahlendosis
von 10 Mikrosievert pro Jahr pro kBq/m² Cäsium-137 auszugehen (je nach der untersuchten Region 7,4–13). Diese Abschät-
1 Yablokov, A.V.; Nesterenko, V.B.; Nesterenko, A.V. (2009) Chernobyl:
Consequences of the Catastrophe for People and the Environment
2 Fairlie, I.; Summner, D. (2006) The Other Report On Chernobyl;
http://cricket.biol.sc.edu/chernobyl/papers/TORCH.pdf
3 De Cort, M.; Dubois, G.; Fridman, Sh. D.; Germenchuk, M.G.; Izrael,
Yu. A.; Janssens, A.; Jones, A. R.; Kelly, G. N.; Kvasnikova, E. V.; Matveenko, I. I.; Nazarov, I. M.; Pokumeiko, Yu. M.; Sitak, V. A.; Stukin, E. D.; Tabachny, L. Ya.; Tsaturov, Yu. S. 1998 and: „Atlas of Caesium Deposition on
Europe after the Chernobyl Accident“, EUR report nr. 16733, Office for
Official Publications of the European Communities, Luxembourg, Plate 1.
zung umfasst nicht die interne Strahlendosis durch Ingestion
oder Inhalation strahlender Partikel, die indirekt ebenfalls von
der Umgebungskonzentration abhängig ist.
Da über das tatsächlich entwichene radioaktive Inventar bis
heute Unklarheit besteht, sind die daraus folgenden Abschätzungen des Quellterms, also der gesamten, aus dem Reaktor
entwichenen Emissionsmenge, bis heute unklar. Eine Übersicht
über die ausführliche Diskussion der unterschiedlichen Abschätzungen findet sich bei Fairlie/Sumner (2006).4
Daten zur Anzahl der direkt Betroffenen und
zum Ausmaß der Kontamination5:
Weißrussland 2.500.000 Menschen
Ukraine
3.500.000 Menschen
Russland
3.000.000 Menschen
135.000
400.000
3.000.000
270.000
wurden evakuiert,
verloren ihre Wohnung und mussten wegziehen
Menschen leben in Gebieten
mit > 185.000 Bq/m2 (5 Ci/km2)
Menschen leben in Gebieten
mit > 555.000 Bq/m2 (15 Ci/km2)
Kontaminierte Gebiete:
Weißrussland 30%; 62.400 km2
Ukraine 7%; 42.000 km2 und 40% der Wälder
Russland
1,6% (des europäischen Teils); 57.650 km2
2
21.000 km wurden mit 185-555.000 Bq/m2 (5-15 Ci/km2)
und
10.000 km2 mit mehr als 555.000 Bq/m2 (> 15 Ci/km2)
kontaminiert.
4 Fairlie, I.; Summner, D. (2006): The other report on Chernobyl,
S. 19–24
5 UN-Generalversammlung A/50/418, 8.9.1995
15
IPPNW REPORT
Abbildung 3-1:
Karte der Cs 137–Belastung in europäischen Ländern nach den Daten
der von der EU durchgeführten Messungen 1996.
Cs137 (kBq/qm)
Belorussland
Russland
Ukraine
Insgesamt
1.543.000
1.654.000
1.189.000
4.386.000
185 – 555
239.000
234.000
107.000
580.000
555 – 1.480
98.000
95.000
300
193.300
Insgesamt
1.880.000
1.983.000
1.296.300
5.159.300
37 – 185
Tabelle 3-1:
Verteilung der Einwohner in den radioaktiv kontaminierten Gebieten der
Ukraine, Weißrusslands und Russlands im Jahre 1995 6 (Einwohner)
6 UN Chernobyl Forum (EGE): Environmental Consequences of the
Chernobyl Accident and Their Remediation: Twenty Years of Experience,
Working Material, August 2005.
16
FOLGEN VON TSCHERNOBYL UND FUKUSHIMA
Kontamination Weißrussland 1995
(nach Danielova 2014)7
Abbildung 3-2:
Abbildung 3-4:
Jod 131 Kontamination
Verteilung SR – 90
Abbildung 3-3:
Verteilung Caesium
Abbildung 3-5:
Verteilung PU 238, 239, 240
7 http://www.tschernobylkongress.de/fileadmin/user_upload/Arnoldshain_Doku/Danilova_2014_Germany.pdf
17
IPPNW REPORT
Abbildung 3-6:
Die Cs137-Bodenkontamination in Deutschland
Die Cs137 –Bodenkontamination
in Deutschland8
Länder in Europa, die mit 37–185 kBq/m2
Cs137 kontaminiert wurden:
Schweden:
Finnland:
Österreich:
Norwegen:
Bulgarien:
Schweiz:
Griechenland:
Slowenien:
Italien:
Moldawien:
12.000 km2
11.500 km²
8.600 km2
5.200 km2
4.800 km2
1.300 km²
1.200 km2
300 km2
300 km2
60 km2
In der Bundesrepublik Deutschland erfolgte die Deposition der
Radionuklide mit Regenschauern, die zwischen dem 30. April
und dem 5. Mai 1986 niedergingen. Etwa zwei Drittel der deponierten Aktivität stammten dabei von den Isotopen Jod-131
und Tellur-132, die mit Halbwertzeiten von nur 8 bzw. 3 Tagen
relativ schnell zerfallen. Von den langlebigen Nukliden stellte
Cäsium-137 mit 8% den größten Anteil der Gesamtaktivität. Die
langfristige Strahlenbelastung durch den Reaktorunfall wird daher fast ausschließlich durch dieses Nuklid verursacht. In den
ersten Jahren nach der Tschernobylkatastrophe betrug die radioaktive Belastung durch externe Gammastrahlung von Cäsium-Zerfallsprodukten in Bayern ca. 1 mSv/Jahr.9
8 BfS: Der Reaktorunfall 1986 in Tschernobyl; https://www.bfs.de/
SharedDocs/Downloads/BfS/DE/broschueren/kt/bro-tschernobyl.pdf?__
blob=publicationFile&v=6
9 http://www.tschernobylkongress.de/fileadmin/user_upload/pdfs/
ScherbVoigt_fehlbildungen_fehlende_geburten.pdf
18
FOLGEN VON TSCHERNOBYL UND FUKUSHIMA
4. Abschätzung der Gesundheitsfolgen durch
den Super-GAU von Tschernobyl
Abbildung 4-1
Ziel dieser Publikation ist es, eine möglichst umfassende Abschätzung der gesundheitlichen Folgen für die Bevölkerung
durch die Atomkatastrophe von Tschernobyl zu erstellen. Wir
wissen, dass die kurzfristige Einwirkung hoch dosierter ionisierender Strahlung, aber auch die langfristige Exposition mit niedrig dosierter Strahlung das Risiko zahlreicher Krankheiten, vor
allem Krebs- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen signifikant erhöht. Im Zuge der Atomkatastrophe kam es nicht nur zu einer
akuten Verstrahlung von Hunderttausenden von Liquidatoren
mit zum Teil sehr hohen Strahlendosen, sondern auch zur Belastung von Hunderttausenden Evakuierten aus der sog. Todeszone und anderen schwer kontaminierten Gebieten und den
Millionen Bewohnern, die in stark kontaminierten Gebieten
Weißrusslands, Russlands und der Ukraine lebten1.
Auch in anderen Teilen der ehemaligen Sowjetunion, Skandinaviens, Ost- und Mitteleuropas und Kleinasiens führte der radioaktive Niederschlag örtlich zu hohen Konzentrationen von radioaktivem Cäsium, Jod, Strontium und anderen strahlenden
1 Yaroshinskaya, A. (2004) Verschlusssache Tschernobyl , Berlin Basisdruck-GmbH, S. 148 – 149
19
IPPNW REPORT
Substanzen. Je nach täglicher Windrichtung und Regenfall kam
es jeden Tag zu veränderten Kontaminationsmustern, bis das
Feuer im Reaktor 4 endlich gelöscht werden konnte.
mSv pro Jahr) oder die Strahlendosis durch medizinische Strahlendiagnostik und andere anthropogene Strahlenquellen, sondern ausschließlich den Effekt des radioaktiven Niederschlags.
Die gesundheitlichen Folgen für die Allgemeinbevölkerung in
einer solch unübersichtlichen Situation sind schwer abzuschätzen. Es gibt prinzipiell zwei Möglichkeiten:
Eines der Probleme mit dieser Angabe ist das Verwischen individueller Risiken durch Durchschnittsbildung – einzelne Individuen in der Bevölkerung können je nach Lebensstil und Exposition deutlich höhere oder niedrigere individuelle Dosen
erhalten oder diese deutlich schlechter oder besser abwehren
– so ist die stark erhöhte Strahlenempfindlichkeit von Kindern
oder Menschen mit Immundefekten gut bekannt. Dennoch
stellt die Kollektivdosis ein nützliches Werkzeug zur Abschätzung von gesundheitlichen Konsequenzen und Erkrankungsrisiken für große Bevölkerungsgruppen dar. Denn multipliziert
man die Kollektivdosis mit strahlenmedizinisch etablierten Risikofaktoren, erhält man eine Vorstellung davon, mit wie vielen
Neuerkrankungen zu rechnen ist.
»» die Abschätzung der zu erwartenden Erkrankungsfälle in
der betroffenen Bevölkerung auf der Basis der freigesetzten Strahlenmenge
»» die Untersuchung betroffener Personengruppen und Populationen auf signifikante Steigerungen von Krankheitshäufigkeit.
Beide Methoden haben ihre Mängel und bringen logistische
und technische Probleme mit sich. Auch ist bis heute nicht
bekannt, wie viel radioaktives Material tatsächlich während des
Super-GAUs freigesetzt wurde. Hinzu kommt die systematische
Geheimhaltungspolitik der Regierung der UdSSR, die es Ärzten
verbot, die erkannten und behandelten Krankheiten in Zusammenhang mit der radioaktiven Kontamination zu setzen. So
mussten Ärzte Diagnosen fälschen. In Ergänzung dazu erschwerte die Vertuschungspolitik der zuständigen internationalen UN-Gremien (IAEO, UNSCEAR und WHO) die Erforschung
der Gesundheitsfolgen extrem.
In dieser Publikation wollen wir versuchen, anhand der wichtigsten internationalen Forschungsergebnisse die bestmögliche
Abschätzung der zu erwartenden Krankheitsfälle durch die
Atomkatastrophe von Tschernobyl durchzuführen und anschließend die Ergebnisse aller relevanten Studien zum Thema „Gesundheitliche Folgen von Tschernobyl“ zu analysieren und zusammenzufassen.
Abschätzung der zu erwartenden Krankheitsfälle aufgrund der Kollektivdosis
Um eine Vorstellung davon zu bekommen, mit wie vielen zusätzlichen Erkrankungsfällen aufgrund der Atomkatastrophe
von Tschernobyl zu rechnen ist, empfiehlt sich zunächst ein
Blick auf die geschätzte Kollektivdosis der Allgemeinbevölkerung. Als Kollektivdosis oder kollektive Lebenszeitdosis bezeichnet man die Summe individueller Lebenszeitdosen in einer
Bevölkerung.
Ist in einer Bevölkerung von 1.000 Menschen beispielsweise
mit einer durchschnittlichen zusätzlichen individuellen Lebenszeitdosis durch radioaktiven Niederschlag von 100 mSv zu
rechnen, ergibt sich für diese Gruppe eine Kollektivdosis von
100 Personen-Sv (PSv). Diese Dosisangaben beziehen sich auf
eine durchschnittliche Lebenserwartung und beinhalten nicht
die natürliche Hintergrundstrahlung (je nach Region ca. 2-4
20
Auf Grundlage von offiziellen Veröffentlichungen zu Kollektivdosen durch radioaktiven Niederschlag der Tschernobyl-Katastrophe kann so beispielweise die Anzahl der zusätzlich zu erwartenden Krebserkrankungen (Inzidenz) und der Krebstoten
(Mortalität) pro Jahr errechnet werden. Problematisch ist dabei
die oben bereits diskutierte Divergenz der Angaben zu Kollektivdosen durch Tschernobyl-Fallout in den einzelnen Quellen.
So liegen die Schätzungen atomindustrienaher Organisationen
wie UNSCEAR oder IAEO deutlich unter den offiziellen Zahlen
der sowjetischen Behörden von 1986 mit den umfangreichsten
Schätzungen von Strahlendosen.
UdSSR 1986
Die Gesellschaft für Reaktorsicherheit (GRS) veröffentlichte bereits 1987 ihren Bericht „Neuere Erkenntnisse zum Unfall im
Kernkraftwerk Tschernobyl“ (GRS-S-40).2 Darin dokumentiert
sie Informationen der Sowjetunion (UdSSR) von August 1986
über die radiologischen Auswirkungen des Unfalls in Tschernobyl.3 Die Sowjetunion hat die Kollektivdosis der evakuierten Bevölkerung innerhalb der 30km-Zone (ca. 135.000 Personen)
mit 16.000 PSv angegeben, wobei nur die äußere Gammastrahlung zugrunde gelegt wurde. Die von Tschernobyl betroffene
Bevölkerung außerhalb der 30km-Zone (bis ca. 1.000 km) wurde auf 75 Millionen Personen beziffert. Die Kollektivdosis aufgrund der äußeren Gammastrahlung wurde für das 1. Folgejahr
nach Tschernobyl mit 90.000 PSv und für einen Zeitraum von
50 Jahren mit 290.000 PSv angegeben. Die Kollektivdosis
durch Ingestion von Cs-134/137 in einem Zeitraum von 70 Jah-
2 Gesellschaft für Reaktorsicherheit (GRS) mbH: Neuere Erkenntnisse
zum Unfall im Kernkraftwerk Tschernobyl. Stand: Oktober 1986. GRSS-40 (Zweite Auflage, Februar 1987), S. 70.
3 UdSSR State Committee on the Utilization of Atomic Energy: The Accident at the Chernobyl Nuclear Power Plant and its Consequences Working Document for the IAEA PostAccident Review Meeting. Vienna, August
1986 (Draft).
FOLGEN VON TSCHERNOBYL UND FUKUSHIMA
ren wurde mit 2.100.000 PSv beziffert. Die UdSSR hat die Kollektivdosis durch den Unfall in Tschernobyl folglich mit insgesamt 2,4 Mio. PSv angegeben, wobei auch hier nur ein Teil der
tatsächlich betroffenen Bevölkerung abgebildet ist, da sich
auch jenseits der 1.000 Kilometer radioaktiver Niederschlag
ereignete, beispielsweise in Süddeutschland.
Cardis et al. 1996
Das WHO-Forscherteam um Elizabeth Cardis beschränkte ihre
Studie auf die stark kontaminierte Tschernobyl-Region (Weißrussland, Ukraine, Russland) und die Liquidatoren. 4 Für
200.000 Liquidatoren wird eine Kollektivdosis von 20.000 PSv
für die ersten zehn Jahre nach Tschernobyl bis 1995 angegeben. Für die 135.000 Evakuierten werden 1.600 PSv genannt.
Die Kollektivdosis für 270.000 Personen in hochgradig kontaminierten Gebieten (Cs-137-Bodenkonzentration >555 kBq/m2)
geben Cardis et al. mit 10.000-20.000 PSv in zehn Jahren an.
Für 6,8 Mio. Menschen in den Gebieten mit einer Cs-137-Bodenkonzentration zwischen 37 und 555 kBq/m2 wird eine Kollektivdosis von 35.000 bis 100.000 PSv für die Zeit bis 1995
genannt. Insgesamt summieren sich die Dosen dieser vier Bevölkerungsgruppen somit auf eine Kollektivdosis von rund
67.000 bis 142.000 für die ersten zehn Jahre der Atomkatastrophe. Für die Ermittlung der Lebenszeitdosis müssen die genannten Werte laut Cardis et al. um jeweils 50% erhöht werden.5 Die Lebenszeitdosis bis 2056 würde dann insgesamt im
Bereich von knapp 100.000 bis rund 212.000 PSv liegen.
Bennett 1995/1996
Der langjährige Sekretär des Wissenschaftlichen Ausschusses
der Vereinten Nationen zur Untersuchung der Auswirkungen
der atomaren Strahlung (UNSCEAR), Burton Bennett, veröffentlichte 1995/1996 eine Studie über die radioaktiven Freisetzungen in Tschernobyl6 und eine Abschätzung weltweiter Strahlendosen.7
4 Cardis, E.; Anspaugh, L.; Ivanov, V.K.; Likhtarev, K.; Mabuchi, A.E.;
Okeanov, A.E.; Prisyazjhniuk, K. (1996): Estimated Long Term Health Effects of the Chernobyl Accident. Proceedings of an IAEA Conference One
Decade after Chernobyl: Summing up the Consequences of the Accident.
Vienna. 8-12 April 1996. S. 241- 271 (Tabelle 1).
5 Vgl. Fairlie, I.; Sumner. D.: The other Report on Chernobyl (TORCH).
Berlin, Brussels, Kiev, April 2006. S. 62.
6 Bennett, B. (1995) Exposures from Worldwide Releases of Radionuclides. In Proceedings of an International Atomic Energy Agency Symposium
on the Environmental Impact of Radioactive Releases. Vienna, May 1995.
IAEA-SM-339/185.
7 Bennett, B. (1996) Assessment by UNSCEAR of Worldwide Doses
from the Chernobyl Accident in Proceedings of an IAEA Conference One
Decade after Chernobyl: Summing up the Consequences of the Accident,
Vienna, 8-12 April 1996.
Bennett gibt die weltweite Kollektivdosis mit 600.000 PSv an.
Davon seien zu 36% die Bevölkerungen in Weißrussland, der
Ukraine und Russland, zu 53% die Bevölkerung im restlichen
Europa und zu 11% die restliche Weltbevölkerung betroffen. Ian
Fairlie und David Sumner orientierten sich in ihrem 2006 veröffentlichten Bericht „The other Report on Chernobyl (TORCH)“8
an Bennett’s Angabe von 600.000 PSv.
US State Department of Energy
(Anspaugh et al. 1988)
Das US State Department of Energy bezifferte die Kollektivdosis
für die Ukraine, Weißrussland und Russland 1988 auf 326.000
PSv.9 Für das übrige Europa wird eine Kollektivdosis von
580.000 PSv angegeben. Für die restliche Welt wird die Kollektivdosis von 28.000 PSv ausgewiesen. Insgesamt ergibt sich
eine Kollektivdosis von 934.000 PSv.
UN Chernobyl Forum 2005
Das sogenannte „UN Chernobyl Forum“ der Internationalen
Atomenergie Organisation (IAEO) und der Weltgesundheitsorganisation (WHO) machte 2005 kaum brauchbare Angaben zu
den Kollektivdosen aufgrund von Tschernobyl.10 IAEO und WHO
nannten lediglich 55.000 Personen-Sievert (PSv) als Kollektivdosis in Weißrussland, der Ukraine und Russland. Das übrige
Europa sowie den Rest der nördlichen Hemisphäre klammerten
sie vollständig aus. Außerdem beschränkten sie ihre Abschätzung der Kollektivdosis auf einen Zeitraum von lediglich 20 Jahren (bis 2006), machten also keine Angaben zur Lebenszeitdosis. Die Untersuchung ist somit nicht geeignet, die Folgen von
Tschernobyl umfassend abzuschätzen.
UNSCEAR-Report 2013
Der Wissenschaftliche Ausschuss der Vereinten Nationen zur
Untersuchung der Auswirkungen der atomaren Strahlung
macht in seinem Bericht von 2013 Angaben zu den Kollektiv-
8 Fairlie, I.; Sumner. D.: The other Report on Chernobyl (TORCH).
9 Anspaugh, L.R., Catlin RJ, and Goldman M (1988) The Global Impact
of the Chernobyl Reactor Accident. Science 242, 1513-1519.
10 IAEA/WHO Health Effects of the Chernobyl Accident and Special
Health Care Programmes. Report of the UN Chernobyl Forum Expert
Group „Health“ (EGH) Working draft, July 26 2005. IAEA/WHO Environmental Consequences of the Chernobyl Accident and their Remediation.
Report of the UN Chernobyl Forum Expert Group „Environment“ (EGE)
Working draft, August 2005
21
IPPNW REPORT
dosen in ganz Europa.11 Die Lebenszeitdosis aller Betroffenen
wird von UNSCEAR mit 400.000 PSv angegeben, wobei
140.000 PSv allein auf die absorbierte Schilddrüsendosis zurückzuführen seien.
Für die Berechnung der zu erwartenden Krebsfälle ist die Frage
der anzuwendenden Risikofaktoren von erheblicher Bedeutung.
Wir verwenden die international anerkannten Risikofaktoren des
BEIR VII-Berichts, allerdings ohne den nicht mehr zeitgemäßen
Dosis-Reduktionsfaktor DDREF (dose and dose rate effectivenesfactor). Bezüglich der Inzidenz, also des Neuauftretens von
Krebsfällen in einer strahlenexponierten Bevölkerung, ist somit
von 0,2 zusätzlichen Krebsfällen pro Personen-Sievert Kollektivdosis auszugehen (Konfidenzintervall 0,09-0,35).12 Auch die
WHO geht in ihrem Fukushima-Bericht von 2013 mittlerweile
von einem Risikofaktor von 0,2/PSv für die Krebsinzidenz aus.13
Der Risikofaktor für Mortalität ist dabei etwa halb so groß (0,1/
PSv, Konfidenzintervall 0,05-0,19). Neuere Studien legen nahe,
dass die Risikofaktoren vermutlich noch immer zu niedrig
sind.14
Es zeigt sich, dass die offiziellen Angaben der UdSSR aus dem
Jahr 1986 mit 2,4 Mio. PSv alle späteren offiziellen Angaben zu
Kollektivdosen bei weitem übersteigen – obwohl sie, wie oben
erwähnt, nicht die Gesamtheit aller Betroffenen Populationen
umschließen.
Aus Studien der Überlebenden von Hiroshima und Nagasaki
und Metaanalysen von Krankheitsdaten strahlenexponierter Bevölkerungsgruppen wird zudem deutlich, dass das Risiko für
strahleninduzierte zerebro- und kardiovaskuläre Erkrankungen
wie Herzinfarkte oder Schlaganfälle ähnlich hoch zu sein
scheint, wie das für Krebserkrankungen.15 16 Somit wäre eine
ungefähr ähnlich hohe Zahl an Herz-Kreislauf-Erkrankungen in
der verstrahlten Bevölkerung zu erwarten, wie Krebserkrankungen. Hinzu kommen noch neurologische, autoimmunologische, endokrinologische, psychiatrische und genetische Erkrankungen, die nachweislich ebenfalls mit Strahlenexposition
assoziiert sind, für die aber noch keine zuverlässigen Risikofaktoren bekannt sind. Es wird somit klar, dass die Berechnung der
zu erwartenden Krebserkrankungen anhand der Abschätzungen von Kollektivdosen und unter Verwendung gängiger
Risikofaktoren nur einen Teil der tatsächlichen Morbiditäts- und
Mortalitätslast der betroffenen Bevölkerung wiedergibt. Umfangreiche epidemiologische Untersuchungen der verstrahlten
Populationen sind notwendig, um eine bessere Abschätzung
der gesundheitlichen Auswirkungen der Atomkatastrophe von
Tschernobyl zu ermöglichen. Im Folgenden soll ein Überblick
über die relevantesten Forschungsergebnisse aus diesem Feld
gegeben werden.
Unabhängig davon, welcher Quelle man den größten Glauben
schenkt, steht eines fest: Die Angabe der Internationalen Atomenergie Organisation von lediglich 4.000 Toten als Folge von
Tschernobyl stellt eine gravierende Unterschätzung und einen
unverhohlenen Versuch der Atomlobby dar, die Folgen von
Tschernobyl kleinzurechnen. Es wird zudem deutlich, dass die
Anzahl der zu erwartenden tschernobylbedingten Krebserkrankungen bei einigen Zehntausend, allerdings auch bei rund
850.000 liegen kann. Entsprechend schwanken die erwarteten
Krebstodesfälle zwischen einigen Zehntausend und einer halben Million.
11 UNSCEAR (2013), „Sources, effects and risks of ionizing radiation
– UNSCEAR Report; Volume I – Report to the General Assembly – Scientific Annex A: Levels and effects of radiation exposure due to the nuclear
accident after the 2011 great east-Japan earthquake and tsunami“.
02.04.14, S. 9. www.unscear.org/docs/reports/2013/13-85418_Report_2013_Annex_A.pdf
12 National Academy of Sciences Advisory Committee on the Biological
Effects of Ionizing Radiation (BEIR). „BEIR VII report, phase 2: Health risks
from exposure to low levels of ionizing radiation“. 2006, S. 279, Tabelle
12.5. www.nap.edu/openbook.php?record_id=11340&page=8
13 WHO (2013) „Global report on Fukushima nuclear accident details
health risks“. 28.02.13. www.who.int/mediac entre/news/releases/2013/
fukushima_report_2013022
14 IPPNW: Gefahren ionisierender Strahlung. Ergebnisse des Ulmer Expertentreffens vom 19. Oktober 2013. IPPNW-Informationen. Januar 2014.
S. 3
22
15 Little, M.P.; Azizova, T.V.; Bazyka, D.; Bouffler, S.D. et al. (2012)
Systematic review and meta-analysis of circulatory disease from exposure
to low-level ionizing radiation and estimates of potential population mortality risks. Environ. Health Perspect. 120 (11), 1503-1511.
16 Shimizu, Y.; Kodama, K.; Nishi, N.;Kasagi, F. et al. (2010) Radiation
exposure and circulatory disease risk: Hiroshima and Nagasaki atomic
bomb survivor data, 1950-2003. BMJ 2010, 340, b5349
FOLGEN VON TSCHERNOBYL UND FUKUSHIMA
Tabelle 4-1:
Tschernobyl: Kollektivdosen, Krebserkrankungen und Krebstodesfälle
23
IPPNW REPORT
5. Gesundheitliche Folgen für die Liquidatoren
„Die zuverlässigsten Roboter waren Soldaten.
Man nannte sie ‚grüne Roboter‘ – nach der Farbe
ihrer Uniform. Über das Dach des zerstörten
Reaktors sind 3.600 Soldaten gegangen. … Es gab
einen Moment, da die Gefahr einer thermonuklearen Explosion bestand, und man musste das
‚schwere Wasser‘ aus dem Reaktor ablassen,
damit er nicht da hineinstürzte… Die Aufgabe
lautete: ‚Wer taucht in das ‚schwere Wasser‘ und
öffnet den Schieber des Ablassventils?‘„
SWETLANA ALEXIJEWISCH: TSCHERNOBYL –
EINE CHRONIK DER ZUKUNFT (S. 170)
Es waren 830.000 Liquidatoren aus der gesamten Sowjetunion,
die – freiwillig oder unter massivem Druck, ansatzweise informiert oder völlig ahnungslos – ihre Gesundheit und ihr Leben
für die Begrenzung der Katastrophenfolgen aufs Spiel setzten.
Als die Roboter versagten, mussten Menschen als sog. „Bioroboter“ auf das Dach des zerstörten Reaktorgebäudes, um die
radioaktiven Trümmer mit bloßen Händen aufzusammeln und
ins Innere des Gebäudes zu werfen. Sie haben durch ihren
Einsatz Andere vor noch schlimmeren Schäden bewahrt. Es
waren Soldaten, Feuerwehrleute, Ingenieure, Bauarbeiter, Physiker, Mediziner, Elektrotechniker und Hunderttausende Rekruten der Roten Armee. Sie arbeiteten direkt am Reaktor oder in
der 30-km-Todeszone. Masken, Schutzkleidung und Ausrüstung waren schlecht und stammten meist aus alten Armeebeständen. Die Betroffenen sprechen in Zeitzeugenberichten
noch heute oft über einen „Krieg gegen die radioaktive Strah-
24
lung“, den sie führten und dass sie „für die Sowjetunion siegen
sollten“.1
Die Liquidatoren selbst wurden Opfer einer Bürokratie, deren
Fehlleistungen und Lügen es bis heute verhindern, die strahlenbedingten Gesundheitsschäden zu diagnostizieren, qualifiziert
zu behandeln und die Liquidatoren sozial und finanziell zu unterstützen.
Obwohl schon kurz nach Beginn der Katastrophe in Moskau,
Obninsk, Minsk und Kiew Behandlungs- und Forschungszentren für Liquidatoren aufgebaut wurden, wurde nur etwa ein
Drittel der Betroffenen dort registriert, langfristig beobachtet
und untersucht. Individuelle Strahlendosen sind für die Liquidatoren nicht bekannt. Der Großteil der Liquidatoren waren junge
Rekruten der Roten Armee aus allen Teilen der Sowjetunion –
von Estland oder Georgien bis Kirgisien und Sibirien – und sie
wurden nach ihrem Einsatz in ihre Heimat zurückgeschickt. So
fielen sie aus den Langzeitbeobachtungen heraus.
5. 1. Mortalität unter Liquidatoren
Yablokov schätzt aufgrund verschiedener Studien, dass bis
2005 schon 112.000–125.000 Liquidatoren gestorben waren.2
Übereinstimmend nennen russische und ukrainische Untersuchungen nichtmaligne Erkrankungen und schwere Multimorbidität als Hauptursache für den Tod der Liquidatoren. Erst an
zweiter Stelle folgen als Todesursache Krebserkrankungen.Ho-
1 Zeitzeugen berichten von Liquidatoren z.B. in S. Alexijewitsch (1997)
Tschernobyl: Eine Chronik der Zukunft: Igor Kostin (2006: Tschernobyl:
Nahaufnahme)
2 Yablokov, A.V. (2009): Mortality after the Chernobyl Accident, in: Ann
N Y AcadSci, 2009 Nov;1181:192-216.
FOLGEN VON TSCHERNOBYL UND FUKUSHIMA
rishna untersuchte 2005 die Mortalität bei männlichen ukrainischen Liquidatoren und fand, dass sich diese zwischen 1989
und 2004 um mehr als das Fünffache erhöht hatte: von 300
auf 1.660 pro 100.000, verglichen mit einem Anstieg der Todesrate im selben Zeitraum von 410 auf 600 pro 100.00 bei der
normalen männlichen Bevölkerung.3
5. 2. Krebserkrankungen
Zahlreiche Studien der letzten Jahre zeigen erhöhte Krebsraten
in der Population der Tschernobyl-Liquidatoren: Okeanov fand
2004 bei den 71.840 im Nationalen Belarussischen Krebsregis­
ter erfassten Liquidatoren ein signifikant erhöhtes Risiko für alle
Krebserkrankungen im Vergleich zur Bevölkerung in der am
wenigsten kontaminierten Region, Vitebsk.4 Dies betraf vor
allem Nieren-, Blasen- und Schilddrüsenkrebs.
Kesmiene et al. wiesen 2008 in einer Fall-Kontroll-Studie ein
erhöhtes Krebsrisiko für Leukämie und Non-Hodgkin Lymphom
nach.5 Die selbe Forschungsgruppe wies 2012 in einer weiteren
Fall-Kontroll-Studie bei Liquidatoren aus Russland, Weißrussland und den baltischen Ländern ebenfalls ein erhöhtes Risiko
für Schilddrüsenkrebs nach.6 Zablotska et al. wiesen in einer
Fall-Kontroll-Studie von 2013 an 110.645 ukrainischen Liquidatoren auch für die chronisch lymphatische Leukämie (CLL) eine
signifikante Assoziation zur Strahlenexposition nach.7
Das ukrainische Gesundheitsministerium erklärte im Jahre
2002, dass der Anteil der als krank anerkannten Liquidatoren
von 1987 bis 2002 von 21,8 Prozent auf 92,7 Prozent angestiegen sei.8
5. 3. Nichtkrebserkrankungen
Atmungsorgane und des muskulo-skeletalen Systems.9 Dies
geht aus Untersuchungen einer Kohorte von 68.145 männlichen Liquidatoren aus dem Staatlichen Register der Ukraine
hervor. Die Liquidatoren hatten zwischen 1986 und 1987 in der
Todeszone gearbeitet und eine durchschnittliche Strahlendosis
von 146 mGy erhalten (von 50 bis 700 mGy). In dieser Studie
wurde zudem ein hoher Grad an Invalidität beschrieben. Für
bestimmte Erkrankungen wurde eine signifikante Dosis-Wirkungs-Beziehung gefunden: Hypothyreodismus, Thyreoditis,
zerebrovaskuläre Erkrankungen und Erkrankungen des zentralen und peripheren Nervensystems.
Yarilin hat eine Übersicht zusammengestellt, wie sich die Inzidenz von 12 Erkrankungsgruppen bei Liquidatoren verändert
hat10 (siehe Tabelle 5-1 auf der nächsten Seite).
Auf einige Nicht-Krebserkrankungen soll im Folgenden detaillierter eingegangen werden. 5. 3. 1. Herz-Kreislauferkrankungen
Eine Untersuchung der Weltgesundheitsorganisation WHO hatte schon 1996 bei Liquidatoren in der Russischen Föderation
eine signifikante Zunahme von Herz-Kreislauf-Erkrankungen
festgestellt.11 Ivanov fand 1999 bei den russischen Liquidatoren
ebenfalls ein um 40% erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauf- Erkrankungen.12
Lazyuk untersuchte 2005 kardiovaskuläre Erkrankungen bei
weißrussischen Liquidatoren.Seine Studien zeigten im Beobachtungszeitraum von 1992 bis 1997 einen starken Anstieg
der Inzidenz kardiovaskulärer Erkrankungen mit tödlichem Ausgang unter den Liquidatoren (22,1 Prozent) im Vergleich zur
restlichen Bevölkerung (2,5 Prozent). Als Ursache wird eine
Schädigung der Blutgefäße durch Strahlung diskutiert.13
Die bei Liquidatoren am häufigsten vorkommenden Erkrankungen umfassen Schlaganfälle und Herzinfarkte, Erkrankungen des Magen-Darm-Trakts, Hormonstörungen, Krankheiten des zentralen und peripheren Nervensystems, der
Ivanov fand zudem ein erhöhtes Risiko für Schlaganfälle, besonders bei denjenigen, die 150 mSv in weniger als sechs Mo-
3 Horishna, O.V. (2009) Chernobyl Catastrophe and Public Health Results of Scientific Investigation, in: Yablokov, AV (2009): Mortality after the
Chernobyl Accident, in: Ann N Y AcadSci, 1181:192-216.
4 Okeanov, A. (2004) A National Cancer Registry to assess after the
Chernobyl accident; in: Swiss Med Weekly, 134: 645 – 649
5 Kesmiene et al. (2008) Risk of hematological malignancies among
Chernobyl liquidators; in: Radiat Res; 170(6): 721–735
6 Kesmiene A. et al. (2012) Risk of thyroid cancer among chernobyl liquidators. Radiation Research 178(5): 425-36.
7 Zablotska et al. (2013) Radiation and the risk of Chronic Lymphocytic
and Other Leukemias Chornobyl Cleanup workers; in: EPH Volume 121(1):
59-65.
8 Nucleonics Week, May 2, 2002. Wiedergegeben nach Oda Becker,
Helmut Hirsch 2004: 18 Jahre nach Tschernobyl, Sanierung des Sarkophags, Wettlauf mit der Zeit, Herausgegeben von Greenpeace e.V. Hamburg im April 2004.
9 Tereshchenko, V.M. et al (2002) Epidemiologic researches of disability
and mortality dynamics in the participants of Chornobyl NPP accident liquidation: Issue 39, p.165 -167 (nach Greenpeace 2006)
10 Yarilin, A.A. (1996) Immunological Disturbances, in: Chernobyl Catastrophe Consequences: Human Health, Moskow, 68-96, russ. Zit. In:
Burlakova et al. (1998) Peculiarities of Biological Action of Low Irradiation
Doses and their Probable Relation to the Health Status of Participants of
Chernobyl Accident Liquidation.
11 The Radiological Consequences of the Chernobyl Accident, European
Commission and Belarus, Russian and Ukrainian Ministries on Chernobyl
Affairs, Emergency Situation and Health, Report EUR 16544 EN, 1996.
12 Ivanov, V. K. et al. (1999) Radiation-epidemiological analysis of the
incidence of non-cancer diseases among Chernobyl liquidators, in: „Radiation & Risk“, Issue 11
13 Lazyuk, D. (2005): Cardiovascular Diseases among Liquidators and
Populations; PSR/IPPNW-Schweiz-Kongress „Gesundheit der Liquidatoren“ in Bern.
25
IPPNW REPORT
Erkrankungs-Organgruppe
1986
1987
1988
1989
1990
1991
1992
1993
Infektionen und Parasiten
36
96
197
276
325
360
388
414
Neubildungen
20
76
180
297
393
499
564
621
Bösartige Neubildungen
13
24
40
62
85
119
159
184
Endokrines Sytem
96
335
764
1.340
2.020
2.850
3.740
4.300
Blut und blutbildende Organe
15
44
96
140
191
220
226
218
Psychische Veränderungen
621
9.487
1.580
2.550
3.380
3.930
4.540
4.930
Nervensystem und Sinnesorgane
232
790
1.810
2.880
4.100
5.850
8.110
9.890
Kreislauf
183
537
1.150
1.910
2.450
3.090
3.770
4.250
Atmungssystem
645
1.770
3.730
5.630
6.390
6.950
7.010
7.110
Verdauungsorgane
82
487
1.270
2.350
3.210
4.200
5.290
6.100
Urogenitalsystem
34
112
253
424
646
903
1.180
1.410
Haut- und Unterhautgewebe
46
160
365
556
686
747
756
726
Tabelle 5-1:
Inzidenz von 12 Erkrankungsgruppen bei Liquidatoren
(auf 100.000 Personen)
naten erhalten hatten.14 Ivanov stellte eine Relation zwischen
dem Sterberisiko und der erhaltenen Strahlendosis bei russischen Liquidatoren fest. Bei einer Kohorte von 47.820 Personen, die eine mittlere Strahlenbelastung von 128 mGy erhalten hatten, fand er ein signifikant erhöhtes Sterberisiko. Das
zusätzliche relative Risiko (ERR), an einem soliden Tumor zu
sterben, betrug 0,74/Gy und das ERR, an Herz-Kreislauferkrankungen zu sterben, 1,01/Gy. Für alle Todesursachen zusammen
fand er ein ERR von 0,42/Gy.15
14 Ivanov, V.K. et al. (2009): Mortality of the Chernobyl Emergency Workers: Analysis of Dose Response by Cohort Studies Covering Follow-Up
Period of 1992–2006; in: Radiation Health Risk Sciences, Part 4, S. 95
-102
15 Die für das Kollektivdosiskonzept angewandten Risikofaktoren beschreiben die Wahrscheinlichkeit, dass über die Rate an spontanen Krebserkrankungen hinaus zusätzliche Krankheitsfälle auftreten. Üblicherweise
wird das absolute Risiko (excess absolute risk, EAR) in der Einheit 1/Sv
angegeben. Ein Risikofaktor (EAR) für die Mortalitat von 0,2/Sv bedeutet
bei einer Bestrahlung mit 1 Sievert ein zusätzliches Risiko von 20 %, an
Krebs zu sterben – zusätzlich also zum Grundrisiko von ca. 25 %. Dies
würde einem zusatzlichen relativen Risiko (excess relative risk, ERR) von
0,2/0,25=0,8/Sv entsprechen.
26
5. 3. 2. Augenerkrankungen
Fedirko vom Forschungszentrum für Strahlenmedizin der Akademie der Medizinischen Wissenschaften der Ukraine berichtete, dass 95 Prozent der von ihm untersuchten 5.200 Liquidatoren unter Augenerkrankungen litten – unter anderem an
Katarakten, Macula-Degeneration und chronischer Konjunktivitis16. Eine neuere Arbeit von Chumak et al. aus dem Jahr 2013,
in der 8.607 ukrainische Liquidatoren untersucht wurden,
macht genauere Abschätzungen zu Dosimetrie und dem Auftreten der Linsentrübungen.17
16 Fedirko, P. (2005) Eye Diseases among Liquidators: Lesions of Fundus and Macula, Vitreous and Lens; PSR/IPPNW-Kongress „Gesundheit
der Liquidatoren“ in Bern.
17 Chumak, V.V. et al. (2013: Retrospective dosimetry of populations exposed to reactor accident: Chernobyl example, lesson for Fukushima, Radiation Measurements, 55:3-11.
FOLGEN VON TSCHERNOBYL UND FUKUSHIMA
5. 3. 3. Psychische Erkrankungen
Ein unter Liquidatoren besonders häufig anzutreffender Symp­
tomenkomplex ist das Chronic Fatigue Syndrom (CFS). Für 26
Prozent der Menschen mit einer Strahlenbelastung von weniger
als 300 mSv treffen laut dem ukrainischen Hirnforscher Loganovsky die diagnostischen Kriterien von CFS zu. Loganovsky hat
eine Übersicht zu den Hirnschädigungen erstellt, die bei allen
strahlenbelasteten Gruppen in der Ukraine gefunden wurden:
den Liquidatoren, den Evakuierten, den verstrahlten Kindern
und den Kindern der Liquidatoren bzw. der hoch belasteten
Bevölkerung. Er fand, dass Dosen von 250 mSv und mehr sowohl direkt Schäden in Hirnnervenzellen hinterließen als auch
Hirngefäßschäden verursachten, die Schlaganfälle auslösen
können. Die Liquidatoren leiden unter ausgeprägten Aufmerksamkeitsdefiziten, Vergesslichkeit, auffallender Müdigkeit und
schneller mentalen Erschöpfbarkeit.
Malova vom Moskauer Zentrum für Strahlenerkrankungen und
dort speziell für Liquidatoren zuständig, erklärte: „Unsere Theorie ist, dass auf irgendeine Weise die Blutzufuhr zum Gehirn
verringert wurde und möglicherweise noch verringert ist.“ Diese
Erkrankungen sind bei Liquidatoren signifikant häufiger als bei
der restlichen Bevölkerung.18
Loganovsky und Flor-Henry beobachteten eine Zunahme von
zerebrovaskulären Erkrankungen, Schizophrenie und chronischer Müdigkeit bei den Liquidatoren. Korrespondierend fanden sie EEG-Veränderungen der linken Großhirnhemisphäre
sowie linksseitige Hirnrindenveränderungen im MRT.19
Um die psychischen Veränderungen bei Liquidatoren weiter zu
spezifizieren, führte Loganovsky eine vergleichende Studie an
Liquidatoren, Afghanistan-Veteranen mit PTBS und gesunden
Personen durch. Bei den Liquidatoren konnte er somatosensorisch-evozierte Potentiale (SSEP) nachweisen, die klinisch mit
Parästhesien und allgemeinen Störungen von Sinnesempfindungen wie bei Hirnschädigungen einhergingen. Diese Befunde
waren bei den Afghanistan-Veteranen und den gesunden Probanden nicht nachzuweisen.20
Radiologischen Institut des Ministeriums für Public Health fanden in einer neuropsychologischen Studie Schädigungen der
höheren geistigen und seelischen Funktionen bei Liquidatoren:
Verlangsamung des Denkens, erhöhte Müdigkeit, ein Nachlassen visueller und verbaler Gedächtnisfunktionen und eine Reduktion höherer motorischer Funktionen. Die Befunde glichen
denen von deutlich älteren Personen, so dass von einem Prozess des vorzeitigen Alterung gesprochen werden kann.21
5. 3. 4. Vorzeitige Alterungsprozesse
Viele Studien aus Russland, Weißrussland und aus der Ukraine
legen nahe, dass Strahlung den Alterungsprozess erheblich beschleunigen kann. In einer Übersichtsarbeit von 2006 wiesen
die ukrainischen Forscher Bebeshko et al. nach, dass der durch
ionisierende Strahlung beschleunigte Alterungsprozess ein Modell für das normale Altern darstellen könnte:
„Ionisierende Strahlung beeinflusst sowohl die Zellstruktur als
auch die Zellfunktion auf der molekularen und der genetischen
Ebene. Die Auswirkungen ionisierender Strahlung auf die Zelle
und die zellulären Veränderungen während des normalen Alterungsprozesses funktionieren mit gleichen bzw. ähnlichen biologischen Mechanismen: Reaktionen freier Radikale, Reparaturprozesse der DNS, Änderung der Immunfunktion, veränderte
Mechanismen im Fettstoffwechsel, systemische Veränderungen
im zentralen Nervensystem.“22
In Forschungsarbeiten an Liquidatoren aus Russland, Weiß­
russland und der Ukraine wurde ebenfalls festgestellt, dass
Krankheiten, die normalerweise dem Alterungsprozess zuzuordnen sind, bei diesen Menschen etwa 10 bis 15 Jahre früher
auftraten.23 Es handelte sich hierbei um:
»» Beschleunigte Alterung der Blutgefäße, besonders im
Gehirn und in den Herzkranzgefäßen24
Zhavoronkova vom Neurophysiologischen Institut der Russischen Akademie der Wissenschaften und Kholodova vom
18 Malova, J. V. (2002) Russian Scientific Centre of Radiology, Psychological Rehabilitation, Moscow, 18. UICC International Cancer Congress
2002, Abstract No. O 183: Cancer patients – the participants of the liquidation of the consequences of the Chernobyl explosion: the aims and the
recourses of the psychological rehabilitation. Strahlentelex 374-375/2002,
S. 9, Verminderte Hirnfunktionen bei Katastrophenhelfern. Die tageszeitung (taz) vom 16. Juli 2002.
19 Flor-Henry, P. (2005): Radiation and the Left Hemisphere: Increased
Incidence of Schizophrenia and Chronic fatigue Syndrome (CFS) in Exposed Populations in Chernobyl, Hiroshima and Nagasaki, PSR/IPPNW-Kongress “Gesundheit der Liquidatoren“ in Bern.
20 Loganovsky, K. (2003) Psychophysiological Features of Somatosensory Disorders in Victims of the Chernobyl Accident, Human Physiology,
29, 110–117.
21 Zhavoronkova, L. A., Belostocky, A. P., Koulikov, M. A., Kuptsova, S.
V., Kholodova, N. B., & Oknina, L. B. (2010) Specific changes in auditory
cognitive evoked potentials in those who participated in the liquidation of
the Chernobyl accident: II. Analysis of the late P300 component. Human
physiology, 36(4), 388-398.
22 Bebeshko, V., Bazyka, D., Loganovsky, K., Volovik, S., Kovalenko,A.
et al.(2006) Does ionizing radiation accelerate the aging phenomena? International Conference. Twenty Years after Chernobyl Accident: Future
Outlook. April 24 -26,2006, Kiev, Ukraine. Contributed Papers (HOLTEH,
Kiev) 1, 13-18, www.tesec-int.org/pdf.
23 Yablokov, A., Nesterenko, V., Nesterenko, A. (2009): Chernobyl –
Consequences of the Catastrophe for People and Environment, Annals of
the New York Academy of Sciences, Vol. 1181, Boston, Mass.
24 Ivanov, V., Tsyb, A. et al (2005) The radiation risks of cerebrovascular
diseases among liquidators, Radiatsionnaiabiologiia, radioecologiia / Rossiiskaiaakademiianauk; VOL: 45 (3); p. 261-70 /2005 May-Jun/
27
IPPNW REPORT
»» Senile Katarakte des Auges und Sklerose der Blutgefäße 5. 4. Genetische Veränderungen bei Kindern
des Augenhintergrunds25
»» Verlust der höheren intellektuellen kognitiven Funktionen
infolge von Schädigung des zentralen Nervensystems26
»» Verlust der Stabilität des antioxidanten Systems (verantwortlich für Reparaturprozesse bei Chromosomenschäden in der Zelle)27
Die russische Krebsforscherin Burlakova bestrahlte Versuchstiere mit Gammastrahlung aus Zerfallsprodukten von Cäsium-137 in niedrigen Gesamtdosen von 0,0006 bis 1,2 Gray
(Gy) und studierte dabei diverse biophysikalische und biochemische Parameter des Membranapparates der Zellen. Insgesamt zeigte sich dabei eine ungewöhnliche Dosisabhängigkeit:
Die Dosis-Wirkungs-Beziehungen waren nicht gleichförmig und
nichtlinear. Belastungen mit niedrigen Strahlendosen vergrößerten meist die Wirkung schädigender Faktoren. Die Wirkungen von Strahlenbelastungen hingen von den Ausgangsparametern der Gewebe ab. Innerhalb bestimmter Dosisbereiche
war fraktionierte Niedrigdosisstrahlung schädlicher als eine
akute Einmalbestrahlung.
Die Untersuchungen von Burlakova et al. ergaben bei Tieren
wie bei Menschen nach Bestrahlung Veränderungen der Struktur und der Eigenschaften von Zellmembranen, der Aktivität von
antioxidativen und regulatorischen Enzymen und in der Konzentration von Antioxidantien. Sie bestätigte damit den sogenannten Petkau-Effekt und ging darüber hinaus. Antioxidantien
wie Tocopherol, Vitamin A und Cäruloplasmin nahmen durch
Strahleneinwirkung ab, freie Radikale und ihre Reaktionsprodukte nahmen hingegen zu, Membranen zeigten eine höhere
Starrheit und der Flüssigkeitszustand der Lipid- und ProteinKomponenten veränderte sich. Insgesamt, so Burlakova, änderten sich die Verhältnisse nach Bestrahlung wie bei einem
natürlichen Alterungsprozess. „Die Liquidatoren sind 10 bis 15
Jahre früher gealtert als die sonstige Bevölkerung. Das lässt
sich auch bei Tieren zeigen und bei denen kann man nicht von
einer Auswirkung von Strahlenangst oder Radiophobie sprechen.“ (siehe Abbildung 5-1)
25 Fedirko, P. (2006); Augenerkrankungen bei Aufräumarbeitern, Schädigungen des Augenhintergrunds, der Makula, des Glaskörpers und der
Linse, in: http://www.strahlentelex.de/20_Jahre%20_nach_Tschernobyl_
Abstracts_GSS_Berlin-Charite_2006.pdf
26 Bazyka, D.A.; Loganovsky, K. M. et al. (2015) Gene expression, telomere and cognitive deficit analysis as a function of Chornobyl radiation
dose and age: from in utero to adulthood
Kholodova, N. (2006); Langzeitveränderungen des Nervensystems von
Liquidatoren, die 1986/1987 im Einsatz waren, in:http://www.strahlentelex.
de/20_Jahre%20_nach_Tschernobyl_Abstracts_GSS_Berlin-Charite_2006.pdf,
27 Burlakova, E. (2006): Naturwissenschaftliche Prinzipien von Schadwirkungen der Strahlung auf den Gesundheitszustand der Bevölkerung, in:
http://www.strahlentelex.de/20_Jahre%20_nach_Tschernobyl_Abstracts_
GSS_Berlin-Charite_2006.pdf
28
von Liquidatoren
Stepanova et al. untersuchten Fehlbildungen bei Kindern von
Liquidatoren. Die höchste Rate an Fehlbildungen trat 1987–
1988 auf: 117 pro 1.000 Geburten. Danach fiel die Rate auf 83
–102 pro 1.000 (1989–1991). 1992 traten 67 Fehlbildungen
und von 1993–1997 zwischen 24 und 60 Fehlbildungen pro
1.000 Geburten auf.28
Ebenfalls zeigten die Kinder von Liquidatoren eine erhöhte Anzahl von Chromosomenaberrationen.29
Wissenschaftler der Universität Haifa fanden im Erbgut der
Kinder von Liquidatoren im Vergleich zu ihren vor Tschernobyl gezeugten Geschwistern bis zu 7-mal mehr Genmutationen. Diese Mutationen gehen zwar nicht zwangsläufig alle
mit Krankheiten einher, die Häufung von Erbgutveränderungen
zeigt jedoch, dass transgenerationelle Effekte vorliegen. Vor
allem bei Kindern, die unmittelbar nach dem Unfall gezeugt
wurden, fand man eine hohe Anzahl von Mutationen. Die Väter
der untersuchten Kinder hatten eine Strahlendosis von 50 bis
200 Millisievert erhalten. Das entspricht etwa der Dosis, die
von Arbeitern eines Atomkraftwerkes im Laufe von 10 Jahren
aufgenommen wird.
Tsyb fand einen signifikanten Anstieg der Prävalenz aller Erkrankungen der Organe und Organsysteme bei Kindern von
Liquidatoren im Vergleich zu russischen Kindern aus Obninsk.30
Gehäuft wurden bei Liquidatorenkindern besonders Leukämien,
angeborene Fehlbildungen, endokrinologische und metabolische Erkrankungen sowie Geisteskrankheiten- und Verhaltensauffälligkeiten diagnostiziert. Auch gab es zum Teil signifikante
Erhöhungen von Erkrankungen des Urogenitalsystems, des
Nervensystems und der Sinnesorgane.
28 Stepanova, E. I., Skvarskaya, E. A., Vdovenko, V. J. & Kondrashova, V.
G. (2004). Genetic consequences of the Chernobyl accident in children
born to parents exposed to radiation. Probl. Ecolog. Medic. Genetic. Clinic.
Immunol. (Kiev) 7(60): 312–320 (in Russian): nach Yablokov, 2009
29 Horishna, O. V. (2005). Chernobyl Catastrophe and Public Health:
Results of Scientific Investigations (Chernobyl Children’s Foundation, Kiev):
59 pp. (in Ukrainian). Zitiert nach Yablokov, 2009
30 A.F. Tsyb et al. (2004) General characterization of health in first-generation offspring born to liquidators of the Chernobyl NPP accident consequences; Int. J. Rad. Med. 6(1-4), 116-121.
FOLGEN VON TSCHERNOBYL UND FUKUSHIMA
Abbildung 5-1:
Die komplexen Mechanismen des vorzeitigen Alterungsprozesses nach
Bebeshko/Loganovsky1
1 Bebeshko, V.; Bazyka, D.; Loganovsky, K. et al: (2006): Does Ionizing
Radiation accelerate Aging phenomena? International Conference 20 years
after Chernobyl Accident; zitiert aus: Jablokov „(2009) Chernobyl-Consequences of the Catastrophe
29
IPPNW REPORT
6. Gesundheitsfolgen für die kontaminierte
Bevölkerung
Nach den Liquidatoren sind die Evakuierten und die Bewohner
der stark kontaminierten Gebiete die Bevölkerungsgruppen, die
im Zuge der Atomkatastrophe von Tschernobyl den höchsten
Strahlendosen ausgesetzt waren und bei denen daher auch mit
den gravierendsten gesundheitlichen Konsequenzen zu rechnen ist. Wie bei den Liquidatoren muss man zum einen die
strahleninduzierten Krebserkrankungen betrachten, dabei insbesondere den Schilddrüsenkrebs, zum anderen aber auch die
strahleninduzierten Nichtkrebserkrankungen berücksichtigen.
Dies soll im Folgenden anhand ausgewählter Studienergebnisse
geschehen.
6. 1. Anstieg von Krebserkrankungen
6. 1. 1. Schilddrüsenkrebs in der Tschernobylregion
Vor Tschernobyl war Schilddrüsenkrebs in Weißrussland, Russland und der Ukraine eine seltene Krankheit. Unerwartet
schnell, nur vier Jahre nach dem Super-GAU, nahm die Erkrankungsrate in den kontaminierten Regionen massiv zu. Als erstes
zeigte sich schon 3 bis 4 Jahre nach dem Super-GAU ein rasanter Anstieg von Schilddrüsenkrebs bei Kindern. Den ÄrztInnen fiel zudem ein besonders aggressives Wachstum des
Schilddrüsenkrebses und die rasche Ausbildung von Metastasen in anderen Organen, vor allem in der Lunge, auf. Die diagnostizierten Fälle wurden histologisch fast ausschließlich als
papilläre Schilddrüsenkarzinome identifiziert.
Daten der Krebsregister Weißrusslands, Russlands und der Ukraine zeigen, dass die höchsten Erkrankungsraten bei Personen
vorlagen, die zum Zeitpunkt der Reaktorkatastrophe Kleinkinder
30
waren.1 Die starke Betroffenheit von Kindern wird als deutliches
Zeichen für die besondere Empfindlichkeit der Schilddrüse des
Säuglings und Kleinkindes gegenüber der krebserregenden
Strahlenwirkung von radioaktivem Jod gewertet. Bereits Ende
1990 war die Zahl der jährlichen Neuerkrankungen bei Kindern
zwischen 0 und 18 Jahren in Weißrussland gegenüber dem
Bevölkerungsdurchschnitt vor 1986 um das 5-fache erhöht.
Statt 7 Fällen pro 100.000 (jährliche Inzidenz von Schilddrüsenkrebs in Gomel 1973-1985) fand man 1986-1998 407 Fälle pro
100.000. Im Jahr 1995 wurde in Weißrussland der Höchststand an Neuerkrankungen von Schilddrüsenkrebs bei Kindern
(0-14 Jahre) erreicht. Dafür verlagerten sich die zunehmenden
Krebsfälle in die Gruppe der Adoleszenten und Erwachsenen.2
Lengfelder et al. wiesen darauf hin, dass mit zunehmender zeitlicher Distanz zum Unfallzeitpunkt immer mehr der 1986 mit
radioaktivem Jod kontaminierten Kinder zu Jugendlichen und
schließlich zu Erwachsenen wurden. Sie nahmen ihr Lebenszeitrisiko für die Entwicklung von Schilddrüsenkrebs in die höheren Altersgruppen mit. So seien laut Angaben des Otto-Hug
Strahleninstituts, das in der Region über viele Jahre umfangreiche Untersuchungen betrieben hat, bis zum Jahr 2000 über
3.000 Erwachsene in Weißrussland an strahleninduziertem
Schilddrüsenkrebs erkrankt. 1980 lag die standardisierte jährliche Neuerkrankumgsrate (Inzidenz) für Schilddrüsenkrebs bei
Erwachsenen über 30 Jahren in Weißrussland bei 1,24 pro
100.000 Einwohner. 1990 lag die Rate bereits bei 1,96 und im
Jahr 2000 bei 5,67. Dies entspricht einem Anstieg um mehr als
das 4-fache.3
1 Fuzik, M.M.; Prysyazhnyuk, A.Ye.; Gristchenko, V.G.; Zakordonets,
V.A.; Slipenyuk, Ye.M.; Fedorenko, Z.P.; Gulak, L.O.; Okeanov, A.Ye. Thyroid cancer, Peculiarities of process in a cohort being in International
Journal of Radiation Medicine 2004, 6(1-4): 24-29.
2 Frenzel, C., Lengfelder, E. (2011) 25 Jahre nach der Tschernobylkatastrophe http://www.umg-verlag.de/umwelt-medizin-gesellschaft/111_fl.pdf
3 Okeanov, A. E.; Sosnovskaya, E. Y.; Priatkina, O. P., A national cancer
registry to assess trends after Chernobyl accident, Swiss Wkly 2004, 134:
645-649.
FOLGEN VON TSCHERNOBYL UND FUKUSHIMA
In der Altersgruppe zwischen 50 und 64 Jahren war die Schilddrüsenkrebsrate nach dem Super-GAU (1986-1998) gegenüber
der Zeit davor (1973-1985) um das 5-fache erhöht, bei Personen über 64 Jahren um das 2,6-fache,4,5 obwohl in den umfangreichen Datensammlungen der Tschernobyl-Forschungszentren der drei ehemaligen Sowjetrepubliken (Bryansk für
Russland, Gomel und Minsk für Weißrussland und Kiew für die
Ukraine) zahlreiche weitere Daten zum Anstieg von Schilddrüsenkrebsfällen bei Erwachsenen vorliegen, wurden diese in den
westlichen Forschungsgruppen wenig beachtet. So konzentriert
sich der Großteil der international öffentlich zugänglichen wissenschaftlichen Literatur auf den Anstieg der Schilddrüsenkrebsfälle bei Kindern. Mahoney et al. zeigen allerdings auf,
dass es in Weißrussland über alle Altersstufen zu einem Anstieg
der Schilddrüsenkrebhäufigkeit kam, nicht nur bei den Kindern.6
4 Lengfelder, E.; Frenzel, Ch. (2002) 16 Jahre nach Tschernobyl. Weiterhin dramatisches Ansteigen der Schilddrüsenkarzinome in Belarus. Der
Heilungserfolg ist bei zahllosen Patienten weiter von intensiver westlicher
Hilfe abhängig. Otto Hug Strahleninstitut MHM.
5 Lengfelder, E.; Rabes, H.; Scherb, H.; Frenzel, Ch. (2003) Factors
influencing the assessment of chernobyl health consequences and the
contribution of international non-governmental organisations to research
and treatment of thyroid pathologies in Belarus. 4th International Conference, June 2-6, 2003, Kiev, Ukraine, Chernobyl Children – Health effects
and psychosocial rehabilitation, Proceedings, International Journal of Radiation Medicine, Addendum.
6 Mahoney, M.C. et al. (2004) Thyroid cancer incidence in Belarus:
examining the Impact of Chernobyl IntJ Epid33, 1025-1033
Abbildung 6-1:
Abschätzung der Jodkontamination am 10. Mai 1986 in Weißrussland
(nach Olga Zubetsk, Präsentation auf dem Kongress in Arnoldhain
2014, http://www.tschernobylkongress.de/fileadmin/user_upload/
Arnoldshain_Doku/Zubec-Olga.pdf)
Die Effekte der radioaktiven Kontamination erstreckten sich
über die gesamte Sowjetrepublik Weißrussland, so dass es landesweit zu erhöhten Krebsraten kam. Den ausgeprägtesten
Anstieg fand man in der hoch belasteten Zone von Gomel.7 Die
Karte zeigt das Ausmaß der Kontamination des Landes mit radioaktivem Jod (siehe Abbildung 6-1).
Auch außerhalb der stark kontaminierten Regionen in Weiß­russ­
land wurden nach dem Super-GAU von Tschernobyl erhöhte
Schilddüsenkrebsraten registriert – vor allem in Russland und
der Ukraine. Fuzik et al. betrachteten die Schilddrüsenkrebsinzidenzen im Zeitraum von 1989-2008 in den radioaktiv belasteten Gebieten der Ukraine. Sie fanden sowohl für erwachsene
Männer als auch Frauen statistisch signifikante Erhöhungen
(Frauen 3,3-facher Anstieg der Schilddrüsenkrebsinzidenz in
7 Mahoney, M.C. et al. (2004) Thyroid cancer incidence in Belarus:
examining the Impact of Chernobyl IntJ Epid33, 1025-1033
31
IPPNW REPORT
Abbildung 6-2:
(1986-1998) gegenüber der Zeit vor Tschernobyl (1973-1985) 5-fach
erhöht. Bei Personen über 64 Jahre war die Erkrankungsrate noch
immer 2,6-fach erhöht.
den hochbelasteten Gebieten, 2,3-facher Anstieg in den niedrig
belasteten Gebieten; Männer: 2,6-facher Anstieg in den hochbelasteten Gebieten, 1,4-facher Anstieg in den niedrig belasteten Gebieten).8 Auch in Russland stellte man nach dem Super-GAU von Tschernobyl einen Anstieg von Schilddrüsenkrebs
fest. In den besonders kontaminierten Regionen Bryansk, Kaluga, Oryol und Tula fand die Forschungsgruppe um Ivanov
zwischen 1991 und 2008 in einer Studiengruppe von 309.130
Personen 978 Schilddrüsenkrebsfälle.9,10
Bezüglich der Gesamtzahl von Schilddrüsenkrebsfällen, die
kausal mit der Atomkatastrophe von Tschernobyl in Verbindung
gebracht werden können, gibt es im wissenschaftlichen Diskurs
weiterhin Dissens.
UNSCEAR-Forscher und andere aus internationalen Krebsforschungszentren glauben, dass nur der Schilddrüsenkrebs bei
Kindern und Jugendlichen strahlenbedingt sei, andere Forscher
(Demidchik, Prysyazhnuk, Mahoney, Scherb, Lengfelder) leiten
aus ihren gefundenen Daten auch einen Anstieg des Schilddrüsenkrebses bei Erwachsenen ab. So gab UNSCEAR 2008
8 Fuzik, M.; PrysIyazhnuk, A. et al. (2011) Thyroid cancer incidence in
Ukraine: Trends with reference to the Chernobyl accident ; in: Radiat Environ Biophys, 50:47–55
9 Ivanov, V.K. et al. (2012): Radiation epidemiological studies of thyroid
cancer incidence after the Chernobyl incidence; in: Radiat Prot Dosimetry;
151(3): 489-99
10 Ivanov, V.K.; Kenigsberg, Ya.; Tronko, N.D. et al. (2006) Communication to UNSCEAR Secretariat
32
6.848 behandelte Schilddrüsenkrebs-Erkrankungen bei Patienten aus Russland, Weißrussland und der Ukraine an (nur
Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre).11 Demidchik hingegen
dokumentierte 12.236 Schilddrüsenkrebsfälle aus den Jahren
1986–2004 für Weißrussland allein (Kinder, Jugendliche und
Erwachsene).12 In seiner neuesten Publikation beziffert Demidchik die Zahl der strahlenbedingten kindlichen Schilddrüsenkrebsfälle in Weißrussland mit 1.04413. Im Nationalen ukrainischen Bericht werden 3.385 Schilddrüsenkrebsfälle bei
Kindern und Jugendlichen zwischen 1986–2004 genannt,
davon 572 durch Tschernobyl bedingt.14
Die Gesamtzahl der bisherigen und noch zu erwartenden
Schilddrüsenkrebsfälle bis 2065 wird von Cardis15 auf 15.700
und von Malko auf 85.77816 geschätzt.
11 UNSCEAR (2008) Sources and Effects of Ionizing Radiation,
http://www.unscear.org/docs/reports/2008/11-80076_Report_2008_
Annex_D.pdf
12 Yablokov, A. (2009), S. 167
13 Demidchik, Yu.E. et al. (2015), Major factors Affecting Incidence of
Childhood thyroid Cancer in Belarus after the Chernobyl Accident: Does
Nitrate in Drinking Water Play a role? PLoS ONE 10(9): e0137226.
14 Yablokov, A. (2009) s. 169
15 Cardis, E.; Krewski, D.; Boniol, M. et al. (2006) Estimates of the
cancer burden in Europe from radioactive fallout from the Chernobyl accident. Int J Cancer; 119: 1224-35.
16 Malko, M.V. (2009) Assessment of Chernobyl Malignant Neoplasms
in European Countries. http:// www.greenpeace.org/romania/Global/romania/binari-es/2009/8/raportul-malko.pdf
FOLGEN VON TSCHERNOBYL UND FUKUSHIMA
Im Juli 1998 fand in Cambridge ein internationales Symposion
zum Thema Strahlung und Schilddrüse statt, veranstaltet durch
die Europäische Kommission, das Energieministerium der USA
und das Nationale Krebsinstitut des US-Gesundheitsministeriums. Vertreter der Weltgesundheitsorganisation (WHO) entwickelten auf diesem Symposion aus dem zeitlichen Verlauf der
bisher aufgetretenen Fälle von Schilddrüsenkarzinomen bei
Kindern eine Prognose: Von allen Kindern aus der Region Gomel, die zum Zeitpunkt der Reaktorkatastrophe zwischen 0 und
4 Jahre alt waren, würde ein Drittel im Laufe des Lebens an
Schilddrüsenkrebs erkranken.17
Das bedeutet, dass allein in der weißrussischen Region Gomel
WHO-Prognosen zufolge mehr als 50.000 Menschen Schilddrüsenkrebs bekommen würden – allein aus der Kohorte der
damals 0-4 jährigen. Hinzurechnen müsste man noch alle übrigen Altersgruppen, also auch die Bewohner der schwer verstrahlten Region Gomel, die zum Zeitpunkt des Super-GAUs
Jugendliche und Erwachsenen waren. Auch sie haben ein erhöhtes Risiko, aufgrund der Radioaktivität an Schilddrüsenkrebs zu erkranken. Das Otto-Hug-Strahleninstitut rechnet allein für Gomel mit weit über 100.000 Schilddrüsenkrebserkrankungen als Folge der Atomkatastrophe von Tschernobyl.18
2006, 20 Jahre nach Beginn der Atomkatastrophe, registrierte
das Institut bereits 10.000 Fälle.19,20
Eine belastbare Abschätzung der Gesamtzahl aller Schilddrüsenkrebsfälle in der ehemaligen Sowjetunion, die kausal mit
dem Super-GAU von Tschernobyl in Verbindung gebracht werden können, gibt es bis zum heutigen Tag nicht und wird es
vermutlich auch nicht geben. Es ist davon auszugehen, dass
insgesamt mehrere hunderttausend Menschen durch radioaktiven Niederschlag des Super-GAUs von Tschernobyl an Schilddrüsenkrebs (Kinder, Jugendliche, Erwachsene) in der Tschernobyl-Region und in Europa erkranken werden
17 Cardis, E. et.al.: Observed and predicted thyroid cancer following the
Chernobyl accident: Evidence for factors influencing susceptibility to radiation induced thyroid cancer. In: G. Thomas et al.: Radiation and Thyroid
Cancer. EUR 18552 EN, World Scientific, Singapore 1999, S.395-405.
18 Lengfelder, E.; Frenzel, Ch. (2006) 20 Jahre nach Tschernobyl. Erfahrungen und Lehren aus der Reaktorkatastrophe. Otto Hug Strahleninstitut MHM. Informationen, Februar.
19 Lengfelder, E.; Frenzel, Ch. (2002) 16 Jahre nach Tschernobyl. Weiterhin dramatisches Ansteigen der Schilddrüsenkarzinome in Belarus. Der
Heilungserfolg ist bei zahllosen Patienten weiter von intensiver westlicher
Hilfe abhängig. Otto Hug Strahleninstitut MHM. Sept.
20 Lengfelder, E.; Rabes, H.; Scherb, H.; Frenzel, Ch. (2003) Factors
influencing the assessment of chernobyl health consequences and the
contribution of international non-governmental organisations to research
and treatment of thyroid pathologies in Belarus. 4th International Conference, June 2-6, Kiev, Ukraine, Chernobyl Children – Health effects and
psychosocial rehabilitation, Proceedings, International Journal of Radiation
Medicine 2003, Addendum.
6. 1. 2. Andere Krebserkrankungen
Tschernobylregion
In Weißrussland wird seit 1973 ein landesweites Krebsregister
geführt, in dem Informationen über alle bösartigen Tumoren
registriert werden. Okeanov et al. verglichen in einer Untersuchung die Krebsfälle in den Jahren 1976 bis 1985 mit denen in
den Jahren 1990 bis 2000.21 Die Untersuchung ergab einen
signifikanten Anstieg der Krebsrate um 39,8 Prozent. Vor
Tschernobyl lag die jährliche Erkrankungsrate bei 155,9, nach
Tschernobyl bei 217,9 pro 100.000 Einwohner. Der Anstieg der
Krebsrate betraf vorrangig Darm-, Lungen-, Blasen- und Schilddrüsenkrebs.
Der Anstieg der Krebsrate war in allen Regionen Weißrusslands
signifikant. In der am meisten strahlenbelasteten Region Gomel
war die Zunahme der Krebsrate mit 55,9 Prozent deutlich höher
als in den weniger belasteten Regionen. Bei der Bevölkerung
Gomels, die in Gebieten mit einer Cäsium 137-Belastung über
555.000 Becquerel pro Quadratmeter lebt, war die Zunahme
der Krebsrate besonders hoch. Es gibt zahlreiche Studien, die
sich mit den einzelnen Krebslokalisationen befassen. Die relevantesten Forschungsergebnisse sollen im Folgenden näher
betrachtet werden. Ein Großteil der Studien beschränkte sich
auf einzelne Untersuchungsregionen in der Ukraine oder in
Weißrussland. Man sollte daher bedenken, dass ähnliche Entwicklungen auch in anderen verstrahlten Gebieten zu erwarten
sind und sich nicht auf die jeweils untersuchten Gebiete beschränken dürften. Es gilt auch hier die Erkenntnis aus über
100 Jahren Strahlenforschung, dass jede noch so geringe
Strahlendosis das Krebsrisiko und somit die Erkrankungsfälle in
einer Population statistisch messbar erhöht und dass ein linearer Zusammenhang zwischen der Dosis und den Erkrankungszahlen besteht, ohne eine Schwelle, unterhalb derer die Strahlung ungefährlich wäre. Das bedeutet, dass man gesundheitliche
Effekte der Strahlung zwar in stark kontaminierten Gebieten
besonders ausgeprägt findet, diese in geringerem Ausmaß jedoch auch in geringer verstrahlten Regionen auftreten, wo sie
meist im „statistischen Grundrauschen“ untergehen.
Tumoren der Verdauungs- und
Atmungsorgane
In den Jahren 1993 bis 2002 zeigte sich eine signifikant erhöhte Erkrankungsrate an Tumoren der Verdauungs- und Atmungsorgane gegenüber den Gebieten mit der geringsten
radio­aktiven Belastung (Krebs-Erkrankungsrate in Verdauungsorganen: 141,5 pro 100.000 in den am höchsten belasteten
Gebieten gegenüber 104,7 pro 100.000 in den am wenigsten
belasteten Gebieten. Krebs-Erkrankungsrate in Atmungsor-
21 Okeanov, A. E.; Sosnovskaya, E. Y.; Priatkina, O. P. (2004) A national
cancer registry to assess trends after Chernobyl accident, Swiss Medical
Weekly, 134: 645-649.
33
IPPNW REPORT
ganen: 83,7 gegenüber 53,1 pro 100.000). 22 Eine Untersuchung im ukrainischen Bezirk Lugyny fand zudem, dass sich
die Lebenserwartung nach der Diagnose von Magen- und Lungenkrebs nach Tschernobyl deutlich verkürzt hatte. Hatte man
1985 noch eine Lebenserwartung von 57 bzw. 42 Monaten
nach der Erstdiagnose von Magen- bzw. Lungenkrebs, waren
es 10 Jahre nach dem Super-GAU von Tschernobyl nur noch
2,3 bzw. 2 Monate.23 Dieser Effekt wird u.a. auf Störungen der
zellulären Reparaturmechanismen zurückgeführt.
Jahr
Verbleibende Lebenszeit (in Monaten)
nach der Diagnose von
Magenkrebs
Lungenkrebs
1984
62
38
1985
57
42
–
–
–
1992
15,5
8,0
1993
11,0
5,6
1994
7,5
7,6
1995
7,2
5,2
1996
2,3
2,0
Hirntumoren
Orlov et al. untersuchten die Daten von Tumoren des Zentralen
Nervensystems bei Kindern unter 15 Jahren über einen Zeitraum von 25 Jahren in der Ukraine ohne die Bezirke Dnepropetrovsk, Donetsk, Zaporozzhye und Charkov. In den 10 Jahren
vor Tschernobyl (1976-1985) wurden bei 756, in den 10 Jahren
nach Tschernobyl (1986-1995) bei 1.315 Kindern Hirntumore
diagnostiziert, also 76,9% mehr als im Zeitraum davor – obwohl
die Anzahl der Kinder in der Bevölkerung in dieser Zeit um
mehr als drei Millionen abnahm.25
Tabelle 6-1:
Verbleibende Lebenszeit nach der Diagnose bösartiger
Magen- und Lungentumore vor und nach dem Tschernobyl-Unfall
(Bezirk Lugyny, Gebiet Schitomir, Ukraine)
Brustkrebs
Auffälligkeiten zeigten sich auch hinsichtlich der Erkrankungsrate von Brustkrebs bei Frauen. In den Regionen mit besonders
hoher Cäsium-Belastung (Gomel und Mogilev in Weißrussland)
wurde Brustkrebs typischerweise bereits im Alter zwischen 45
und 49 Jahren festgestellt und damit 15 Jahre früher als bei
den Frauen in der am wenigsten von Tschernobyl betroffenen
weißrussischen Region Vitebsk. Die Verschiebung des Erkrankungszeitpunktes hin zu jüngeren Altersgruppen ist besonders
in der stärker betroffenen ländlichen Bevölkerung in den kontaminierten Regionen zu sehen.
22 Okeanov, A. E.; Sosnovskaya, E. Y.; Priatkina, O. P. (2004) A national
cancer registry to assess trends after Chernobyl accident, Swiss Medical
Weekly, 134: 645-649
23 Godlevsky, I.; Nasvit, O., Dynamics of Health Status of Residents in
the Lugyny District after the Accident at the ChNPP; in: T. Imanaka (ed.):
Research Activities about the Radiological Consequences of the Chernobyl
NPS Accident and Social Activities to Assist the Sufferers by the Accident,
KURRI-KR-21, S.149-159.
34
Pukkala et al. fanden 2006 ebenfalls einen signifikanten Anstieg der Brustkrebsinzidenz in den Gebieten Gomel und Mogilev (Weißrussland) sowie Chernigov, Kiew und Schitomir (Ukrai­
ne). Darüber hinaus wurde im Zeitraum 1997–2001 ein etwa
zweifach erhöhtes Risiko in den am meisten kontaminierten
Gebieten gegenüber den am geringsten kontaminierten Gebieten im Untersuchungsgebiet festgestellt. Betroffen von steigenden Brustkrebsraten waren insbesondere Frauen vor der
Menopause. Die AutorInnen sehen es als unwahrscheinlich an,
dass die Anstiege auf erhöhte diagnostische Aktivitäten in diesen Gebieten zurückzuführen sind.24
Noch beunruhigender stellte sich die Situation bei Kleinkindern
dar. Orlov und Shaversky berichteten über eine Serie von 188
Hirntumoren bei Kindern unter drei Jahren. Neun Fälle stammen aus den Jahren 1981-1985, 179 aus dem Zeitraum 19862002. Die Zahl der Patienten stieg, verglichen mit dem 5-Jahreszeitraum vor dem Super-GAU (9 Fälle 1981-1985) um den
Faktor 5 an (46 Fälle 1986–1990). In den darauf folgenden
Jahren erhöhte sich die Zahl der Neuerkrankungen weiter auf
mehr als das 7-fache (69 Fälle 1991–1995) und auf mehr als
das 5-fache der Ausgangsinzidenz (48 Fälle 1996–2000).
Noch stärker stiegen die Zahlen für Tumoren des Zentralen
Nervensystems bei Kindern, die gestillt wurden. Während es
1981–1985 noch keinen einzigen Fall in dieser Altersgruppe
gab, waren es 1986–1990 4, 1991–1995 16 und 1996–2000
11 Fälle.26
Insgesamt zeigte sich eine Erhöhung der Neuerkrankungsrate
bei Patienten unter drei Jahren um mehr als den Faktor 5, für
Kinder unter einem Jahr sogar um den Faktor 10. Berücksichtigt man die gleichzeitig sinkende Geburtenrate, so ist der An-
24 Pukkala, E.; Poliakov, S.; Ryzhov, A.; Kesminiene, A.; Drozdevich, V.;
Kovgan, L.; Kyyronen, P. K.; Malakhova, I.V.; Gulak, L.; Cardis, E. (2006)
Brest cancer in Belarus and Ukraine after the Chernobyl accident. International Journal of Cancer, February 27th.
25 Orlov, Y.A. et al. (2002) Tumors of the central nervous system in
children (morbidity rates in Ukraine for 25 Years); Int. J. Rad. Med., 4(14):233-240.
26 Orlov, Y.A.; Shaversky, A.V. (2004): Indices of neurooncologic morbidity dynamics among younger children in Ukraine; Int. J. Rad. Med.
6(1-4): 72-77.
FOLGEN VON TSCHERNOBYL UND FUKUSHIMA
stieg der Patientenzahlen noch auffälliger. Zudem stieg nicht
nur die Häufigkeit bösartiger, sondern auch gutartiger Tumoren.27 Gutartige Tumoren bilden zwar keine Metastasen und
dringen nicht in andere Gewebe ein, können aber dennoch
durch die Verdrängung von gesundem Gehirngewebe eine
schwere lebensbedrohliche Erkrankung darstellen.
Kinderleukämien
Von dem radioaktiven Niederschlag der Tschernobyl-Katastrophe waren allein in der Ukraine mehr als 4 Millionen Menschen
betroffen. Um die Auswirkungen dieser Bestrahlung in utero
und den Zusammenhang mit kindlichen Leukämien zu untersuchen, analysierten Noshchenko et al. das Vorkommen verschiedener Leukämietypen bei Kindern, die 1986 geboren wurden. Die Entwicklung der Kinder wurde über 10 Jahre verfolgt.
Verglichen wurden die kumulativen Erkrankungsraten von Kindern aus belasteten und unbelasteten Bezirken der Ukraine.
Bei allen Leukämiearten war das relative Risiko in belasteten
Bezirken signifikant erhöht. Die Risikorate für die Akute Lymphatische Leukämie (ALL) war für Jungen dramatisch erhöht,
für Mädchen in nicht ganz so starker Ausprägung. Für beide
Geschlechter kombiniert war das relative Risiko für die Akute
Lymphatische Leukämie in belasteten Bezirken mehr als dreifach höher als in unbelasteten (relatives Risiko RR = 3,4). Ein
kausaler Zusammenhang zum radioaktiven Niederschlag ist
somit sehr wahrscheinlich.28
Nur ein Jahr später veröffentlichen Noshchenko et al. die Ergebnisse einer Fall-Kontroll-Studie, in der das Risiko einer akuten
Leukämie für Menschen untersucht wurde, die zum Zeitpunkt
der Katastrophe unter 20 Jahre alt waren. Die Forscher fanden
ein statistisch signifikant erhöhtes Leukämierisiko bei Männern,
deren geschätzte Strahlenexposition größer als 10 mSv war. Der
Zusammenhang mit der Strahlenbelastung war signfikant für
akute Leukämien im Zeitraum 1993-1997, insbesondere für die
Akute Lymphatische Leukämie. Ein entsprechender Zusammenhang konnte jedoch auch für die Akute Myeloische Leukämie (AML) im Zeitraum von 1987 bis 1992 gefunden werden.29
In seiner neuesten Studie bezüglich des Leukämierisikos von
2010 fand Noshenko, dass das Leukämierisiko für diejenigen
27 Orlov, Y.A. et al. (2002): Tumors of the central nervous system in
children (morbidity rates in Ukraine for 25 years. Intern. J. Rad. Med., 4(14):233-240.
28 Noshchenko, A.G.; Moysich, K.B.; Bondar, A.; Zamostyan, P. V.;
Drosdova, V.D.; Michalek A.M. (2001) Patterns of acute leukaemia occurence among children in the Chernobyl region, Int. J. Epidemiol.;30:125-129. Strahlentelex, 408-409/2004, S. 2f., Epidemiologie:
Vermehrt akute Leukämien bei Kindern um Tschernobyl.
29 Noshchenko, A.G.; Zamostyan, P.V.; Bondar, O.Y.; Drosdova, V.D.
(2002) Radiation-induced Leukemia risk among those aged 0-20 at the
time of the Chernobyl accident: a case-control study; Int. J.Cancer 99,609618.
Kinder in den belasteten Zonen der Ukraine erhöht war, die eine
Dosis von mehr als 10 mSv erhalten hatten.30
Die Frage, ob es auch in Weißrussland zu einem Anstieg der
Kinderleukämien gekommen war, ist weiterhin umstritten.
Offiziellen Angaben zufolge sei es zu keiner Zunahme der Erkrankungsraten gekommen. Körblein zeigte jedoch in einer
Trend­analyse weißrussischer Originaldaten von Leukä­mie­er­
krankungen bei Kindern unter 14 Jahren für 1987, dem Jahr
nach der Tschernobylkatastrophe eine statistisch signifikante
33 % Erhöhung der Leukämieinzidenz bei Kindern. Bei Kindern, die zum Zeitpunkt der Reaktorkatastrophe unter einem
Jahr alt waren, fiel die Erhöhung im Jahr 1987 mit 152 % noch
größer aus.31
6. 1. 3. Krebserkrankungen in anderen
europäischen Ländern
Wie bereits eingangs erläutert, erstrecken sich die gesundheitlichen Auswirkungen der Atomkatastrophe von Tschernobyl
nicht ausschließlich auf die Staaten der ehemaligen Sowjetunion, sondern in geringerem Maße auf den Rest Europas. Überall
dort, wo radioaktiver Niederschlag statt fand, wurden Menschen erhöhten Strahlenwerten ausgesetzt – und werden dies
zum Teil immer noch, wenn man beispielsweise die lange physikalische Halbwertszeit von Cäsium-137 bedenkt. Im Folgenden soll kurz auf die relevantesten Studien eingegangen
werden, die schlaglichtartig die gesundheitlichen Auswirkungen
des Super-GAUs für den Rest Europas demonstrieren. Gesamteuropäische Untersuchungen zu dieser Fragestellung existieren
nicht, so dass zur Abschätzung der Gesamtzahl aller durch die
Atomkatastrophe bedingten Krebserkrankungen auf die Berechnungen in K apitel 4 ver wiesen werden muss.
Schilddrüsenkrebs
Radespiel-Tröger et al. haben für den Untersuchungszeitraum
von 2003 bis 2008 auch in Deutschland eine Zunahme der
Inzidenz des papillären Schilddrüsenkarzinoms entdeckt. Als
mögliche Ursachen wurden eine Zunahme der diagnostischen
Aktivität, die oberirdischen Atomwaffentests und die Tschernobyl-Katastrophe diskutiert. Die AutorInnen empfehlen weitergehende epidemiologische Studien zur Ursachenforschung und
Untersuchung regionaler Unterschiede in Deutschland.32
30 Noshchenko, A.G., Bondar, O.Y.; Drozdova, V.D. (2002) Radiation
induced Leukaemia among children aged 0-5 years at the time of the
Chernobyl accident; Int J Cancer Jul 15;127(2):412-26.
31 Körblein, A. (2013) Leukämie bei Kindern in Weißrussland, Strahlentelex, 626-627:1-4. http://www.strahlentelex.de/Stx_13_626-627_S01-04.
pdf
32 Radespiel-Tröger, M. et al. (2014) Inzidenzzunahme des papillären
Schildrüsenkarzinoms in Deutschland, Bundesgesundheitsblatt, 57(1): 8292. http://www.springermedizin.de/inzidenzzunahme-des-papillaerenschilddruesenkarzinoms-in-deutschland/4894698.html
35
IPPNW REPORT
Tschechien ist in vergleichbarer Weise vom Tschernobyl-Fallout
betroffen wie Ostdeutschland und Bayern. Im Gegensatz zu
Deutschland gibt es in Tschechien jedoch ein zentrales Krebsregister für Erwachsene, welches epidemiologische Studien, die
erhöhte Erkrankungsraten zeigen, überhaupt erst möglich
macht. Mürbeth und Scherb et al. konnten anhand der Daten
aus dem tschechischen Krebsregister nachweisen, dass die
Erkrankungsraten an Schilddrüsenkrebs nach dem Super-GAU
von Tschernobyl in Tschechien anstiegen. Sie schätzen, dass in
dem Land mehr als 400 zusätzliche Schilddrüsenkrebsfälle der
Tschernobyl-Kontamination zuzurechnen waren (95%-CI: 187
– 688). Der Anstieg der Inzidenz von Schilddrüsenkrebs zeigt
sich sowohl bei Männern als auch bei Frauen. Ab 1990 stieg
die Zahl der Schilddrüsenkrebserkrankungen bei beiden Geschlechtern von 2,0 Prozent pro Jahr auf 4,6 Prozent pro Jahr
(95%-CI: 1.2-4.1, p=0.0003). Für Frauen lagen die Erkrankungsraten deutlich höher als für Männer. Für sie begann der
Anstieg des Erkrankungsrisikos bereits 1989 (p=0,0005). Die
kürzeste Latenzzeit von der Reaktorkatastrophe bis zum Ausbruch der Erkrankungen betrug bei den Fällen in Tschechien
vier Jahre. Diese Latenzzeit ist vergleichbar mit der in der
Tschernobylregion.33 Die Daten aus Tschechien sind besonders
aussagefähig, da eine sehr große Population über einen langen
Zeitraum untersucht wurde – so liegen der Studie insgesamt
247 Millionen Personenjahre zugrunde. Weitere Studien, die
eine Zunahme der Schilddrüsenkrebsfälle bei Jugendlichen und
Erwachsenen zeigen, wurden unter anderem in Polen und
Nordengland durchgeführt.34 35
Neuroblastom
Eine 1993 erschienene Studie des Mainzer Kinderkrebsregisters belegt für den Geburtsjahrgang 1988 in den höher radioaktiv belasteten Gebieten Deutschlands eine statistisch signifikante Häufung von Neuroblastomen. Die Neuroblastom­häufigkeit
nahm dabei zwei Jahre nach dem Super-GAU proportional zum
Grad der Bodenkontamination mit Cäsium zu. Diese Dosiswirkungsbeziehung lässt auf einen kausalen Zusammenhang zur
Atomkatastrophe schließen. Den WissenschaftlerInnen nach
handelt es sich bei der gefundenen Neuroblastomhäufung um
„eine der auffälligsten Schwankungen seit Bestehen des Kin-
33 Mürbeth, S. et al. (2004): Thyroid cancer has increased in the
adult populations of countries moderately affected by Chernobyl fallout.
Med Sci Monit. 2004 Jul;10(7):CR300-6.
34 Szybinski, Z.; Olko, P.; Przybylik-Mazurek, E.; Burzynski, M. (2001)
Ionizing radiation as a risk factor for thyroid cancer in Krakow and Nowy
Sacz regions. Wiad Lek, 54(Suppl. 1): 151-156 (Polish).
35 Cotterill, S.J.; Pearce, M.S.; Parker, L. (2001) Thyroid cancer in
children and young adults in the North of England. Is increasing
incidence related to the Chernobyl accident? Eur J Cancer, 37(8):
1020-1026.
36
derkrebsregisters“. Als Ursache wurde eine eventuelle Schädigung der elterlichen Keimzellen vor der Zeugung diskutiert. 36,37
Leukämien
Michaelis et al. untersuchten die Leukämien-Inzidenz bei Säuglingen, die zwischen dem 1. Juli 1986 und dem 31. Dezember
1987 in Westdeutschland geboren wurden. Von knapp 930.000
Kindern erkrankten 35 Kinder im ersten Lebensjahr an einer
Leukämie, was dem 1,5-fachen der Erkrankungsrate in denvorangegangenen Jahren entsprach.38
Petridou et al. analysierten sämtliche Fälle von Kinderleukämie
in Griechenland seit Tschernobyl und fanden, dass auch hier
Kinder, die kurz nach der Reaktorkatastrophe geboren wurden
(zwischen dem 1. Juli 1986 und dem 31. Dezember 1987),
etwa 2,6 Mal so oft an Leukämie erkrankten wie Kinder, die vor
oder längere Zeit nach der Katastrophe geboren wurden (zwischen dem 1. Januar 1980 bis 31. Dezember 1985 und zwischen dem 1. Januar 1988 und dem 31. Dezember 1990). Die
AutorInnen vermuteten, dass diese Zunahme von Erkrankungen
auf die vorgeburtliche Strahlenbelastung im Mutterleib nach
dem Tschernobyl-Unfall zurückzuführen ist.39
Im Jahr 1987 nahmen auch in Schottland die Leukämie-Erkrankungen bei Kleinkindern unter vier Jahren um 37% zu. Insgesamt zählte die Untersuchung 48 Fälle von Kinderleukämie für
1987. Das waren 13 Fälle mehr als zu erwarten waren. Darunter
wurden allein 33 Fälle bei Kindern unter vier Jahren diagnostiziert.40
Auch aus Rumänien gibt es Berichte über Leukämie bei Kindern nach der Tschernobylkatastrophe. Davidescu et al. führten
zwischen 1986 und 2000 in 5 Bezirken Ostrumäniens eine
Fall-Kontroll-Studie durch. Die exponierte Gruppe, die durch die
Atomkatastrophe kontaminierter Nahrung ausgesetzt war, umfasste 137.072 Kinder (37 Leukämiefälle), die nichtexponierte
Gruppe 774.789 Kindern (204 Leukämiefälle). Die Leukämiein-
36 Michaelis, J. et al. (1993), Fall-Kontrollstudie zum Anstieg der
Neuroblastom-Inzidenz für im Jahr 1988 geborene Kinder; Medizinische
Informatik, Biometrie und Epidemiologie 76. Strahlentelex, 166167/1993, S. 4, Dr. Hayo Dieckmann, Tschernobylfolgen auch in
Deutschland messbar.
37 Henze, G. 30.10.91, FU Berlin. Zit. in Strahlentelex, 122-123/1992,
S. 8, Vermehrt Neuroblastome bei Säuglingen in Süddeutschland.
38 Michaelis, J.; Kaletsch, U.; Burkart, W.; Grosche, B. (1997) Infant
leukaemia after the Chernobyl accident, Nature, Vol. 387, 15 May 1997,
S. 246. J. Michaelis, Mainz, Pressemitteilung vom 11.06.1997. Strahlentelex, 252-253, S. 1 f., Kinderleukämien, Nach dem Tschernobyl-Unfall
erkrankten mehr Säuglinge in Deutschland an Blutkrebs.
39 Nature, 24.7.1996, zit. in Strahlentelex, 230-231/1996, S. 12,
Leukämie in Griechenland. Strahlentelex, 252-253, S. 1 f., Kinderleukämien, Nach dem Tschernobyl-Unfall erkrankten mehr Säuglinge in
Deutschland an Blutkrebs.
40 The Lancet Sept. 1988; Strahlentelex, 42/1988, Mehr Leukämien
in Schottland.
FOLGEN VON TSCHERNOBYL UND FUKUSHIMA
Registr. Erkrankungen auf 100.000 Einwohner
Erwachsene und Jugendliche
Erkrankungen/Organe
1987
1988
1989
1990
1991
1992
III Endokrines System
631
825
886
1.008
4.550
16.304
V Psychische Störungen
249
438
576
1.157
5.769
13.145
VI Nervensystem
2.641
2.423
3.559
5.634
15.518
15.101
VII Kreislaufsystem
2.236
3.417
4.986
5.684
29.503
98.363
IX Verdauungsorgane
1.041
1.589
2.249
3.399
14.486
62.920
XII Haut u. Unterhautgewebe
1.194
947
1.262
1.366
4.268
60.271
XIII Knochen-Muskel-System
768
1.694
2.100
2.879
9.746
73.440
Tabelle 6-2:
Dynamik somatischer Erkrankungen bei Einwohnern der nördlichen
Ukraine, die von der Havarie des Kernkraftwerkes Tschernobyl
betroffen sind (1987–1992) 44
zidenz für die Altersgruppe 0–10 Jahre war in den belasteten
Gebieten zwar nicht signifikant höher als in der Vergleichsregion
(270 gegen 263, p>0,05), die Leukämieinzidenzrate für Kinder,
die zwischen Juli 1986 und März 1987 geboren wurden, war
allerdings signifikant höher als die für die zwischen April 1987
und Dezember 1987 geborenen (386 gegen 173, p=0,03). Der
Effekt zeigte sich am deutlichsten für die Altersgruppe 0–1 Jahr.
Die Inzidenzrate korrelierte mit der Äquivalenzdosis für das
Knochenmark.41
Allgemeine Erhöhung der Krebsinzidenz
Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl hat nach Berechnungen von Tondel et al. bis 1996 zu 849 zusätzlichen Krebserkrankungen in den Falloutgebieten Nordschwedens geführt. Die
AutorInnen führten eine Kohortenstudie durch, die alle zum
Zeitpunkt der Katastrophe bis 60 Jahre alten Bewohner Nordschwedens umfasste (1986-1987; 1.143.182 Personen). Die
Bodenbelastungen mit Cäsium-137 wurden ins Verhältnis gesetzt zur Zahl der Krebskranken (22.409 Personen von 1988
bis 1996). Das Krebsrisiko für alle Krebserkrankungen zusammen sowie das Risiko speziell für Lungenkrebs stieg proportional zur radioaktiven Belastung an. Der Risiko-Anstieg wurde mit
11 Prozent pro 100.000 Bq/m² (95% KI = 0,03-0,20) beziffert.42 43
41 Davidescu, D. et al. (2004): Infant leukaemia in eastern Romania in
relation to exposure in Utero due to the Chernobyl accident; Int. J. Rad.
Med. 6(1-4):38-43.
42 Tondel, M. et al. (2004) Increase of regional total cancer incidence
in north Sweden due to the Chernobyl accident? J.Epidemiol.Community
Health 58, 1011-1016., Strahlentelex, 430-431/2004, Vermehrt
Krebserkrankungen in Nordschweden nach der Katastrophe von
Tschernobyl.
43 Tondel, M.; Lindgren, P.; Hjalmarsson, P.; Hardll, L.; Persson, B.
(2006) Increased Incidence of Malignancies in Sweden After the
Chernobyl Accident – A Promoting Effect?: American Journal of Industrial
Medicine 49:159-168.
6. 2. Nichtkrebserkrankungen
Nicht nur bei den Liquidatoren, sondern auch bei der Bevölkerung der stark kontaminierten Gebiete zeigten sich wenige Jahre nach der Atomkatastrophe von Tschernobyl Erkrankungen
der verschiedensten Organsysteme: Krankheiten des blutbildenden und des lymphatischen Systems, Herz- und Lungenerkrankungen sowie gastrointestinale und endokrinologische Erkrankungen, besonders der Schilddrüse. Diese Erkrankungen
sind nicht-maligne somatische Spätschäden, bei denen ionisierende Strahlung als schädigendes Agens wirksam wird. Die
Schädigungen sind dosisabhängig und können sich früh (z.B.
bei Blutzellschädigung) oder erst Jahre später (Linsentrübung,
Unfruchtbarkeit) bemerkbar machen.
Die Tabelle oben zeigt den Anstieg verschiedener Erkrankungen
bei Bewohnern der stark kontaminierten Gebiete. Die Daten
stammen aus einer Studie von Nyagu et al., in der über viele
Jahre immer wieder die gleiche Population in den Regionen um
Tschernobyl untersucht wurde. Es ist zu erkennen, dass in allen
aufgeführten Erkrankungsgruppen ein deutlicher bis unerwartet
hoher Anstieg der Erkrankungsraten zu sehen ist. Die Zahlen
beziehen sich jeweils auf 100.000 Einwohner. Viele Einwohner
leiden unter mehreren Erkrankungen gleichzeitig (Multimorbidität).
Aus der gleichen Studie stammt die folgende Tabelle, in der für
vier Bevölkerungsgruppen angegeben wurde, wie mit der Zeit
der Anteil der Gesunden abnimmt. So waren beispielsweise
1987 noch 78,2 Prozent der Liquidatoren gesund. 1996 war
der Anteil der gesunden Liquidatoren auf 15 Prozent gesunken.
44 Nyagu, A.I. (1994): Medizinische Folgen der Tschernobyl-Havarie in
der Ukraine, Tschernobylministerium der Ukraine, Wissenschaftliches Zentrum für Strahlenmedizin, Akademie der Medizinischen Wissenschaften
der Ukraine, Wissenschaftlich-Industrielle Vereinigung PRIPJAT, Wissenschaftlich-Technisches Zentrum, Kiev – Tschernobyl (russ.).
37
IPPNW REPORT
Kategorie der Betroffenen
Gesunder Anteil der Betroffenen in %
1987
1988
1989
1990
1991
1992
1993
1994
1995
1996
I Liquidatoren
78,2
74,4
66,4
53,3
35,8
28,8
23
19,8
17,6
15
II Evakuierte
58,7
51,6
35,2
26,2
29,7
27,5
24,3
21,1
19,5
17,9
III Einwohner in den
belasteten Gebieten
51,7
35,4
35,2
26
31,7
38,2
27,9
24,5
23,1
20,5
IV Kinder betroffener Eltern
80,9
66,8
74,2
62,9
40,6
k.A.
36,9
32,4
32,1
29,9
Tabelle 6-3:
Verschlechterung des Gesundheitszustandes der betroffenen
Bevölkerung in der Ukraine 45
Die beunruhigendste Gruppe ist Gruppe IV – Kinder betroffener
Eltern. Auch bei ihnen zeigt sich eine erhebliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes mit der Zeit. Das wirft die Frage auf, ob möglicherweise schon genetische Veränderungen
stattgefunden haben.
Die folgenden Zahlen zeigen eine steigende Inzidenz von Nichtkrebserkrankungen bei Kindern und Jugendlichen.
Im Vergleich zu gesunden Kontrollgruppen wurde bei den Kindern, die durch die Atomkatastrophe von Tschernobyl verstrahlt
wurden, ein Anstieg in folgenden Krankheitsgruppen
festgestellt:46
»» Schilddrüsenerkrankungen 32,6 %
»» Endokrine Infertilität der Mädchen 32,0 %
(10,5 % in der Kontrollgruppe, p < 0.05)
Im Folgenden soll detailliert auf die unterschiedlichen Nichtkrebserkrankungen bei Kindern eingegangen werden, da sich
die Effekte ionisierender Strahlung an dieser Population am eindrücklichsten aufzeigen lässt.
6. 2. 1. Erkrankungen in den blutbildenden Organen
und des lymphatischen Systems
Die ukrainische Tschernoblyforscherin Stepanova hat viele Publikationen über die Veränderung des Gesundheitsstatus von
Kindern aus den hoch kontaminierten Gebieten verfasst.
(15,4 % in der Kontrollgruppe, p < 0.05)
»» Lungen- und Bronchialerkrankungen 26,0 %
(13,7 % in der Kontrollgruppe, p < 0.05)
»» Herz-Kreislauferkrankungen 57,8 %
(31,8 % in der Kontrollgruppe, p < 0.05)
»» Magen-Darmerkrankungen 18,9 %
(8,9 % in der Kontrollgruppe, p < 0.05)
»» Immundefizienzen 43,5 %
(28,0 % in der Kontrollgruppe, p < 0.05)
45 Nyagu, A.I. (1994) Medizinische Folgen der Tschernobyl-Havarie in
der Ukraine, Tschernobylministerium der Ukraine, Wissenschaftliches
Zentrum für Strahlenmedizin, Akademie der Medizinischen Wissenschaften der Ukraine, Wissenschaftlich-Industrielle Vereinigung PRIPJAT,
Wissenschaftlich-Technisches Zentrum, Kiev – Tschernobyl, Kryshanovskaja: Daten für 1993-1996, persönliche Mitteilung.
46 Prysyazhnuk, A. et al. (2002) Review of Epidemiological finding in
Study of Medical Consequences of the Chernobyl Accident population;
in: Recent Research Activities about the Chernobyl NPP Accident in
Belarus, Ukraine and Russia KURRI-KR-79 (Kyoto University, Kyoto), pp.
188–287.
38
In einer Studie wertete sie Blutbilder von 1.251 Kindern aus der
Region Narodicheski im Schitomir Oblast der Ukraine aus, die
von 1993-1998 an regelmäßigen Kontrolluntersuchungen teilgenommen hatten. Diese Daten setzte sie in Beziehung zur
Kontamination des Bodens mit radioaktivem Cäsium. Sie fand
eine Erniedrigung aller drei Zellreihen (Erythrozyten, Leukozyten
und Thrombozyten), die eine direkte Korrelation zur Konzentration von radioaktivem Cäsium im Boden zeigte. Auch der ukrainische Forscher Grodzynsky konnte zeigen, dass bei Kindern
und Jugendlichen in den kontaminierten Gebieten gehäuft Anämien und Leukopenien, also Erniedrigungen der roten und
weißen Blutkörperchen, zu finden waren. Die Häufigkeit dieser
Symptome stieg von 12,7 pro 100.000 im Jahr 1987 auf 30,5
pro 100.000 im Jahr 1996, wobei der Bevölkerungsdurchschnitt bei 12,6 pro 100.000 lag.47 Lukyanova und Lenskaya
fanden 10 Jahre nach Beginn der Atomkatastrophe ebenfalls
erniedrigte Leukozyten-Werte bei Kindern aus den kontami-
47 Grodzinsky, D. M. (1999) General situation of the radiological consequences of the Chernobyl accident in Ukraine. In: Imanaka, T. (Ed.),
Recent Research Activities on the Chernobyl NPP Accident in Belarus,
Ukraine and Russia, KURRI-KR-7 (Kyoto University,Kyoto): pp. 18–28.
FOLGEN VON TSCHERNOBYL UND FUKUSHIMA
nierten Regionen im russischen Bryansk.48 Horishna untersuchte speziell die Kinder von Liquidatoren in den kontaminierten Gebieten und fand, dass sie 2–3 mal häufiger an
Erkrankungen der blutbilden Organe litten als Kinder aus nicht
kontaminierten Gebieten.49
6. 2. 2. Kardiovaskuläre Erkrankungen
Die beiden ForscherInnen Tsybulskaya und Bandashevsky fanden bei mehr als 70% der untersuchten weißrussischen Kinder
unter einem Jahr Herzrhythmusstörungen, die mit der Höhe der
Bodenkontamination korrelierten (185.000 kBq/m2 – 740.000
kBq/m2).50 51 Burlak et al. beobachteten Symptome von früher
Arteriosklerose bei 55.2 % der Kinder aus den Gebieten mit
radioaktiver Kontamination in Höhe von 5-15 kBq/m2.52 Der
Nationale Weißrussische Bericht über die Tschernobylfolgen
gab eine signifikant erhöhte Inzidenz von Kreislauferkrankungen
bei Kindern kontaminierter Eltern an.53 Prysyazhnyuk et al.
konnten zeigen, dass Kinder, die in utero Strahlung ausgesetzt
waren, ein erhöhtes kardiovaskuläres Krankheitsrisiko gegenüber nicht verstrahlten Kindern hatten (57,8% vs. 31,8%; p <
0.05).54 Die Forscherin Komorgortseva fand 2006 in drei hoch
kontaminierten Regionen der russischen Provinz Bryansk eine
um drei- bis fünfmal erhöhte kardiovaskuläre Krankheitshäufigkeit bei Kindern.55
48 Lukyanova, A. G. & Lenskaya, R. V. (1996) Cytological and chemical
characteristics of peripheral blood lymphocytes in Chernobyl children,
1987–1995. Hematol.Transfusiol. 41 (6): 27–30 Russisch). Nach Yablokov
(2009)
49 Horishna, O. V. (2005) Chernobyl Catastrophe and Public Health:
Results of Scientific Investigations (Chernobyl Children’s Foundation, Kiev):
59 pp. (Ukrainisch).
50 Tsybulskaya, I. S., Sukhanova, L. P., Starostin, V. M.& Mytyurova, L.
B. (1992) Functional condition of the cardio-vascular system in young children under the chronic impact of low dose irradiation. Matern. Childhood
37(12): 12–20 (Russisch).
51 Bandazhevsky, Yu. I. (1997) Pathology and Physiology of the Incorporated Ionizing Radiation (Gomel Medical Institute, Gomel): 104 pp. (Russisch).
52 Burlak, G., Naboka, M. & Shestopalov, V. (2006) Noncancer
endpoints in children–residents after Chernobyl accident. International
Conference. Twenty Years After Chernobyl Accident: Future Outlook.
April 24–26, 2006, Kiev, Ukraine. Contributed Papers, Vol. 1 („HOLTEH,“ Kiev): pp. 37–40 (//www. tesec-int.org/T1.pdf
53 National Belarussian Report (2006). Twenty Years After the Chernobyl Catastrophe: Consequences for Belarus Republic and Its Surrounding
Area (Shevchuk, V. F. & Gurachevsky, V. L., Eds.) (Belarus, Minsk): 112 pp.
(Russisch).
54 Prysyazhnyuk, A. Ye. et al (2002) Review of epidemiological finding
in the study of medical consequences of the Chernobyl accident in
Ukrainian population. In: Imanaka, T. (Ed.), Recent Research Activities
on the Chernobyl NPP Accident in Belarus, Ukraine and Russia,
KURRI-KR-79 (Kyoto University, Kyoto), pp. 188–287.
55 Komogortseva, L. K. (2006) Ecological consequences of Chernobyl
catastrophe in Bryansk province: Twenty years after. International Scientific and Practical Conference. Twenty Years After the Chernobyl Catastrophe: Ecological and Social Lessons. June 5, 2006, Moscow (Materials,
Moscow): pp. 81–86 (Russisch).
Abbildung 6-3:
Inzidenzentwicklung der Nichtkrebs–Erkrankungen nach Nyagu et al
pro 10.000 Kinder und Jugendliche zwischen 0 – 14 Jahren; Nationaler
Bericht der Ukraine56
Neuerdings durchgeführte Tierversuche57 stützen die Beobachtungen der Forscher aus der Tschernobylregion, dass ionisierende Strahlung schon in relativ niedrigen Dosen schädigende
Effekte auf das kardiovaskuläre System hervorrufen kann.
6. 2. 3. Benigne Schilddrüsenerkrankungen
Prysyazhnuk et al. untersuchten ukrainische Kinder, die Schilddrüsendosen von 2 Gy erhalten hatten oder der Radioaktivität
in utero augesetzt waren. In dieser Kohorte sank der Anteil der
gesunden Probanden bis 2002 auf unter 5%. Bei diesen Kindern wurden 1986-1987 zunächst Funktionsstörungen der
Schilddrüse diagnostiziert, ab 1990 Autoimmunthyreoiditiden
und ab 1992 anhaltende benigne Schilddrüsenerkrankungen.58
Leonova und Astakhova stellten fest, dass die Fälle von Autoimmunthyreoiditis innerhalb von 10 Jahren nach Beginn der
Atomkatastrophe um das Dreifache anstiegen.59
56 Prof. Nyagu A. – Präsentation auf dem BfS-Workhop: Gesundheitsfolgen von Tschernobyl , München 9-10.11.2006
57 European commission: Radioprotection No 170: Recent scientific
findings and publications on the health effects of Chernobyl (2011), S. 17;
https://ec.europa.eu/energy/sites/ener/files/documents/170.pdf
58 Prysyazhnyuk, A. Ye. et al. (2002). Review of epidemiological
finding in the study of medical consequences of the Chernobyl accident
in Ukrainian population. In: Imanaka, T. (Ed.), Recent Research Activities
on the Chernobyl NPP Accident in Belarus, Ukraine and Russia,
KURRI-KR-79 (Kyoto University, Kyoto), pp. 188–287.
59 Leonova, T. A. & Astakhova, L. N. (1998). Autoimmune thyroiditis in
pubertal girls. Public Health 5: 30–33 (Russisch).
39
IPPNW REPORT
Abbildung 6-4:
Rote Balken = Liquidatoren,
grün = Evakuierte aus der 30-km-Zone,
blau = Kontrollgruppe (Ukraine ohne kontaminierte Bevölkerung)
Auch außerhalb der pädiatrischen Population fanden sich
Schilddrüsenerkrankungen bei Strahlenexponierten. Nyagu
fand einen Anstieg benigner Schilddrüsenerkrankungen um 3040 %, vor allem bei Liquidatoren und Evakuierten.60 Dabei handelte es sich z.B. um Autoimmunthyreoiditiden, und deren
Komplikationen sowie Schilddrüsenunterfunktion.
In Zusammenarbeit von Endokrinologen der Heinrich-HeineUniversität Düsseldorf und des Weißrussischen Endokrinologischen Beratungszentrums in Minsk wurde die Entwicklung
von Diabetes bei Kindern und Jugendlichen in Weißrussland
untersucht. Über den langen Zeitraum von 1980 bis 2002 wurde in zwei sehr unterschiedlich belasteten Gebieten die jährliche Neuerkrankungsrate (Inzidenz) von Diabetes mellitus Typ
1 verfolgt. Dabei wurden zum einen die Zeiträume 1980 bis
1986 und 1987 bis 2002 miteinander verglichen, zum anderen
die Daten der hoch belasteten Region Gomel mit der vergleichsweise gering belasteten Region Minsk. Insgesamt wurden 643
PatientInnen aus der Region Gomel und 302 PatientInnen aus
der Region Minsk in die Analyse einbezogen. In den Jahren
1980 bis 1986 (vor Tschernobyl) gab es keine signifikanten Unterschiede zwischen den Inzidenzraten in Gomel und Minsk.
Dagegen wurde ein hochsignifikanter Unterschied der Inzidenzraten zwischen den beiden Regionen für die Jahre nach Tschernobyl (1987–2002) nachgewiesen (p<0.001). Außerdem fanden die Autoren, dass sich die Inzidenzraten vor und nach der
Atomkatastrophe von Tschernobyl innerhalb der Region Minsk
nicht signifikant unterschieden, wohl aber in der hochbelasteten
Region Gomel (p<0.05), wo jährlich rund doppelt so viele Kinder und Jugendliche nach Tschernobyl an Diabetes mellitus
Typ 1 erkrankten wie in den Jahren vor Tschernobyl. Die
höchste mittlere Inzidenzrate wurde in der Region Gomel im
Jahr 1998 registriert.61
60 Prof. Njagu, A. – Präsentation auf dem BfS-Workhop: Gesundheitsfolgen von Tschernobyl , München 9-10.11.2006
61 Zalutskaya, A.; Mokhort, T.; Garmaev, D.; Bornstein, S.R. (2004) Did
the Chernobyl incident cause an increase in Typ 1 diabetes mellitus incidence in children and adolescents? Diabetologia, Jan; 47(1): 147-8. Strahlentelex, 416/2004, Zuckerkrank nach Tschernobyl.
6. 2. 4. Diabetes
40
FOLGEN VON TSCHERNOBYL UND FUKUSHIMA
6. 2. 5. Lungenerkrankungen
Svendsen, Kopalkov und Stepanova konnten in einer Studie an
Kindern aus der hoch bestrahlten Region Narodichesky zeigen,
dass lang anhaltende Niedrigstrahlung zu einer signifikanten
Erhöhung von obstruktiven Lungenerkrankungen führte.62 Die
Kohorte bestand aus 415 Kindern, bei denen zwischen 1993
und 1998 regelmäßige Spirometrie-Untersuchungen durch einen Pulmologen durchgeführt wurden. Die Bodenkonzentrationen an Cäsium-137 bewegten sich zwischen 29,0 und 879
kBq/m2. Russische Forscher fanden in Bryansk zudem eine
Korrelation zwischen der erhöhten Morbidität an obstruktiven
Lungenerkrankungen und dem Grad der radioaktiven Bodenkontamination.63
Schwangerschaftswoche radioaktivem Fallout ausgesetzt worden waren. Es ließ sich auch eine Dosis-Wirkungsbeziehung
hinsichtlich der stark und schwach kontaminierten Regionen
nachweisen.65
Diese Studien zeigen eindrücklich, dass Bestrahlung in utero
entgegen der von der ICRP vertretenen Auffassung einen hirnschädigenden Effekt hat – auch in relativ kleinen Dosen.
6. 2. 6. Hirnschädigungen / Psychische Erkrankungen
Auswirkungen der radioaktiven Kontamination auf die geistig–
psychischen Fähigkeiten von Kindern wurden sehr differenziert
von der ukrainischen Neurologin Nyagu untersucht. Viele weitere Studien aus Russland und Weißrussland sind nur in russischer Sprache zugänglich und in der englischen Zusammenfassung bei Yablokov (2009) zu finden. Die Forschungsgruppe
um Nyagu untersuchte die Effekte von in utero-Bestrahlung bei
Kindern und Jugendlichen aus den kontaminierten Gebieten
und verglich sie mit einer nicht-verstrahlten Kontrollgruppe. Im
Vergleich zu dieser ließ sich bei den pränatal exponierten Kindern eine signifikante Erhöhung von kognitiven Entwicklungsstörungen, leichten geistigen Behinderungen sowie Verhaltensstörungen nachweisen. Die Ganzkörperdosen lagen bei den
bestrahlten Föten zwischen 10,7 und 92,5 mSv, die Organdosis
der Schilddrüse zwischen 0,2 und 2 Gy.64
Auch in Schweden wurde eine große Studie zu der Frage der
Hirnschädigungen bei in utero bestrahlten Föten durchgeführt.
562.637 Personen, die zwischen 1983 und 1988 geboren
wurden, waren in die Studie einbezogen. Die stärkste Schädigung trat bei denjenigen auf, die zwischen der 8. und 25.
62 Svendsen, E.R.; Kolpakov, I.E., Stepanova, Y.I. et al. (2010) 137 Cesium exposure and spirometry measures in Ukrainian children Affected by
the Chernobyl Nuclear Accident; in: Environ Health Perspect. May;
118(5):720-5.
63 Yablokov, A.; Nesterenko, V.; Nesterenko, A. (2009): Chernobyl –
Consequences of the Catastrophe for People and Environment, Annals of
the New York Academy of Sciences, vol. 1181, Boston, Mass, S 95 – 96
64 Nyagu, A. et al. Intelligence and Brain Damage in Children Acutely
Irradiated in Utero As a Result of the Chernobyl Accident. Department of
Neurology, Institute for Clinical Radiology, Research Centre for Radiation
Medicine of Academy of Medical Sciences of Ukraine. http://www.rri.kyotou.ac.jp/NSRG/reports/kr79/kr79pdf/Nyagu.pdf
65 Almond, D., Edlund, L., Palme, M. (2007) Chernobyl’s subclinical
legacy: Prenatal exposure to radioactive fallout and school outcomes
41
IPPNW REPORT
7. Mutagene und teratogene Effekte
In diesem Kapitel werden Studien vorgestellt, die die schädigende Wirkung ionisierender Strahlung auf die Fortpflanzungsfähigkeit, die Entwicklung des Kindes im Mutterleib (teratogene
Effekte) und auf die Entstehung von Mutationen des Erbguts,
z.B. Down-Syndrom und Chromosomenaberrationen (mutagene Effekte) darstellen. Der Anstieg der Säuglingssterblichkeit
und der Totgeburtenrate zählt ebenfalls zu den teratogenen Effekten ionisierender Strahlung. Auch kam es infolge der Tschernobylkatastrophe zu einer Veränderung im Geschlechterverhältnis bei den Geburtenkohorten. Ob dies den teratogenen
Effekten zuzurechnen ist oder ob es sich um epigenetische
Vorgänge handelt, ist noch nicht hinreichend geklärt.
7. 1. Fehlbildungen in der Tschernobylregion
Nach bisheriger strahlenbiologischer Lehrmeinung sollten teratogene Effekte und mutagene Effekte nicht unterhalb einer
Schwellendosis von 100 mSv auftreten. Die Studienergebnisse
aus der Tschernobylfolgenforschung widersprechen dieser
Lehrmeinung.
Die folgenden Darstellungen zu unterschiedlichen Schädigungen des Erbguts, des Fötus und des Schwangerschaftsverlaufs stammen aus den Übersichtsarbeitsarbeiten von SchmitzFeuerhake. 1 2 3
In Weißrussland gibt es seit 1979 ein zentrales Register für Fehlbildungen und andere Geburtsfehler.4 Da es bereits vor Tschernobyl eingerichtet wurde, kann man die steigenden Fehlbildungsraten nach Tschernobyl mit den Raten davor vergleichen.
Tabelle 7-1 von Schmitz-Feuerhake enthält Ergebnisse, in der
verschiedene Arten von Fehlbildungen spezifiziert werden.5
Art der Fehlbildung
Erhöhung um
Anenzephalie
39 %
Spina bifida
29 %
Lippen/Gaumenspalten
60 %
Polidaktylie
910 %*
Verkrümmung von Gliedmaßen
240 %*
Atresie der Speiseröhre
13 %
Atresie des Rektums
80 %*
Mehrfachfehlbildungen
128 %*
*signifikant p größ.0,05
Tabelle 7-1: Erhöhung der Rate angeborener Fehlbildungen
in den 17 höchstbelasteten Gebieten von Weißrussland
1987–1994 in Prozent (Originalquelle: Lazjuk et al. 1997)6
1 Schmitz-Feuerhake, I. et al: (2016) Genetic Radiation Risks –A neglected Topic in the Low-Dose Debate; Korean Journal Environmental Toxicolog 2016;0:e2016001,
2 Busby, C., Lengfelder, E.; Pflugbeil, S.; Schmitz-Feuerhake, I. (2009):
The evidence of radiation effects in embryos and fetuses exposed to Chernobyl fallout and the question of dose response. In: Med. Conflict Survival
2009 Jan-Mar;25(1):20-40.
3 Schmitz-Feuerhake, I. (2014) Genetische Folgen ionisierender Strahlung im Niederdosisbereich: http://www.tschernobylkongress.de/fileadmin/
user_upload/Arnoldshain_Doku/Schmitz-Fgenetisches_Risiko2014.pdf
42
4 Lazjuk, G.; Verger, P.; Gagniere, B. et al. (2003): The congenital anomalies registry in Belarus: a tool for assessing the public health impact of
the Chernobyl accident. Reprod. Toxicol. 17: 659-666.
5 Schmitz-Feuerhake, I. (2015): Das vergessene Risiko durch ionisierende Strahlung für die Nachkommen exponierter Eltern http://www.umg-verlag.de/umwelt-medizin-gesellschaft/415_sf_z.pdf
6 Lazjuk, G. et al.: Changes in the Registered Anomalies in the Republic
of Belarus Radiation Injury and the Chernobyl Catastrophe. STEM CELL1S9
97;15(suppl2):255-260
FOLGEN VON TSCHERNOBYL UND FUKUSHIMA
Auch Entwicklungsstörungen, die mit einer erkennbaren Genmutation einhergehen und sich als de novo Mutation darstellen,
d.h. bei den Eltern nicht vorliegen, zeigten einen Anstieg.7 Spätere Arbeiten von Lazjuk und Zatsepin zeigen, dass der Anstieg
der Fehlbildungen besonders in den ersten Jahren nach der
Katastrophe (1987–1989) in den Zonen mit hoher radioaktiver
Belastung (Cs-137 Bodenkontamination über 555 kBq/m2)
stark ausgeprägt war.8
Auch in der Ukraine kam es zu einem Anstieg der Fehlbildungen, wie Wertelecki nachweisen konnte.9 10 In seiner Studie
zeigt er einen signifikanten Anstieg von Neuralrohrdefekten,
Mikrozephalie und Mikroophthalmie in der ukrainischen Region
Polissia, etwa 200 Kilometer von Tschernobyl entfernt. Die dort
gewonnenen Daten wurden mit den Fehlbildungsdaten der europäischen EUROCAT-Datei in Beziehung gesetzt. Das Studiengebiet ist bis heute hoch verstrahlt, vermutlich aufgrund eines
wenig durchlässigen Bodentyps. Die lokale Bevölkerung ernährt
sich von heimischen Agrarprodukten und heizt mit Feuerholz
aus dem immer noch stark verstrahlten Wald. Mit 25,96 Neuralrohrdefekten auf 10.000 Lebendgeburten weist die Region
Polissia die höchste Rate in ganz Europa auf.11 (vgl. Tabelle 7-2
auf der folgenden Seite)
7. 2. Fehlbildungen im restlichen Europa
Nicht nur in der ehemaligen UdSSR, sondern auch in anderen
Teilen Europas kam es nach dem Super-GAU von Tschernobyl
zum Anstieg von Fehlbildungen. In der DDR war es im Gegensatz zur BRD gesetzlich geregelt, dass alle Aborte und alle bis
zum Alter von 16 Jahren verstorbenen Kinder autopsiert wurden. Das Fehlbildungsregister in Jena stellte 1986-1987 einen
vierfachen Anstieg isolierter Fehlbildungen im Vergleich zu
1985 fest, der in den folgenden Jahren wieder abklang. Der
Anstieg betraf vornehmlich das Zentrale Nervensystem und die
7 Lazjuk, G., Satow, Y., Nikolaev, D., Novikova, I. (1999): Genetic consequences of the Chernobyl accident for Belarus Republic. In: IMANAKA, T.
(Ed): Recent Research Activities on the Chernobyl NPP Accident in Belarus, Ukraine and Russia, KURRI-KR-7, Kyoto University, Kyoto: 174-177.
8 Zatsepin, I.O. et al. (2006) Surveillance of congenital malformations in
Belarus. Chernobly Aftermath. https://inis.iaea.org/search/search.
aspx?orig_q=RN:37057675, https://inis.iaea.org/search/search.aspx?orig_
q=RN:37057675
9 Wertelecki, W. (2010) Malformations in a Chornobyl-Impacted Region.
Pediatrics 125; e836-e843, http://www.pediatrics.org/cgi/content/
full/125/4/e836, in Strahlentelex 564-565,2010
10 Wertelecki, W. et al. (2014) Blastopathies and microcephaly in a
Chornobyl impacted region of Ukraine, Congenital Anomalies, 54, 125–
149
11 Wertelecki, W. (2013) Congenital Malformations in Rivne Polossia and
the Chernobyl Accident, https://vimeo.com/66984287
Bauchdecke.12 Eine Analyse des DDR-Zentralregisters für Fehlbildungen ergab einen Anstieg der Lippen-Gaumen-Spalten um
9,4% im Jahr 1987 (verglichen mit dem Mittelwert für 1980
und 1986, der am ausgeprägtesten in den nördlichen Gebieten
auftrat, die am meisten vom radioaktiven Niederschlag betroffen waren.13
In West-Berlin ergab sich nach dem Jahresgesundheitsbericht
von 1987 eine Verdopplung der Fehlbildungen bei Totgeborenen. Am häufigsten waren Hände und Füße betroffen, ferner
Herz und Harnröhre, außerdem gab es vermehrte Spaltbildungen.14
Bayern ist das einzige deutsche Bundesland, in dem Daten zu
kindlichen Fehlbildungen vor und nach Tschernobyl existieren.
Sie wurden für die Jahre 1984 bis 1991 im Auftrag des Bayerischen Staatsministeriums für Landesentwicklung und Umweltfragen nachträglich erhoben. Im Süden des Freistaates
Bayern, der durch den radioaktiven Niederschlag vergleichsweise stark belastet war, war die Fehlbildungsrate Ende 1987, sieben Monate nach dem Super-GAU, nahezu doppelt so hoch
wie in Nordbayern. In den Monaten November und Dezember
1987 zeigte die Fehlbildungsrate in den bayerischen Landkreisen eine hochsignifikante Abhängigkeit von der Cäsium-Bodenkontamination. Körblein und Küchenhoff zeigten, dass das Verhältnis der Fehlbildungsraten in Süd- und Nordbayern zeitlich
mit der Cäsiumbelastung der Schwangeren korrelierte. Die Fehlbildungsrate in den zehn höchstbelasteten Landkreisen Bay­
erns im November und Dezember 1987 war nahezu achtmal so
hoch wie in den 10 niedrigstbelasteten Landkreisen (p<0,001).
Die Rate an Totgeburten zeigte eine ähnliche Verteilung. 15
Scherb et al. fanden einen Zusammenhang zwischen dem Anstieg der Fehlbildungsrate nach Tschernobyl und der CäsiumBodenkonzentration in den bayerischen Landkreisen.16
12 Lotz, B. et al. (2001) Veränderungen im fetalen und kindlichen Sektionsgut im Raum Jena nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl, Bonn,
Vortrag: Society for Medical Documentation, Statistics and Epidemiology,
1996. zit. in Hoffmann, W.: Fallout from the Chernobyl nuclear disaster and
congenital malformations in Europe. Archives of Environmental Health 56
478-484.
13 Zieglowski, V.; Hemprich, A. (2001) Facial cleft birth rate in former
East Germany before and after the reactor accident in Chernobyl. Mund
Kiefer Gesichtschirurgie 1999; 3:195-199; zit. In Hoffmann, W.: Fallout
from the Chernobyl nuclear disaster and congenital malformations in Europe. Archives of Environmental Health 56, 478-484. Strahlentelex, 374375/2002, S. 9 f. Inge Schmitz-Feuerhake, Fehlbildungen in Europa und
der Türkei.
14 Hoffmann, W. (2001) Fallout from the Chernobyl nuclear disaster and
congenital malformations in Europe. Archives of Environmental Health 56,
478-484. Strahlentelex, 374-375/2002, S. 9 f. Inge Schmitz-Feuerhake,
Fehlbildungen in Europa und der Türkei.
15 Körblein, A. (2001): Folgen von Tschernobyl: Fehlbildungen bei Neugeborenen in Bayern. Umweltnachrichten 94/2001, Umweltinstitut München e.V. S. 11-16, Strahlentelex, 360-361/2002, S. 5f., Fehlbildungen bei
Neugeborenen in Bayern.
16 Scherb, H.; Weigelt, E. (2004) Spaltgeburtenrate in Bayern vor und
nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl, Mund Kiefer GesichtsChir, 8: 106110.
43
IPPNW REPORT
Region
Effekte
Referenz
Nationales Register zu Fehlbildungen und
genetischen Errkankungen
Anenzephalie, offener Rücken, Lippen/
Gaumenspalten, Polydaktylie, Verkümmerung von Gliedmaßen, Downsyndrom
Lazjuk et al. 1997
Hoch belastetes Gebiet Gomel
Kongenitale Fehlbildungen
Bogdanovich 1997;
Savchenko 1995
Distrikt Chechersky der Region Gomel
Kongenitale Fehlbildungen
Kulakov et al. 1993
Region Mogilev
Kongenitale Fehlbildungen
Petrova et al. 1997
Region Brest
Kongenitale Fehlbildungen
Shidlovskii 1992
Kongenitale Fehlbildungen
Kulakov et al. 1993
Weißrussland
Ukraine
Polessky-Region Kiew
Region Lygyny
Türkei
Godlevsky, Nasvit 1998
Anenzephalie, offener Rücken
Akar et al.1988/89;
Caglayan et al. 1990;
Güvenc et al. 1993;
Mocan et al. 1990
Region Pleven
Fehlbildungen des Herzens und des ZNS,
versch. Fehlbildungen
Moumdjiev et al. 1992
Kroatien
Fehlbildungen bei Autopsie von Totgebore- Kruslin et al. 1998
nen und neonatale Todesfälle
Bulgarien
Deutschland
DDR
Kiefer- und /oder Gaumenspalte
Zieglowski, Hemprich 1999
Scherb, Weigelt 2004
Zentralregister
Bayern
Kiefer- und /oder Gaumenspalte
Fehlbildungen
Körblein 2003, 2004;
Scherb, Weigelt 2003
Jährlicher Gesundheitsbericht von
West-Berlin 1987
Fehlbildungen bei Totgeburten
Strahlentelex 1989
Fehlbildungsregister Jena
Isolierte Fehlbildungen
Lotz et al. 1996
Tabelle 7-2:
Übersichtstabelle über Fehlbildungen nach der Tschernobylkatastrophe
nach Schmitz-Feuerhake:17
17 Busby, C, Lengfelder, E., Pflugbeil, S., Schmitz-Feuerhake, I.(2009)
The evidence of radiation effects in embryos and fetuses exposed to Chernobyl fallout and the question of dose response; in:
http://acsir.org/12-Busby_et_alMCS_2009.pdf
44
FOLGEN VON TSCHERNOBYL UND FUKUSHIMA
Scherb und Weigelt kommen auf der Basis der bayerischen
Daten zu dem Schluss, dass es zwischen Oktober 1986 und
Dezember 1991 allein in Bayern zu 1.000 bis 3.000 zusätzlichen Fehlbildungen gekommen sein muss.18
Anfang des Jahres 1987 wurde aus der vom radioaktiven Niederschlag besonders betroffenen Westtürkei und der östlichen
Schwarzmeerküste von einer Häufung von Anencephalie und
Neuralrohrdefekten bei Neugeborenen berichtet. 19 20 21 22
7. 3. Down-Syndrom in Deutschland
und Europa
Sperling stellte fest, dass in Berlin neun Monate nach Tschernobyl die Fälle von Trisomie 21 (Down-Syndrom) signifikant anstiegen. 12 Kinder mit Down-Syndrom kamen im Januar 1987 in
West-Berlin zur Welt, während normalerweise nur zwei oder drei
zu erwarten gewesen wären. Eine zufällige Schwankung ist bei
der hohen Signifikanz nahezu ausgeschlossen.23 In acht dieser
Fälle fiel der mutmaßliche Empfängnistermin in die Zeit des
höchsten in Berlin gemessenen Radioaktivitätsanstiegs24. Der
beobachtete Anstieg der Down-Syndrom-Rate von 1987 wurde
von Sperling et al. in einer 1994 im British Medical Journal publizierten Datenanalyse bestätigt. Sperling konnte seine Analyse auf
außergewöhnlich genaue Zahlen stützen. Wegen der früheren
Insellage der Stadt und der Zuständigkeit seines Instituts für die
Betreuung aller Kinder mit Down-Syndrom in West-Berlin war
Sperlings Zahlenmaterial im Gegensatz zu den Daten in anderen
Bundesländern praktisch lückenlos. Andere Ursachen für die
Häufung der Chromosomenstörung als den radioaktiven Fallout
im Frühjahr 1986 konnte Sperling nicht identifizieren. Er nahm
an, dass der radioaktive Niederschlag und insbesondere das Isotop Jod-131 mit seiner Halbwertszeit von etwa 8 Tagen, das im
18 Otto-Hug-Bericht Nr. 24. Strahlentelex, 388-389/2003, S. 6 ff., Auch
in Deutschland und anderen Ländern Europas starben nach Tschernobyl
deutlich mehr Säuglinge, gab es mehr Fehlbildungen und Totgeburten.
19 Güvenc, H.; Uslu, M.A.; Güvenc, M.; Ozkici, U.; Kocabay, K.; Bektas,
S. (1993) Changing trend of neural tube defects in Eastern Turkey; J. Epidemiol. Community Health, 47:40-41.
20 Caglayan, S., Kayhan, B., Mentesoglu, S., Aksit, S. (1990) Changing
incidence of neural tube defects in Aegean Tutkey; Pediatric and Perinatal
Epidemiology, 4:264-268.
21 Akar, N.; Cavadar, A.O.; Arcasoy, A. (1988) High incidence of Neural
Tube defects in Bursa, Turkey; Pediatric and Perinatal Epdemiology, 2:8992.
22 Mocan, H., Bozkaya, H., Mocan, Z.M., Furtun, E.M. (1990) Changing
incidence of anencephaly in the eastern Black Sea region of Turkey and
Chernobyl; Pediatric and Perinatal Epidemiology, 4:264-268.
23 Strahlentelex, 5/1987, 19. März 1987, S. 1f., „Mongolismus“ 9 Monate nach Tschernobyl.
24 Strahlentelex, 166-167/1993, S. 4, Tschernobylfolgen auch in
Deutschland messbar.
Frühjahr kausal mit dem Anstieg zusammenhängen könnte.25 In
einer erweiterten Studie untersuchten Sperling, Neitzel und
Scherb gesamteuropäische Daten zum Auftreten des
Down-Syndroms nach der Tschernobylkatastrophe. Mütterliche
altersstandardisierte Down Syndrom-Daten und die Anzahl der
dazu korrespondierenden Lebendgeburten wurden in sieben
europäischen Ländern untersucht: Bayern und West-Berlin in
Deutschland, Weißrussland, Ungarn, die Lothische Region
Schottlands, Nordwest-England und Schweden im Zeitraum
von 1981–1992. Sie fanden in den untersuchten Regionen einen Anstieg der Fälle von Down-Syndrom 9 Monate nach dem
Durchzug der Tschernobyl-Wolke, aber auch einen Sprung im
Gesamttrend, also eine anhaltend gestiegene Rate an
Down-Syndrom Fällen, die mit der langfristigen radioaktiven
Bodenkontamination mit Cäsium-137 einhergehen könnte.26
In Finnland wurde ebenfalls eine erhöhte Fehlbildungsrate (einschließlich Störungen des Zentralen Nervensystems und Fehlbildungen von Gliedmaßen) in den höher radioaktiv belasteten
Regionen registriert. Mehr Fälle von ZNS-Defekten wurden
auch in Dänemark, Ungarn und Österreich beobachtet.27 In
Finnland fanden Saxén et al. für den Geburtszeitraum von August bis Dezember 1986 eine signifikante Zunahme von Frühgeburten bei Kindern, deren Mütter während der ersten drei
Monate ihrer Schwangerschaft in den durch den Tschernobyl-Fallout höher belasteten Gebieten Finnlands lebten.28
In der Region Pleven in Bulgarien fielen Fehlbildungen von
Herz, ZNS und Mehrfachanomalien auf. An der Universitätsklinik Zagreb in Kroatien wurden zwischen 1980 und 1993
alle toten Frühgeburten und Neugeborenen, die innerhalb von
28 Tagen nach der Geburt verstarben, autopsiert. Auch hier
zeigte sich ein Anstieg von ZNS-Anomalien nach dem Super-GAU von Tschernobyl.29
25 Sperling, K.; Pelz, J.; Wegner, R.-D.; Dörries, A.; Grüters, A.; Mikkelsen, M. (1994) Significant increase in trisomy 21 in Berlin nine months
after the Chernobyl reactor accident, temporal correlation or causal relation?, British Medical Journal, 309: 158-62, 16 July 1994. Karl Sperling,
Jörg Pelz, Rolf-Dieter Wegner, I. Schulzke, E. Struck, Frequency of trisomy
21 in Germany before and after the Chernobyl accident, Biomed & Pharmacother, 1991, 45, 255-262. Strahlentelex, 184-185/1994, S. 1 f., Behinderte Kinder in Berlin durch Tschernobyl.
26 Sperling, K.; Neitzel, H.; Scherb, H. (2012) Evidence for an increase
in trisomy 21 (Down syndrome) in Europe after the Chernobyl reactor accident; in: Genetic Epidemiology Volume 36, Issue 1, pages 48–55, January
27 Hoffmann, W. (2001) Fallout from the Chernobyl nuclear disaster and
congenital malformations in Europe. Archives of Environmental Health 56,
478-484. Inge Schmitz-Feuerhake, Fehlbildungen in Europa und der Türkei, Strahlentelex, 374-375/2002, S. 9 f.
28 L. Saxén, T. Rytömaa, British Medical Journal 1989, 298: 995-997.
Strahlentelex, 60-61/1989, S. 8, Vermehrt Frühgeburten behinderter Kinder in Finnland.
29 Hoffmann, W. (2001) Fallout from the Chernobyl nuclear disaster and
congenital malformations in Europe. Archives of Environmental Health 56
478-484. Inge Schmitz-Feuerhake, Fehlbildungen in Europa und der Türkei, Strahlentelex, 374-375/2002, S. 9 f.
45
IPPNW REPORT
7. 4. Totgeburten und Anstieg der Perinatalsterblichkeit in der ehemaligen UdSSR
In den ukrainischen und weißrussischen Gebieten um Tschernobyl nahmen 1987, dem Jahr nach dem Reaktorunglück, die
Totgeburten und die frühe Säuglingssterblichkeit zu, was einen
kausalen Zusammenhang mit dem radioaktiven Niederschlag,
insbesondere dem plazentagängigen Cäsium nahelegt. Nach
1989 gab es in Weißrussland und in der Ukraine einen zweiten
Anstieg der Perinatalsterblichkeit. Für diesen erneuten Anstieg
ließ sich eine Beziehung zur Exposition schwangerer Frauen mit
radioaktivem Strontium herstellen.30 Aus der Differenz der statistisch zu erwartenden und der tatsächlich ermittelten Rate der
Perinatalsterblichkeit ergibt sich allein für die drei ukrainischen
Regionen Schitomir, Kiew-Land und Kiew-Stadt, dass 151 Kinder im Jahr 1987 und 712 Kinder in den Jahren 1988 bis 1991
zusätzlich gestorben sind. Insgesamt lässt sich somit für diese
drei Regionen schließen, dass 863 Kinder aufgrund des radioaktiven Niederschlags nach Tschernobyl vor, während oder
kurz nach der Geburt gestorben sind.31
In Weißrussland war im Jahr 1987 die Perinatalsterblichkeit in
der hoch belasteten Region Gomel stärker erhöht als in den
anderen Regionen, wenn auch aufgrund der niedrigen Fallzahlen nicht signifikant.32 Körblein weist jedoch darauf hin, dass
in der ersten Hälfte der 1990er Jahre das Niveau der Perinatalsterblichkeit im Gebiet Gomel gegenüber den restlichen ländlichen Regionen Weißrusslands um rund 30 Prozent erhöht war.
Möglicherweise handelt es sich dabei um eine Spätwirkung der
Aufnahme radioaktiver Isotope in der Pubertät. Die Analyse ergab, dass zwischen 1987 und 1998 im Gebiet Gomel 431 Kinder mehr gestorben sind, als aus den Daten der Vergleichsregionen zu erwarten gewesen wäre.33 Diese Daten sind konsistent
mit den Veränderungen der Perinatalsterblichkeit in Deutschland nach den oberirdischen Atombombentests in den 1950er
und 1960er Jahren.
30 Körblein, A. (2003) Strontium fallout from Chernobyl and perinatal
mortality in Ukraine and Belarus. Radiats Biol. Radioecol. Mar-Apr;
43(2):197-202. Strahlentelex, 398-399/2003, S. 5.
31 Körblein, A. (2005) Studies of pregnancy outcome following the
Chernobyl accident. Unpublished.
32 Körblein, A. (2003): Säuglingssterblichkeit nach Tschernobyl. Bericht Nr. 24 des Otto Hug Strahleninstituts, S. 6-34.
33 Körblein, A. (2005) Studies of pregnancy outcome following the Chernobyl accident. Unpublished.
46
Kulakov et al. fanden im ukrainischen Landkreis Polessky–Kiew
im Zeitraum von 1987 -1989 eine Erhöhung der Perinatalsterblichkeit von 15,1% auf 17,8%. Im ersten Jahr war der Anstieg
mit 37,4 % am höchsten. Hauptursache waren Totgeburten.
7. 5. Totgeburten und Anstieg der Perinatalsterblichkeit im restlichen Europa
1987 kam es in verschiedenen europäischen Ländern (Österreich, Dänemark, Deutschland, Italien, Norwegen, der Schweiz,
Schweden, Polen, Ungarn und Griechenland) zu einem Anstieg
der Totgeburtenrate. Im Zeitraum von 1986 bis 1992 kam es
dadurch in den oben genannten Ländern insgesamt zu etwa
3.200 zusätzlichen Totgeburten.34
Separate Analysen für Deutschland und Polen fanden einen
Anstieg der Perinatalsterblichkeit um etwa 5 Prozent gegenüber
dem Trend der übrigen Jahre.35 36
Nach Tschernobyl war die Säuglingssterblichkeit in Schweden
wie auch in Finnland und Norwegen hochsignifikant um 15,8 %
gegenüber dem Trend der Jahre 1976 bis 2006 erhöht. Für den
Zeitraum von 1987 bis 1992 errechnete Körblein insgesamt
1.209 zusätzlich gestorbene Säuglinge (95%-Konfidenzintervall: 875 bis 1.556).37 Finnland ist das am stärksten von Tschernobyl belastete Land in Skandinavien. Eine finnische Studie zeigt
einen deutlichen Anstieg der Frühgeburtlichkeit bei Kindern, die
in den ersten vier Monaten nach Tschernobyl in den Teilen
Finnlands gezeugt wurden, die die höchsten Dosisraten und
Bodenbelastungen mit Cäsium-137 aufwiesen.38 Scherb und
Weigelt analysierten zudem die Entwicklung der Totgeburten in
Finnland. Im Zeitraum von 1977 bis 1994 fanden sie hierbei
einen hochsignifikanten Wendepunkt im Jahr 1987.
34 Scherb, H., Weigelt, E. (2003): Environ Sci & Pollut Res, Special Issue 1 (2003): 117 – 125
35 Scherb, H.; Weigelt, E. (2003) Zunahme der Perinatalsterblichkeit,
Totgeburten und Fehlbildungen in Deutschland, Europa und in hoch belasteten Gebieten deutschen und europäischen Regionen nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl im April 1986. Bericht Nr. 24 des Otto Hug
Strahleninstituts, S. 35-75.
36 Körblein, A.: Folgen von Tschernobyl: Perinatalsterblichkeit, Fehlbildungen, Spontanaborte. http://www.alfred-koerblein.de/chernobyl/
deutsch/index.htm
37 Körblein, A. (2008): Säuglingssterblichkeit nach Tschernobyl in skandinavischen Ländern, Strahlentelex 510 -511.
38 T. Harjulehto, T. Aro, H. Rita, T. Rytömaa, L. Saxén (1989): The accident at Chernobyl and outcome of pregnancy in Finland. Br Med J. 298:
995-997. Strahlentelex 178-189/1994, S. 7, Neugeborenensterblichkeit
nach Tschernobyl.
FOLGEN VON TSCHERNOBYL UND FUKUSHIMA
7. 6. Veränderung des Geschlechterverhältnisses
7. 7. Chromosomenaberrationen
Normalerweise ist das Geschlechterverhältnis, also die Rate der
männlichen zu weiblichen Neugeborenen für eine Region konstant. In der kaukasischen Region beträgt es etwa 106 Jungen
zu 100 Mädchen. Jede Veränderung stellt einen Indikator für
mögliche Belastungen der Mütter oder der ungeborenen Kinder
während der Schwangerschaft dar. Da ionisierende Strahlung
Mutationen im Erbgut und Zellschäden verursacht, kann sie
auch zu Frühaborten führen und somit das Geschlechterverhältnis bei der Geburt beeinflussen.
Durch ionisierende Strahlung wird die Rate chromosomaler
Aberrationen gesteigert, während sie spontan nur sehr selten
entstehen. Dizentrische Chromosomen als typische strahleninduzierte Aberrationen wurden bei Überlebenden der Atombombenexplosionen in Hiroshima und Nagasaki, nach Strahlenunfällen und nach beruflicher Strahlenexposition nachgewiesen.
Scherb zeigte in seiner Analyse des Geschlechterverhältnisses
in Europa, dass es in Abhängigkeit der Höhe des Tschernobylfallouts zu signifikant weniger Mädchengeburten kommt. Er errechnete, dass infolge der Tschernobylkatastrophe ca. 800.000
Mädchen in ganz Europa weniger geboren wurden, also vermutlich bereits als Embryonen durch die Folgen der Strahlung verstarben und die Schwangerschaft (zum Teil sicher unbemerkt)
vorzeitig mit einem Frühabort endete.39
Seit dieser Arbeit haben Scherb und Voigt zahlreiche weitere
Atomstandorte (Atomkraftwerke, Atommülllager) untersucht
und überall das gleiche Phänomen gefunden: Weniger Mädchengeburten in Abhängigkeit zur jeweiligen Strahlenexposition,
auch wenn sich diese nur im Bereich von ca. 1 mSv bewegt40 41.
Damit zeigt sich , dass sich die Lehrmeinung von der 100 mSvSchwelle, unter der keine genetischen oder teratogenen Schäden sichtbar werden, nicht aufrechterhalten lässt.
Chromosomendefekte in Lymphozyten können als quantitativer
biologischer Indikator zur Abschätzung der Körperdosis verwendet werden. Dabei wird unter dem Mikroskop im Blutausstrich
der Lymphozyten nach dizentrischen und Ringchromosomen
gesucht. Ebenfalls wird mittels der Fluoreszenzmikroskopie
nach Translokationen gesucht. Hierbei handelt es sich um den
gegenseitigen Austausch von Chromosomenstücken – die Erbsubstanz wird vom ursprünglichen auf ein „anderes“ Chromosom übertragen. Bleibende Chromosomenaberrationen sind
nicht zwangsläufig Synonym für eine Erkrankung, allerdings
signalisieren sie, wie hoch das Ausmaß der Zellschädigung ist.
Das Risiko für die Entwicklung einer Krebskrankheit oder für die
Entwicklung einer Erbgutschädigung durch Schädigung der Eizellen oder Spermien wächst.
In den Registrierungs- und Forschungszentren der drei von der
Tschernobylkatastrophe betroffenen ehemaligen Sowjetrepubliken wurde an zahlreichen kontaminierten Bevölkerungsgruppen der Nachweis für einen Anstieg von Chromosomenaberrationen geführt, nicht nur bei hochbestrahlten Gruppen wie den
Liquidatoren, sondern sogar bei Reisenden, die sich nur für
kurze Zeit in den Tagen nach dem Unfall im kontaminierten
Gebiet aufgehalten hatten. Yablokov gibt eine Übersicht über
die Befunde der Chromosomenschädigungen.42 Im Folgenden
werden exemplarisch einige der zahlreichen Studien dazu aufgeführt.
Schmitz-Feuerhake und Pflugbeil präsentierten auf der internationalen Konferenz der „Physicians of Chernobyl“ die Berechnungen aus Studien zu Chromosomenaberrationen von Evakuierten der 30 km Zone und der stark verstrahlten Region
Gomel.43 (vgl. Tabelle 7-3 auf der folgenden Seite)
39 Scherb, H.; Voigt, K. (2007) Trends in the Human Sex Odds at Birth
in Europe and the Chernobyl Nuclear Power Plant accident; in: Reprod.
Toxicol Jun;23(4):593-9. Epub 2007 Apr 5,
http://www.strahlentelex.de/Stx_10_558_S01-04.pdf
40 Scherb, H.; Voigt, K. (2011) The human sex odds at birth after the
atmospheric atomic bomb tests, after Chernobyl, and in the vicinity of
nuclear facilities. Environ Sci Pollut Res Int 18(5) 697- 707.
41 Scherb, H.; Voigt, K.; Kusmierz, R. (2015) Ionizing radiation and the
human gender proportion at birth-A concise review of the literature and
complementary analyses of historical and recent data. Early Hum Dev
91(12) 841-850.
42 Yablokov, A.V.; Nesterenko, V.B.; Nesterenko, A.V. (2009) Chernobyl
- Consequences of the Catastrophe for people and environment; Annals of
the New York Academy of Sciences, Vol 1181; S. 65 - 71.
43 Schmitz-Feuerhake, I.; Pflugbeil, S. (2006): How reliable are the dose
estimates of UNSCEAR for populations contaminated by Chernobyl fallout?
A comparison of results by physical reconstruction and biological dosimetry
47
IPPNW REPORT
Region
Untersuchte
Datum der Methode
Unter­
suchung
Resultat
Mittlere Erhöhung +
Besonderheiten
Autor
Bemerkungen
Evakuierte aus
Pripyat und
Umgebung
43 Erwachsene
1986
Dic
18-Mal, keine Überdispersion
Maznik et al. 1997
Resultat des
Autors
430 mSv
Evakuierungszone
60 Kinder
1986
Dic+cr
15-Mal, Keine Überdispersion
Mikhalevich et al.
2000
Resultat des
Autors
400 mSv
Evakuierte aus
Pripyat und
Umgebung
102 Erwach- 1987–
sene,
2001
10 Kinder
Dic+cr
Maximum 18-Mal in
1987,
danach Rückgang aber
noch erhöht
Maznik 2004
Resultat des
Autors
360 mSv
Evakuierungszone
244 Kinder
1991
Dic+cr
circa 100-Mal *)
Sevan´kaev et al.
1993
Dosiskalkulation
nach IAEA (1991)
1-8 mSv
Evakuierte aus
Pripyat
24 Kinder
1991–
1992
Dic
circa 3-Mal *)
DeVita et al. 2000
Evakuierte der 30
km Zone
12 Erwach­
sene
1995
Dic+cr
7–10 Mal *)
Pilinskaya et al.
1999
Bewohner der
Evakuierungszone
33 nicht
evakuierte
Erwachsene
19981999
Dic+cr
5.5-Mal
Bezdrobnaia et al.
2002
Tabelle 7-3:
Tabelle 7-4:
Biologische Dosimetrie bei Evakuierten der 30-km-Zone
Dic dicentrische Chromosomen, cr Ringchromosomen
Biologische Dosimetrie Einwohner von Gomel und Gomel-Region
Dic dicentrische Chromosomen, cr Ringchromosomen,
Tralo Translokationen
*) Abschätzung durch die Autoren
*) Abschätzung durch die Autoren
Untersuchte
Datum der
Untersuchung
Methode
Resultat
Mittlere Erhöhung
& Besonderheiten
Autor
43 schwangere
Frauen
18 Kleinkinder
1986–1987
Dic+cr
5-Mal
40-Mal
Feshenko
et al. 2002
8 Personen
1988–1990
Dic+cr
circa 40-Mal *)
Serezhenkov
et al. 1992
330 gesunde
Erwachsene
1988–1990
Dic+cr, Tralo, FISH
15-Mal
6,5-Mal
Domracheva
et al. 2000
46 Patienten mit
hämatologischen
Krebserkrankungen
1988–1990
Dic+cr, Tralo, FISH
(6-18)-Mal
(6,5-16)-Mal
Domracheva
et al. 2000
35 Erwachsene
1990
Dic
circa 30-Mal *)
Überdispersion;
2 multiaberrante
Zellen
Verschaeve
et al. 1993
36 Kinder
1994
Dic
(3,2-8)-Mal
Barale et al. 1998
20 Kinder
1996
Tralo, FISH
3-Mal
signifikant
Scarpato
et al. 1997
Kontrollen aus Pisa
70 Kinder
1996
Dic+cr
18-Mal
Gemignani
et al. 1999
10 Jahre nach
dem Unfall
48
Bemerkungen
Vergleich mit ESR
.
FOLGEN VON TSCHERNOBYL UND FUKUSHIMA
Region
137Cs Untersuchte
kBq/m2
Ukraine /
Region Lugyny
Malahovka
Russland/Kaluga
Region
Mladenik
Ogor
Russland/Provinz
Bryansk Clynka
Yordevka
Klincy
Russland/Kaluga
Region
Uljanovo
Chicdra
Kaluga-Bryansk
Region
Provinz Uljanova
Provinz Chicdra
Datum der
Untersuchung
Methode Resultat
Autor
Mittlere Erhöhung
& Besonderheiten
130 Kinder
1988–1990 Dic+cr
Erhöhung bis zu
6.6-Mal in 1990
Eliseeva et
al. 1994
140
43
17 Erwachsene
16 Erwachsene
1989
ca. 5-Mal *)
ca. 2-Mal *)
Bochkov et
al. 1991
633
444
230
61 Erwachsene
432 Erwachsene
170 Erwachsene
1989–1998 Dic+cr
7-Mal
1.5-Mal
2-Mal
Sevan´kaev
2000
140
100
666 Erwachsene
548 Erwachsene
200
333 Kinder &
Jugendliche
407 Kinder &
Jugendliche
1989–1998 Dic+cr
3-Mal
1990–2003
3.7-Mal
keine Erhöhung
100
Dic+cr
4-Mal
2.5-Mal
Bemerkungen
Effekt nicht
erklärbar aufgrund von 137Cs
2 multiaberrante
Zellen
27 multiaberrante
Zellen
Sevan´kaev
et al. 2005
Physikalische
Abschätzungen
(bis 2001)
11.4 mSv und 6.7
mSv
Ukraine Region
> 550
6 Erwachsene
1991
Dic
ca. 5-Mal*)
Ganina et al.
1994
Bryansk and
Provinz Bryansk
> 550
1300
1992
instabil;
stabil
5 % > 400 mSv
1 % 1000 mSv
Vorob´ev et
al. 1994
Physikalische
Abschätzungen
17-35 mSv,
multiaberrante
Zellen
Provinz Bryansk
Mirnye
> 1100
100 Erwachsene
1993
cr
4-Mal,
6 multiaberrante
Zellen
Salomaa et
al. 1997
Kontrollen von
Krasnye Rog
< 37 kBq/m2
(Dics 0,43%,
multiaberrante
Zellen 2)
Tabelle 7–5:
Biological dosimetry in highly contaminated regions 37 kBq/m2
Dic dicentrische Chromosomen, cr Ringchromosomen
*) Abschätzung durch die Autoren
49
IPPNW REPORT
Aus der Zahl der Chromosomenaberrationrn lassen sich Rückschlüsse auf die Strahlendosis ziehen, der die Untersuchten
ausgesetzt sein mussten. Neben den zytogenetischen Studien
führen Schmitz-Feuerhake und Pflugbeil bei den Dosisberechnungen auch die Ergebnisse von Imanaka and Koide an, die
allein für die externe Dosis auf eine durchschnittliche Strahlenbelastung von 20-320 mSv kommen (vgl. Tabelle 7-4).
Das Phänomen der Überdispersion sowie das Vorkommen multiaberranter Zellen weist auf die Exposition durch Alpha-Strahlung hin, z.B. durch Plutonium (vgl. Tabelle 7-5).Einige der oben
aufgeführten Studien sollen im Folgenden kurz näher erläutert
werden. Stepanova et al. zeigten in ihrer Studie an 87 Kindern
(Gruppe 1: Kinder von Überlebenden einer akuten Strahlenerkrankung, Geburt zwischen 1987–1988; Gruppe 2: Evakuierte
Kinder aus der Region Pripyat, Geburt zwischen 1983-1985;
Kontrollgruppe: Kinder aus nicht kontaminierten Regionen),
dass sowohl die Kinder der Überlebenden von akuten Strahlenerkrankungen als auch die Kinder, die aus der Pripyat-Region
evakuiert wurden, eine signifikante Erhöhung von Chromosomen-Aberrationen gegenüber der Kontrollgruppe aufwiesen.44
Pilinskaya et al. untersuchten über einen Zeitraum von 14 Jahren verschiedene stark kontaminierte Gruppen von Tschernobyl-Opfern (Überlebende akuter Strahlenerkrankungen, Liquidatoren und Personen aus kontaminierten Regionen) und
fanden bei allen Gruppen einen erheblichen Anstieg der chromosomalen Aberrationen und stellten fest, dass auch relativ
geringe Strahlendosen Chromosomenaberrationen verursachen
können.45
Baleva et al. beschrieben genetische Instabilität als Folge von
lang andauernder radioaktiver Exposition und die Rolle der
DNS-Reparaturmechanismen in Bezug auf unterschiedliche
Krankheiten wie Krebs oder Fehlbildungen bei Kindern.46 Aus
einer Gesamtpopulation von 104.555 russischen Kindern wurden 608 Kinder ausgewählt, die in kontaminierten Regionen
der Provinz Bryansk lebten. Die Kinder waren entweder evakuiert oder umgesiedelt worden oder Kinder von Liquidatoren.
Die Cäsium-Bodenkontamination der Region überstieg 1.665
kBq/m2. Als Kontrollgruppe diente eine Kohorte von Kindern
44 Stepanova, E. I., Misharina, J.A. (1997): Cytogenic effects in children
born to participants in the cleanup of the Chernobyl accident consequences – acute radiation syndrome survivors and children evacuated from
Pripyat (IAEA CN 67/19) https://inis.iaea.org/search/search.aspx?orig_
q=RN:29017301
45 Pilinskaia, M.A.; Shemetun, A.M.; Dybski, S.S.; Dybskaia, E.B.; Pedan, L.R.; Shemetun, E.V. (2001): The results of 14 year cytogenetic monitoring of priority follow-up groups of Chernobyl accident victims in: Vest
Ross Akad Med Nauk. (10):80-4.
46 Sipyagina, A.E.; Baleva, L.S.; Karakhan, N.M.; Sukhorukov, V.S.
(2015) Role of Postradiation Genome Instability in Evaluating the Development of Radiation-Determined Pathology in Children After the Chernobyl;
In AASCIT Journal of Medicine; 1(2): 18-22 Accident and Investigation
Perspectives
50
aus der Provinz Bryansk ohne radioaktive Bodenkontamination.
Gruppe 1 waren Kinder, die vor Tschernobyl geboren waren,
Gruppe 2 Kinder, die in utero und danach kontaminiert wurden
(Geburt 1987–1988), Gruppe 3 waren Kinder, die zwischen
1988 und 1993 geboren wurden und Gruppe 4 Kinder, die
zwischen 1995 und 2000 geboren wurden. Die Kinder aus den
bestrahlten Zonen zeigten einen signifikanten Anstieg von Chromosomenaberrationen in Bezug zu der Kontrollgruppe, sowohl
dizentrische und Ringchromosomen als auch Translokationen.
Beim Vergleich der bestrahlten Gruppen untereinander zeigten
die Kinder, die vor 1986 geboren waren, eine höhere Rate an
Reparaturmechanismen. Alle Kinder, die in utero Strahlung
ausgesetzt waren oder in der Zeit nach Tschernobyl geboren
waren, verfügten über deutlich weniger chromosomale Reparaturmechanismen. Die Fähigkeit ihrer Körperzellen, adaptiv mittels Reparaturmechanismen der Strahlenbelastung zu
begegnen, war schneller erschöpft. Die Häufung von Fehlbildungen, perinataler Mortalität und das erhöhte Krebsrisiko in
den bestrahlten Populationen aller drei von Tschernobyl betroffenen ehemaligen Sowjetrepubliken dürfte auch mit dieser
Folgeerscheinung der chronischen Strahlenexposition zusammenhängen.
FOLGEN VON TSCHERNOBYL UND FUKUSHIMA
Teil B: 5 Jahre Leben mit Fukushima
Überblick über die gesundheitlichen
Folgen der Atomkatastrophe
51
IPPNW REPORT
1. Der Beginn der Atomkatastrophe
Am 11. März 2011 ereignete sich vor der Ostküste Japans ein
Erdbeben der Größenordnung 9,0 auf der Richterskala. Das
sogenannte Tohoku-Erdbeben führte zu einem Tsunami, der
entlang der Küste massive Zerstörungen anrichtete. Mehr als
15.000 Menschen starben als direkte Folge des Erdbebens und
des Tsunamis, mehr als 500.000 Menschen mussten evakuiert
werden. Auch mehrere Atomkraftwerke wurden durch die Naturkatastrophe beeinträchtigt. Während die Lage in den meisten
von ihnen jedoch unter Kontrolle gebracht werden konnte, wurde das Atomkraftwerk Fukushima Dai-ichi durch das Erdbeben
stark beschädigt und die Stromversorgung zum Kühlsystem
unterbrochen, sodass es zur Kernschmelze der Brennstäbe in
den Reaktoren 1 bis 3 kam.
Der durch das Beben ausgelöste Tsunami erschwerte die Situation zusätzlich. Die verantwortliche Betreiberfirma Tokyo Electric Power Company (TEPCO) begann damit, Dampf aus den
Reaktoren abzulassen. Größere Explosionen durch ansteigenden Druck im Inneren der Reaktoren sollten so verhindert
werden. Der Dampf trug jedoch auch große Mengen radioaktiver Partikel in die Atmosphäre – eine Gefahr für die Bevölkerung, die zum damaligen Zeitpunkt als das geringere Übel angesehen wurde.
Während Japan in Bezug auf Notfallplanungen bei Erdbeben
und Tsunamis zu den am besten vorbereiteten Ländern der
Welt gehört, waren die japanischen Behörden vom dreifachen
Super-GAU und der Ausbreitung der radioaktiven Wolke hoffnungslos überfordert. Am Abend des 11. März wurde eine erste
Evakuierung aus der Drei-Kilometer-Zone angeordnet, am
Abend des 12. März dann aus einer Zone von 20 Kilometer um
die havarierten Reaktoren. Zu diesem Zeitpunkt hatte schon die
erste Wasserstoffexplosion im Reaktor 1 stattgefunden.
200.000 Menschen wurden insgesamt aufgefordert, ihre Häu-
52
ser zu verlassen.1 Der damalige japanische Regierungschef Naoto Kan gab nachträglich zu Protokoll, dass die Metropolregion
Tokio-Yokohama mit mehr als 30 Millionen Einwohnern „nur um
ein Haar“ der radioaktiven Kontamination entgangen war. In
den Tagen nach Beginn der Atomkatastrophe wehte der Wind
vor allem Richtung Osten, so dass ein Großteil des radioaktiven
Niederschlages (schätzungsweise rund 76%) über dem Pazifik
erfolgte.2 An einem einzigen Tag, dem 15. März 2011, kam der
Wind von Südosten, so dass sich bis heute eine Spur radioaktiver Kontamination mehr als 30 km nach Nordwesten bis zur
Kleinstadt Iitate zieht. Ein einziger Tag mit Wind aus dem Norden in diesen Tagen hätte große Teile Tokios verstrahlt und zur
Evakuierung der japanischen Hauptstadt geführt. Ex-Premier
Kan gibt zu, dies hätte „den Kollaps unseres Landes bedeutet“
und macht „eine Reihe glücklicher Zufälle“ und „göttliche Fügung“ dafür verantwortlich, dass es nicht so weit gekommen
war.3
Am 14. und 15. März führten mehrere Explosionen zur Zerstörung der Reaktoren 2 und 3 und verursachten ein Feuer im
Abklingbecken des Reaktors 4. Um die Brennstäbe zu kühlen,
trafen die Verantwortlichen von TEPCO die umstrittene Entscheidung, Meerwasser in die Reaktorgebäude zu pumpen.
Diese Maßnahme konnte jedoch einen weiteren Temperaturanstieg nicht verhindern, da die Brennstäbe bereits freigelegt wa-
1 International Atomic Energy Agency (IAEA). „Fukushima Nuclear Accident Update“, 12.03.11. www.iaea.org/newscenter/news/2011/fukushima120311.html.
2 Evangeliou N et al. „Global deposition and transport efficiencies of radioactive species with respect to modelling credibility after Fukushima
(Japan, 2011)“. J Environ Radioact., 2015 Nov;149:164-75. http://www.
ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/26254209
3 Wagner W. „Ex-Premier Kan über Fukushima-Katastrophe: ‚Die Frage
war, ob Japan untergeht‘„. Spiegel Online, 09.10.15. http://www.spiegel.
de/politik/ausland/ex-premier-ueber-fukushima-die-frage-war-ob-japanuntergeht-a-1056836.html
FOLGEN VON TSCHERNOBYL UND FUKUSHIMA
ren. Laut TEPCO und WissenschaftlerInnen der Universität von
Nagoya schmolzen 100% aller Brennstäbe im Reaktor 1, 70–
100% der Brennstäbe im Reaktor 2 und 63% der Brennstäbe
im Reaktor 3.4,5 Das Kühlwasser wurde in den Reaktoren radio­
aktiv verseucht und floss in großen Mengen zurück in die
Grundwasserreservoirs und ins offene Meer.
Am 25. März wurden Bewohner in einem Umkreis von 30 Kilometer um das Atomkraftwerk gebeten, freiwillig ihre Häuser und
die kontaminierte Region zu verlassen. Am 12. April wurden die
Kernschmelzen in Fukushima zum Atomunfall der Stufe 7 erklärt, der höchsten Stufe auf der Internationalen Bewertungsskala für Nukleare Ereignisse (INES), die zuvor nur von der
Atomkatastrophe von Tschernobyl erreicht worden war. Am 22.
April dehnte die japanische Regierung ihre Evakuierungsempfehlungen schließlich auf die Dörfer Katsurao, Namie, Iitate und
Teile von Kawamata und Minami-Soma und damit auf Ortschaften aus, die bis zu 50 Kilometer entfernt von den havarierten
Reaktorgebäuden liegen. Jodtabletten verteilten die Behörden
nicht an die Bevölkerung, so dass diese dem radioaktiven Jod131 ungeschützt ausgesetzt wurde. Die Weltgesundheitsorganisation WHO kritisiert dies in ihrem Bericht zur Atomkatastrophe und gibt an, dass die zu erwartenden Schilddrüsendosen
der Bevölkerung sich durch die Unterlassung dieser wichtigen
präventiven Maßnahme erhöht hätten.6 In ihrem offiziellen Bericht vom Juni 2012 kam die unabhängige Untersuchungskommission des japanischen Parlaments zu dem Schluss, dass es
sich bei der Atomkatastrophe von Fukushima nicht bloß um die
Folge einer Naturkatastrophe handelte, sondern vielmehr um
ein „Unglück von Menschenhand“:
4 Japanese Atomic Information Forum (JAIF). „TEPCO: Melted fuel ate
into containment vessel“. Earthquake Report No. 278, 01.12.11. www.jaif.
or.jp/english/news_images/pdf/ENGNEWS01_1322709070P.pdf.
5 Kumai H. „Researchers: More than 70% of No. 2 reactor’s fuel may
have melted“. Asahi Shimbun, 27.09.15. http://ajw.asahi.com/
article/0311disaster/fukushima/AJ201509270023
6 World Health Organisation (WHO). „Preliminary dose estimation from
the nuclear accident after the 2011 Great East Japan Earthquake and
Tsunami“. 23.05.1212, p.49. ht tp://whqlibdoc.who.int /publications/2012/9789241503662_eng.pdf
„Die Kommission stellt fest, dass sich die Situation zunehmend verschlechterte, da das Krisenmanagement des Kantei [Büro des japanischen
Premierministers], der Aufsichtsbehörden und
anderer verantwortlicher Institutionen nicht
richtig funktionierte. (...) Die Verwirrung der
Anwohner über die Evakuierung hatte ihre
Ursache in der Fahrlässigkeit der Aufsichtsbehörden und ihrem jahrelangen Versagen, ausreichende Maßnahmen für den Fall eines Atomunglücks zu implementieren, sowie der Untätigkeit
vorheriger Regierungen und Aufsichtsbehörden
bezüglich des Krisenmanagements. Das Krisenmanagementsystem des Kantei und der Aufsichtsbehörden sollte die öffentliche Gesundheit und
Sicherheit schützen, versagte jedoch in dieser
Funktion.“7
7 The National Diet of Japan. „The official report of The Fukushima Nuclear Accident Independent Investigation Commission of the National Diet
of Japan“. 05.07.12, p 18–19. http://www.nirs.org/fukushima/naiic_report.
pdf
53
IPPNW REPORT
2. Emissionen und Kontamination
Die multiplen Kernschmelzen von Fukushima stellen die größte
Atomkatastrophe seit dem Super-GAU von Tschernobyl im Jahr
1986 dar. Seit März 2011 treten täglich radioaktive Isotope aus
den havarierten Reaktoren aus. Die Katastrophe dauert bis zum
heutigen Tag an, auch wenn die Atomindustrie und Institutionen
der Atomlobby wie die Internationale Atomenergie Organisation
(IAEO) gerne von einem singulären Ereignis sprechen, das sich
im Frühjahr 2011 ereignete und seitdem unter Kontrolle sei.
Dabei werden jedoch die kontinuierlichen Emissionen langlebiger Radionuklide wie Cäsium-137 oder Strontium-90 in die
Atmosphäre, das Grundwasser und den Ozean ignoriert sowie
die Rekontamination der Region durch Stürme, Überflutungen,
Waldbrände, Pollenflug, Niederschlag oder gar durch Dekontaminationsarbeiten, die immer wieder zum Aufwirbeln und zur
Verbreitung radioaktiver Isotope führen.1 So wurden bereits
deutlich außerhalb der Evakuierungszonen – auch mehrere Jahre nach Beginn der Atomkatastrophe – relevante Neukontaminationen mit Cäsium-137, aber auch mit Strontium-90 festgestellt.2
Im Bayerischen Wald wird selbst 30 Jahre nach dem SuperGAU von Tschernobyl noch so viel radioaktives Cäsium-137 in
Wildtieren und Pilzen gemessen, dass diese als Strahlenmüll
entsorgt werden müssen – 30 Jahre entsprechen gerade einmal
1 Higaki S, Hirota M. „The reductive effect of an anti-pollinosis mask
against internal exposure from radioactive materials dispersed from the
Fukushima Daiichi Nuclear Disaster“. Health Phys. 2013 Feb;104(2):22731, Februar 2013. www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/23274827.
2 Steinhauser G et al. „Post-Accident Sporadic Releases of Airborne Radionuclides from the Fukushima Daiichi Nuclear Power Plant Site“. Environ.
Sci. Technol. 2015, 49, 14028−14035. http://pubs.acs.org /doi/
pdf/10.1021/acs.est.5b03155
54
der Halbwertszeit von Cäsium-137.3 4 Es ist davon auszugehen,
dass ein ähnliches Schicksal auch der Flora und Fauna in den
betroffenen Gebieten in Japan droht. Eine Dekontamination bewaldeter Flächen, ganzer Gebirgszüge oder anderer dicht bewachsener Zonen ist aussichtslos und wird gar nicht erst versucht, so dass die Gefahr radioaktiver Exposition auch in
mehreren Jahrzehnten in Fukushima und den Nachbarpräfekturen noch Thema sein wird. Das ursprüngliche Ziel, sämtliche
kontaminierte Regionen wieder bewohnbar zu machen, haben
die japanischen Behörden bereits als unrealistisch verworfen.5
Die Auswaschung radioaktiver Stoffe in Böden und Grundwasser stellt eine zusätzliche Gefahr für die Menschen in der Region dar. Hinzu kommen Lecks und Unfälle auf dem Gelände des
Atomkraftwerks, vor allem aus den rissigen Kellergewölben der
Reaktorgebäude und den eilig zusammengeschweißten Containern für radioaktiv kontaminiertes Kühlwasser, die jetzt schon
zahlreiche Lecks aufweisen. Bis heute fließen TEPCOs eigenen
Angaben zufolge jeden Tag unkontrolliert ca. 300 Tonnen radio­
aktive Abwässer in den Ozean – mehr als 500.000 Tonnen seit
Beginn der Atomkatastrophe.6 Die Menge und Zusammensetzung der radioaktiven Isotope schwankt dabei so stark, dass
3 Bundesministerium für Gesundheit. „Radioaktive Belastung von Wildschweinen“. 08.04.11. http://bmg.gv.at/home/Schwerpunkte/VerbraucherInnengesundheit/Radioaktive_Belastung_von_Wildschweinen.
4 Hawley C. „A Quarter Century after Chernobyl: Radioactive Boar on the
Rise in Germany“. Spiegel Online, 30.07.10. www.spiegel.de/international/
zeitgeist/a-quarter-century-after-chernobyl-radioactive-boar-on-the-risein-germany-a-709345.html.
5 Aoki M et al. „Government secretly backtracks on Fukushima decontamination goal“. The Asahi Shimbun, 16.06.13. http://ajw.asahi.com/
article/0311disaster/fukushima/AJ201306160022.
6 Tsukimori O, Hamada K. „Japan government: Fukushima plant leaks
300 tpd of contaminated water into sea | Reuters“. Reuters, 07. 08.13.
http://www.reuters.com/article/2013/08/07/us-japan-fukushima-wateridUSBRE9760AU20130807.
FOLGEN VON TSCHERNOBYL UND FUKUSHIMA
keine zuverlässigen Aussagen über die konkreten Folgen für
Meeresflora und -fauna gemacht werden können. Klar ist jedoch, dass auch immer mehr Strontium-90 ins Meer gespült
wird – ein radioaktives Isotop, das in lebenden Organismen ähnlich wie Kalzium in Knochen und Zähne eingebaut wird, eine
signifikante Akkumulation in der marinen Nahrungskette erfährt
und aufgrund seiner langen biologischen und physikalischen
Halbwertszeit über ca. 300 Jahre die Umgebung verstrahlt.7
Schätzungsweise 23% des radioaktiven Niederschlags der
Atomkatastrophe von Fukushima ging über dem japanischen
Festland nieder.8 Die am schwersten betroffenen Regionen liegen dabei auf der Osthälfte und im Zentrum der japanischen
Hauptinsel Honshu, während die Westküste der Insel durch
eine topographische Wetterscheide größtenteils vom radioaktiven Niederschlag verschont blieb. Doch auch weit im Süden
und Norden des Inselstaats wurden erhöhte Ortsdosisleistungen gemessen.9 So kamen Menschen in ganz Japan in
Kontakt mit radioaktiven Isotopen – über eingeatmete Luft, verstrahltes Wasser oder kontaminierte Lebensmittel. Daher ist es
wichtig, die Strahlenbelastung der Bevölkerung nicht nur für
Fukushima und die benachbarten Präfekturen Chiba, Gunma,
Ibaraki, Iwate, Miyagi und Tochigi zu messen, sondern auch
weiter entfernt gelegene Präfekturen zu erfassen, die ebenfalls
vom radioaktiven Niederschlag betroffen sind. So erhielten sowohl Tokio als auch die Präfekturen Kanagawa, Saitama und
Shizuoka am 15. und 21. März relevante Mengen radioaktiven
Niederschlags.10 Grünteeplantagen in der Präfektur Shizuoka,
400 km südlich von Fukushima und 140 km südlich von Tokio,
wurden so stark radioaktiv kontaminiert, dass der 2011 geerntete Tee aus dem Handel gezogen werden musste.11 Die Karte
von Forschern der Universität von Gunma zeigt die radioaktive
Kontamination der japanischen Hauptinsel Honshu Ende 2012.
Abbildung 2-1:
Die unterschiedlichen Wege, auf denen Menschen mit Radioaktivität infolge der Atomkatastrophe in Berührung kommen
können, sind:
Karte der radioaktiven Kontamination Nordostjapans
»» Äußere Strahleneinwirkung durch sogenannten „cloud-
dioaktive Wolke, wobei hier alle Radioisotope in Frage
kommen, beispielsweise Xenon-133, Jod-131 und Cäsium-137
shine“, also die direkte Strahleneinwirkung durch die ra-
7 Kiger PJ. „Fukushima’s Radioactive Water Leak: What You Should
Know“. National Geographic, 09.08.13. http://news.nationalgeographic.
com/news/energy/2013/08/130807-fukushima-radioactive-water-leak/
8 Evangeliou N et al. „Global deposition and transport efficiencies of radioactive species with respect to modelling credibility after Fukushima
(Japan, 2011)“. J Environ Radioact. 2015 Nov;149:164-75. http://www.
ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/26254209
9 Hirose K. „Fukushima Dai-ichi nuclear power plant accident: summary
of regional radioactive deposition monitoring results“. J. Environ. Radioact.
111, 13-17. http:/dx.doi.org/10.1016/j.jenvrad.2011.09.003
10 Priest ND. „Radiation doses received by adult Japanese populations
living outside Fukushima Prefecture during March 2011, following the Fukushima 1 nuclear power plant failures“. J Environ Radioact 2012 Dec;
114:162-170. www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/22770771.
11 Shizuoka Prefectural Government. „Test Results for Radioactivity on
Tea Produced in Shizuoka Prefecture“. 20.05.11. www.pref.shizuoka.jp/
sangyou/sa-340/20110520_test_results_radio_activity.html.
»» Äußere Strahleneinwirkung durch sogenannten „groundshine“, also die direkte Strahleneinwirkung durch bodennahe (terrestrische) strahlende Partikel, vor allem Gammastrahler wie Barium-137m, ein Zerfallsprodukt von
Cäsium-137
»» Äußere Strahleneinwirkung durch oberflächliche Konta-
mination von Haut, Haaren und Kleidung, vor allem
durch Betastrahler wie Cäsium-137, Strontium-90 oder
Jod-131
»» Innere Strahleneinwirkung durch Inhalation von radioaktiven Partikeln mit der Atemluft, insbesondere Alpha-
55
IPPNW REPORT
Abbildung 2-2:
Darstellung der unterschiedlichen Expositionspfade mit Radioaktivität
strahler wie Plutonium oder Betastrahler wie Cäsium-137,
Strontium-90 und Jod-131
»» Innere Strahleneinwirkung durch Ingestion von radioaktiven Partikeln mit Nahrung oder Trinkwasser, insbesondere Alphastrahler wie Plutonium oder Betastrahler wie
Cäsium-137, Strontium-90 und Jod-131
Für die Berechnung individueller und kollektiver Strahlendosen
ist es somit von Bedeutung, sowohl die Gesamtmenge radioaktiver Emissionen als auch die Strahlenwerte der Atemluft sowie
der Nahrung zu kennen. In den folgenden Kapiteln soll kurz auf
die zur Verfügung stehenden Daten bezüglich der jeweiligen
Strahlendosis eingegangen werden.
atomaren Strahlung (UNSCEAR) die weitaus geringeren Zahlen
der Japanischen Atomenergie-Agentur (JAEA) für ihre Berechnungen.12
So errechneten die Wissenschaftler Stohl et al. am Norwegischen Institut für Luftforschung (Norsk institutt for luftforskning – NILU), dass im Zeitraum vom 12. bis zum 19. März etwa
35,8 PBq (Konfidenzintervall 23,3 – 50,1) Cäsium-137 durch
das Fukushima Atomkraftwerk Dai-ichi ausgestoßen wurden.13
Die JAEA jedoch schätzt die Ausstoßmenge von Cäsium-137 mit
13 PBq deutlich niedriger ein.14
Es erscheint angemessen, eine Metaanalyse aller vorliegenden
Quelltermberechnungen heranzuziehen. Die wohl umfassendste
Betrachtung der Emissionsabschätzungen stellt dabei die Über-
2. 1. Atmosphärische Emissionen
Der Rauch der vier größeren Explosionen und des Feuers im
Abklingbecken von Reaktor 4, das Verdampfen des Kühlwassers und das bewusste Entlüften der unter Druck stehenden
Reaktoren führten wiederholt zum Ausstoß radioaktiver Isotope
in die Atmosphäre. Über den Umfang dieser in der Fachliteratur
auch als ‚source term‘ (‚Quellterm‘) bezeichneten Gesamtemissionsmenge herrscht, ähnlich wie bei der Atomkatastrophe von
Tschernobyl, bis heute Dissens. Während Wissenschaftler unabhängiger Institutionen tendenziell höhere Werte errechneten,
zitieren die WHO oder der Wissenschaftliche Ausschuss der
Vereinten Nationen zur Untersuchung der Auswirkungen der
56
12 Terada H et al. „Atmospheric discharge and dispersion of radionuclides during the Fukushima Dai-ichi Nuclear Power Plant accident. Part II:
verification of the source term and analysis of regional-scale atmospheric
dispersion“. J Environ Radioact 2012 Oct; 112: 141–154. www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0265931X12001373.
13 Stohl A et al. „Xenon-133 and caesium-137 releases into the atmosphere from the Fukushima Dai-ichi nuclear power plant: determination of
the source term, atmospheric dispersion, and deposition“. Atmos. Chem.
Phys. Discuss. 11, Nr. 10 (20.10.11): 28319–28394.
14 Terada H et al. „Atmospheric discharge and dispersion of radionuclides during the Fukushima Dai-ichi Nuclear Power Plant accident. Part II:
verification of the source term and analysis of regional-scale atmospheric
dispersion“. J Environ Radioact 2012 Oct; 112: 141–154. www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0265931X12001373.
FOLGEN VON TSCHERNOBYL UND FUKUSHIMA
sichtsarbeit von Aliyu et al. vom September 2015 dar.15 Hier
werden die Angaben aus 14 verschiedenen wissenschaftlichen
Arbeiten verglichen und einer kritischen Analyse unterzogen.
Die Schätzungen der einzelnen Radioisotope werden dabei wie
folgt angegeben:
Radioisotop
Freigesetzte Menge
Quellen
Jod-131
150-160 PBq
Masson 2011
Cäsium-137
12-55 PBq
IRSN 2012,
Masson 2011,
Kantei 2011,
Stohl 2012
Strontium-90
0,01-0,14 PBq
Povinec 2012
Tabelle 2-1:
Abschätzungen atmosphärischer Emissionen durch die
Atomkatastrophe von Fukushima16, 17, 18, 19, 20, 21
Die Berechnung der Emissionsmengen ist für die Abschätzung
der Strahlendosis und somit für die Prognose zukünftig zu erwartender Gesundheitsfolgen höchst relevant. Es sollte selbstverständlich sein, dass zum Schutz der Öffentlichkeit die glaubhaftesten und verlässlichsten Daten herangezogen werden, da
das Ziel sein muss, Menschen vor den Folgen der Strahlung
adäquat zu schützen. Es ist daher nicht verständlich, weshalb
von Seiten der WHO oder UNSCEAR statt der Daten unabhängiger und neutraler Institutionen die niedrigst-möglichen Schätzungen herangezogen wurden. Verwunderlich ist zudem die
Beschränkung auf die Daten der JAEA, da gerade diese Institu-
15 Aliyu AS et al. „An overview of current knowledge concerning the
health and environmental consequences of the Fukushima Daiichi Nuclear
Power Plant (FDNPP) accident“. Environ. Internat. 85 (2015) 213-228.
http://cricket.biol.sc.edu/chernobyl/papers/Sadiq-et-al-EI-2015.pdf
16 Masson O et al. „Tracking of airborne radionuclides from the damaged
Fukushima Dai-Ichi nuclear reactors by European networks.“ Environ. Sci.
Technol. 45, 7670–7677. http://dx.doi.org/10.1021/es2017158.
17 IRSN, 2012. Fukushima, one year later. Initial Analyses of the Accident and Its Consequences. Institut de Radioprotection et de Surete Nucleaire
18 Masson, O et al. „Tracking of airborne radionuclides from the damaged Fukushima Dai-Ichi nuclear reactors by European networks.“ Environ.
Sci. Technol. 45, 7670–7677. http://dx.doi.org/10.1021/es2017158.
19 Report of Japanese Goverment to the IAEA Ministerial Conference on
Nuclear Safety – The Accident at TEPCO‘s Fukushima Nuclear Power
Plant“. June 2011. www.kantei.go.jp/foreign/kan/topics/201106/iaea_
houkokusho_e.html
20 Stohl A et al. „Xenon-133 and caesium-137 releases into the atmosphere from the Fukushima Dai-ichi nuclear power plant: determination of
the source term, atmospheric dispersion, and deposition“. Atmos. Chem.
Phys. Discuss. 11, Nr. 10 (20.10.11): 28319–28394.
21 Povinec PP et al. „Radiostrontium in the western North Pacific: characteristics, behavior, and the Fukushima impact“. Environ Sci Technol.
2012 Sep 18;46(18):10356-63. http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/22873743
tion im Zuge der Atomkatastrophe vom japanischen Parlament
beschuldigt wurde, durch Korruption, Kollusion und mangelnde
Sorgfalt zu den Ereignissen im Atomkraftwerk Fukushima Daiichi beigetragen zu haben. Sie als neutrale Quelle in diesem
Zusammenhang zu zitieren, verbietet sich somit von selbst.
Zudem gilt es zu beachten, dass sich sämtliche Schätzungen
der Emissionsmengen auf den Ausstoß während der ersten
Tage und Wochen der Atomkatastrophe beschränken, obwohl
bis heute täglich weiter Radioaktivität aus den Reaktoren austritt – vor allem durch Verdunstung von radioaktiv kontaminiertem Kühlwasser. An dieser Stelle muss zudem erwähnt
werden, dass zusätzlich zu den bekannten radioaktiven Stoffen
Jod-131, Cäsium-137 und Strontium-90 auch deren kurzlebigere Isotope Jod-133, Cäsium-134 und Strontium-89 freigesetzt wurden – im Fall von radioaktivem Cäsium beispielsweise
in einem Verhältnis von 1:1 Cäsium-134 zu Cäsium-137, so dass
die Angabe der freigesetzten Mengen Cäsium-137 nur die Hälfte der tatsächlich gesundheitsrelevanten Stoffe wiedergibt. Zusätzlich gelangten eine Vielzahl strahlender Partikel in die Atmosphäre, deren Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit
zum Teil noch nicht adäquat untersucht wurden. Laut Angaben
der japanischen Regierung wurden im Zuge der Atomkatastrophe relevante Mengen folgender Stoffe freigesetzt: Plutonium-239 und -240, Barium-140, Tellur-127m, Tellur-129m, Tellur-131m, Tellur-132, Ruthenium-103, Ruthenium-106,
Zirkonium-95, Cer-141, Cer-144, Neptunium-239, Yttrium-91,
Praseodynium-143, Neodymium-147, Curium-242, Jod-132,
Jod-135, Antimon-129, Molybdän-99 und Xenon-133.22 Diese
Stoffe wurden in die Emissionsschätzungen der JAEA nicht mit
einbezogen, obwohl sie zum Teil in Grundwasser-, Sedimentund Bodenproben in der Präfektur Fukushima gefunden wurden.23 Durch die Beschränkung auf die Daten der JAEA für die
Abschätzung der Emissionen laufen sowohl die Publikationen
der WHO als auch von UNSCEAR Gefahr, die gesundheitlichen
Folgen systematisch zu unterschätzen.
Abschließend ist neben der Gesamtmenge der einzelnen Radio­
isotope nicht zuletzt auch deren räumliche Verteilung von Relevanz. Studien griechischer und französischer Wissenschaftler
zufolge ereignete sich der Großteil des radioaktiven Niederschlags (ca. 76%) über dem Pazifischen Ozean und etwa 23%
über dem japanischen Festland. Infolge des radioaktiven Niederschlags über der Hauptinsel Honshu stieg die Ortsdosisleistung dort von durchschnittlich 0,05 mSv/h vor Beginn der
Atomkatastrophe auf das 10- bis 760-fache mit Werten zwi-
22 Nuclear Emergency Response Headquarters. „Report of Japanese
Government to the IAEA Ministerial Conference on Nuclear Safety – The
Accident at TEPCO’s Fukushima Nuclear Power Plant“, 07.06.11. www.
iaea.org/newscenter/focus/fukushima/japan-report/.
23 Zheng J et al. „Isotopic evidence of plutonium release into the environment from the Fukushima DNPP accident“. Sci. Rep. 2 (08.03.12).
doi:http://www.nature.com/srep/2012/120308/srep00304/full/
srep00304.html.
57
IPPNW REPORT
schen 0,5 und 38 mSv/h.24 Die restlichen 2 % der radioaktiven
Emissionen verteilten sich Analysen zufolge über Kanada (40
TBq), den USA (95 TBq), Grönland (5 TBq), dem Nordpol (69
TBq), Europa (14 TBq), vor allem Russland, Schweden und
Norwegen sowie anderen Teilen Asiens (47 TBq), vor allem
Russland, den Philippinen und Südkorea.25 Die Tatsache, dass
sich der Großteil des Niederschlags über dem Ozean ereignete,
ist zwar als Glücksfall für die Bewohner der umliegenden Präfekturen zu werten, bedeutet jedoch keineswegs, dass diese
Strahlenmengen keine Gefahr mehr für die menschliche Gesundheit darstellen, wie im folgenden Kapitel erörtert werden
soll.
2. 2. Emissionen in den Pazifischen Ozean
Die radioaktive Verseuchung des Pazifischen Ozeans vor der
japanischen Ostküste stellt den wohl schwerwiegendsten ökologischen Schaden der Atomkatastrophe von Fukushima dar.
Neben dem direkten radioaktiven Niederschlag über dem Meer
sind die anhaltenden Freisetzungen von kontaminiertem Wasser
aus den havarierten Atomreaktoren ein weiterer wichtiger Faktor
für die radioaktive Verseuchung des Pazifiks. Zur Kühlung der
Reaktoren werden seit fast drei Jahren kontinuierlich enorme
Wassermengen in die Reaktorgebäude gepumpt. Dadurch fallen täglich große Mengen von radioaktivem Abwasser an, die
seit Beginn der Katastrophe ununterbrochen ins Meer abgelassen werden, in Grundwasserdepots versickern oder in der Atmosphäre verdunsten. In der Frage nach der Gesamtmenge der
radioaktiven Verseuchung des Pazifiks geht die Forschungsgruppe von Kawamura et al. der Japanischen Atomenergie Organisation JAEA von insgesamt 124 PBq Jod-131 und 11 PBq
Cäsium-137 aus. Allerdings bezieht sich die Studie der JAEA
nur auf einen sehr engen Zeitraum zwischen dem 21. März und
6. April 2011. Bezüglich der radioaktiven Freisetzungen zwischen dem 11. und 21. März, also in den zehn Tagen direkt
nach den ersten Explosionen im Atomkraftwerk, schreibt der
Autor: „No direct release into the ocean was assumed before
March 21 because the monitoring data were not available
during this period.“ Ähnlich wird mit dem radioaktiven Niederschlag nach dem 6. April 2011 verfahren: „There is no information on the amounts released into the atmosphere from April 6.
It was
24 Aliyu AS et al. „An overview of current knowledge concerning the
health and environmental conseqences of the Fukszima Daiichi Nuclear
Power Plant (FDNPP) accident“. Environ. Internat. 85 (2015) 213-228.
http://cricket.biol.sc.edu/chernobyl/papers/Sadiq-et-al-EI-2015.pdf
25 Evangeliou N et al. „Global deposition and transport efficiencies of
radioactive species with respect to modelling credibility after Fukushima
(Japan, 2011)“. J Environ Radioact. 2015 Nov;149:164-75. http://www.
ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/26254209
58
assumed, therefore, that the radioactive materials were not released into the atmosphere from April 6.“26
Die andauernde radioaktive Kontamination des Ozeans wird
somit nicht berücksichtigt, obwohl selbst die Betreiberfirma
TEPCO zugibt, dass seit Beginn der Katastrophe täglich rund
300 Tonnen radioaktiv belastetes Abwasser ins Meer fließen.
Forscher der französischen Atombehörde IRSN schätzten immerhin, dass zwischen März und Juli 2011 eine Menge von
12-41 PBq Cäsium-137 in den Pazifik freigesetzt wurde.27 Die
Emissionen von Strontium-90, die ebenfalls in substantiellen
Mengen in den Ozean gelangt sein dürfte und eine mindestens
ebenso große Gefährdung der marinen Nahrungskette darstellt,
werden in den meisten Studien ebenfalls nicht berücksichtigt.
Eine Ausnahme bildet die Forschungsgruppe um Povinec der
Universität von Bratislava, die von einer Gesamtemissionsmenge von 0,1-2,2 PBq Strontium-90 in den Pazifik ausgeht.28
Radioisotop
Freigesetzte
Menge
Quellen
Jod-131
124 PBq
Kawamura 2011
Cäsium-137
12-41 PBq
Bailly du Bois 2012
Strontium-90
0,1-2,2 PBq
Povinec 2012
Tabelle 2-2:
Abschätzungen der Emissionen durch die Atomkatastrophe von
Fukushima in den Pazifik 29 30 31
26 Kawamura H et al. „Preliminary Numerical Experiments on Oceanic
Dispersion of 131I and 137Cs Discharged into the Ocean because of the
Fukushima Daiichi Nuclear Power Plant Disaster“. Journal of Nuclear Science and Technology, 01.11.11. www.tandfonline.com/doi/pdf/10.1080/1
8811248.2011.9711826.
27 Bailly du Bois P et al. „Estimation of marine source-term following
Fukushima Dai-ichi accident.“ J Environ Radioact. 2012 Dec;114:2-9.
http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/22172688
28 Povinec PP et al. „Radiostrontium in the western North Pacific: characteristics, behavior, and the Fukushima impact“. Environ Sci Technol.
2012 Sep 18;46(18):10356-63. http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/22873743
29 Kawamura H et al. „Preliminary Numerical Experiments on Oceanic
Dispersion of 131I and 137Cs Discharged into the Ocean because of the
Fukushima Daiichi Nuclear Power Plant Disaster“. Journal of Nuclear Science and Technology, 01.11.11. www.tandfonline.com/doi/pdf/10.1080/1
8811248.2011.9711826.
30 Bailly du Bois P et al. „Estimation of marine source-term following
Fukushima Dai-ichi accident.“ J Environ Radioact. 2012 Dec;114:2-9.
http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/22172688
31 Povinec PP et al. „Radiostrontium in the western North Pacific: characteristics, behavior, and the Fukushima impact“. Environ Sci Technol.
2012 Sep 18;46(18):10356-63. http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/22873743
FOLGEN VON TSCHERNOBYL UND FUKUSHIMA
Trotz dieser gravierenden Mängel in der Erfassung der Gesamtemissionsmenge in den Pazifik und der andauernden wissenschaftlichen Diskussion um die realistischsten Schätzungen
besteht international Konsens, dass die Atomkatastrophe von
Fukushima schon jetzt die schwerwiegendste radioaktive Verseuchung der Weltmeere aller Zeiten darstellt – neben den Folgen der oberirdischen Atomwaffentests, dem radioaktiven Niederschlag von Tschernobyl und den radioaktiven Emissionen
nuklearer Wiederaufbereitungsanlagen wie Sellafield und La
Hague.32 33 34
Messungen des Meerwassers in der Nähe des Atomkraftwerks
Fukushima, durchgeführt von der IAEO und der deutschen Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS), zeigten
Konzentrationen radioaktiven Jods von 130.000 Bq/l, und radioaktivem Cäsium von bis zu 63.000 Bq/l.35 36 37 Der „Normalwert“ von Casium-137 im oberflächlichen Meereswasser des
Nordpazifiks beträgt laut Woods Hole Oceanographic Institution
(WHOI) durchschnittlich 0,004 Bq/l, wobei auch diese Menge
nicht natürlichen Ursprungs ist, sondern strahlendes Erbe oberirdischer Atomwaffentests.38 Einen Normwert für Jod-131 im
Ozean gibt es aufgrund der geringen Halbwertszeit nicht – normales Meerwasser enthält kein Jod-131.
Die Meereskontamination hat direkte Auswirkungen auf die marine Flora und Fauna. Die Gewässer nordöstlich des Atomkraftwerks Fukushima zählten vor der Atomkatastrophe zu den wichtigsten Fischereigebieten der Welt. Etwa die Hälfte des
japanischen Fischfangs kam aus diesem Gebiet. Nun zeigen
Fische und andere Meerestiere, die vor den Präfekturen Fukushima und Ibaraki gefangen werden, zum Teil so stark erhöhte
Strahlenwerte, dass sie wie radioaktiver Abfall entsorgt werden
32 Institut de Radioprotection et de Sûreté Nucléaire (IRSN). „Synthèse
actualisée des connaissances relatives à l’impact sur le milieu marin des
rejets radioactifs du site nucléaire accidenté de Fukushima Dai-ichi“.
26.10.11. www.irsn.fr/fr/actualites_presse/actualites/documents/irsn-niimpact_accident_fukushima_sur_milieu_marin_26102011.pdf.
33 Woods Hole Oceanographic Institution (WHOI). „Researchers Assess
Radioactivity Released to the Ocean from the Fukushima Daiichi Nuclear
Power Facility“. 06.12.11. www.whoi.edu/page.do?pid=7545&tid=282&ci
d=123049&ct=162.
34 IAEA. „Worldwide marine radioactivity studies (WOMARS) – Radionuclide levels in oceans and seas“. Januar 2005. www-pub.iaea.org/MTCD/
publications/PDF/TE_1429_web.pdf.
35 IAEA. „Fukushima Nuclear Accident Update“. 31.03.11. www.iaea.
org/newscenter/news/2011/fukushima310311.html.
36 Weiss D. „Contamination of water, sediments and biota of the Northern Pacific coastal area the vicinity of the Fukushima NPP“. Gesellschaft
für Anlagen- und Reaktorsicherheit, 31.10.11. www.eurosafe-forum.org/
userfiles/2_2_%20paper_marine%20environment_Fukushima_20111031.
pdf.
37 Buesseler K et al. „Impacts of the Fukushima nuclear power plants on
marine radioactivity“. Environ Sci Technol. 2011 Dec 1;45(23):9931-5.
01.12.11. www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/22013920.
38 WHOI. „Radiation in the Ocean“. Center for Marine and Environmental Radiation, 2013. http://www.ourradioactiveocean.org/.
müssen.39 40 Die Kontamination des Pazifischen Ozeans wird
durch den anhaltenden Zufluss von radioaktiven Abwässern in
Zukunft zudem weiter steigen.
Von der Atomindustrie wird oft behauptet, der Verdünnungseffekt vermindere die Auswirkungen des ins Meer abgelassenen
radioaktiven Abfalls auf die Umwelt und die marine Nahrungskette. Es muss jedoch bedacht werden, dass die radioaktiven
Partikel durch Verdünnung nicht verschwinden, sondern sich
lediglich über ein größeres Gebiet verteilen. Dies ist aus zwei
Gründen gefährlich: Durch die Verbreitung radioaktiver Kontamination im Pazifischen Ozean sind mehr Menschen potentiell
betroffen, da es keine sichere Untergrenze für Radioaktivität
gibt.41 Sogar die kleinste Strahlendosis kann, mit Wasser oder
Nahrung aufgenommen, Krankheiten verursachen. Zweitens
kommt es im Zuge von Meeresbeben oder Stürmen zum Aufwirbeln sedimentierter langlebiger Radioisotope wie Cäsium-137
und Strontium-90, die immer wieder erneut über die trophische
Kaskade zu einer Ansammlung von Radioaktivität in Fischen
führen. In zahlreichen Planktonproben vor der Küste von Fukushima wurden bereits 2012 deutlich erhöhte Konzentrationen
von Cäsium-137 gemessen.42 Vom Plankton gelangt das radioaktive Cäsium-137 in kleinere Fische, die von größeren Fischen
gefressen werden, die wiederum auf den Fischmärkten rund
um den Pazifik landen.43 Insbesondere das knochenaffine
Strontium mit seiner langen biologischen Halbwertszeit, aber
auch die radioaktiven Isotope des Cäsiums stellen durch Bioakkumulation in der marinen Nahrungskette somit eine Gefährdung auch für die Bevölkerung der Anrainerstaaten sowie für
alle potentiellen Konsumenten von Algen, Meeresfrüchten und
Fisch aus den betroffenen Gebieten dar. Besonders in einem
Land wie Japan, in dem diese Nahrungsmittel einen großen Teil
der Ernährung ausmachen, ist die langfristige radioaktive Kontamination von Meerestieren und Algen ein relevanter Faktor,
wie im folgenden Kapitel näher erläutert werden soll.
39 Weiss D. „Contamination of water, sediments and biota of the Nor­
thern Pacific coastal area the vicinity of the Fukushima NPP“. Gesellschaft
für Anlagen- und Reaktorsicherheit, 31.10.11. www.eurosafe-forum.org/
userfiles/2_2_%20paper_marine%20environment_Fukushima_20111031.
pdf.
40 Japanese Ministry of Agriculture, Forestry and Fisheries (MAFF). „Results of the emergency monitoring inspections – provisional translation“.
13.04.11. www.jfa.maff.go.jp/e/inspection/pdf/20110413_fukushima_kounago_en.pdf.
41 National Academy of Sciences Advisory Committee on the Biological
Effects of Ionizing Radiation (BEIR). „BEIR VII report, phase 2: Health risks
from exposure to low levels of ionizing radiation“. 2006. www.nap.edu/
openbook.php?record_id=11340&page=8.
42 Aliyu AS et al. „An overview of current knowledge concerning the
health and environmental conseqences of the Fukszima Daiichi Nuclear
Power Plant (FDNPP) accident“. Environ. Internat. 85 (2015) 213-228.
http://cricket.biol.sc.edu/chernobyl/papers/Sadiq-et-al-EI-2015.pdf
43 Buesseler KO et al. „Fukushima-derived radionuclides in the ocean
and biota off Japan.“ Proc. Natl. Acad. Sci. USA 109, 5984-5988. www.
pnas.org/content/109/16/5984.full.pdf
59
IPPNW REPORT
Säuglingsnahrung
und Milchprodukte
Andere Nahrungsmittel
Japan
50 Bq/kg
100 Bq/kg
EU
370 Bq/kg
600 Bq/kg
2. 3. Radioaktive Kontamination von
Lebensmitteln
Neben der Gesamtmenge der Emissionen spielt die radioaktive
Kontamination von Nahrungsmitteln und Trinkwasser eine bedeutende Rolle bei der Gesamtstrahlenlast, der eine Person
infolge einer Atomkatastrophe ausgesetzt ist. Wie bereits erwähnt, gibt es keinen „sicheren Grenzwert“ für Radioaktivität
bei Nahrungsmitteln und Trinkwasser. Potentiell können sogar
geringste Mengen zu Zellschäden, zur Mutationen des Erbguts
und zur Krebsentstehung führen.44 Laut Schätzungen der Gesellschaft für Reaktorsicherheit (GRS) wird eine Person durch
die Aufnahme natürlicher Radionuklide in Nahrungsmitteln und
Trinkwasser normalerweise ungefähr 0,3 mSv an interner Strahlung pro Jahr ausgesetzt. Um übermäßigen Gesundheitsrisiken
vorzubeugen, kann dieser Wert als „akzeptabler Richtwert“ für
die Strahlenbelastung durch Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme betrachtet werden. Um dieses Niveau nicht zu überschreiten, sollte die Menge an Cäsium-137 8 Bq/kg in Milch und Babynahrung sowie 16 Bq/kg in allen anderen Nahrungsmitteln
nicht übersteigen. Radioaktives Jod, mit seiner kurzen Halbwertszeit, sollte in Lebensmitteln überhaupt nicht auftauchen.
In Japan beträgt das zugelassene Niveau von radioaktivem Cäsium-137 allerdings 50 Bq/kg in Milch und Babynahrung und
100 Bq/kg in allen anderen Nahrungsmitteln. Für radioaktives
Jod-131 beträgt das zugelassene Niveau 100 Bq/kg für Säuglingsnahrung, 300 Bq/kg für Milch und andere Flüssigkeiten
und 2.000 Bq/kg für feste Lebensmittel.45 Damit sind die japanischen Grenzwerte zwar strenger als die der Europäischen
Union (siehe Tabellen), aber weiterhin nicht niedrig genug, um
übermäßige Gesundheitsrisiken wirksam zu verhindern.
Forderung der 8 Bq/kg
IPPNW
16 Bq/kg
Tabelle 2-3:
Grenzwerte für radioaktives Cäsium (Cs-134/Cs-137)46
Säuglingsnahrung
Milch und
Feste NahFlüssigkeiten rungsmittel
Japan
100 Bq/kg
300 Bq/kg
2.000 Bq/kg
EU
150 Bq/kg
500 Bq/kg
2.000 Bq/kg
Forderung
der IPPNW
0 Bq/kg
0 Bq/kg
0 Bq/kg
Tabelle 2-4:
Grenzwerte für radioaktives Jod (v.a. I-131)47
Die Kernschmelzen von Fukushima verursachten vor allem in
den ersten Monaten eine bedeutende Verseuchung von Nahrungsmitteln und Trinkwasser. Laut IAEO ergaben eine Woche
nach dem Erdbeben nahezu alle Gemüse- und Milchproben in
den Präfekturen Ibaraki und Fukushima Werte von Jod-131 und
Cäsium-137, die die japanischen Grenzwerte für Radioaktivität
in Nahrungsmittels übertrafen.48 In den Monaten nach der Katastrophe wurden immer wieder sehr hohe Kontaminationen in
Lebensmitteln gefunden:
»» Obst und Gemüse: Außerhalb der Evakuierungszone in
der Präfektur Fukushima fand sich in der Untersuchung
des japanischen Wissenschaftsministeriums (MEXT) eine
Woche nach dem Erdbeben verseuchtes Gemüse in den
Gemeinden Iitate, Kawamata, Tamura, Ono, Minamisoma, Iwaki, Date, Nihonmatsu, Shirakawa, Sukagawa,
Ootama, Izumizaki und Saigou, einige mit Konzentrationen von Jod-131 in Höhe von 2.540.000 Bq/kg und
von Cäsium-137 in Höhe von 2.650.000 Bq/kg. Einen
Monat nach den Kernschmelzen wurden in einigen Regionen nach wie vor Jod-131 Konzentrationen über
44 National Academy of Sciences Advisory Committee on the Biological
Effects of Ionizing Radiation (BEIR). „BEIR VII report, phase 2: Health risks
from exposure to low levels of ionizing radiation“. 2006. www.nap.edu/
openbook.php?record_id=11340&page=8
45 Foodwatch. Kalkulierter Strahlentod“. 20.09.11. www.foodwatch.org/
uploads/tx_abdownloads/files/foodwatch_report_kalkulierterStrahlentod_20110920.pdf
60
46 Foodwatch. „Strahlen-Grenzwerte für Lebensmittel“. 23.10.2012.
https://www.foodwatch.org/de/informieren/strahlenbelastung/mehr-zumthema/eu-grenzwerte
47 Foodwatch. „Strahlen-Grenzwerte für Lebensmittel“. 23.10.2012. https://www.foodwatch.org/de/informieren/strahlenbelastung/mehr-zumthema/eu-grenzwerte
48 IAEA. „Fukushima Nuclear Accident Update“, 24.03.11. www.iaea.
org/newscenter/news/2011/fukushima240311.html
FOLGEN VON TSCHERNOBYL UND FUKUSHIMA
100.000 Bq/kg und Cäsium-137 Konzentrationen über
900.000 Bq/kg festgestellt.49 In der Präfektur Ibaraki, ca.
100 km südlich des Atomkraftwerks von Fukushima,
fand die Regierung Spinat mit Konzentrationen von radioaktivem Jod bis zu 54.100 Bq/kg und radioaktivem Cäsium bis zu 1.931 Bq/kg. Neben Spinat enthielten andere Gemüseproben ebenfalls Radioisotope, vor allem
Senfpflanzen mit 1.200 Bq/kg Jod-131, Petersilie mit
12.000 Bq/kg Jod-131 und 110 Bq/kg Cäsium-137 und
Schiitake-Pilze mit 8.000 Bq/kg Cäsium-137. Geringere
Radioaktivität wurde im Salat, in Zwiebeln, Tomaten, Erdbeeren, Weizen und Gerste gefunden.50
»» Milch: In den Wochen nach Beginn der Katastrophe
warnte selbst die IAEO vor dem Verzehr von Milch aus
der Präfektur Fukushima, da sie gefährliche Mengen von
radioaktivem Jod-131 und Cäsium-137 enthielt.51
»» Rindfleisch: Der Rindfleischvertrieb musste für einige
Zeit beschränkt werden, da die radioaktiven Isotope in
Rindfleisch aus den Präfekturen Fukushima, Toshigi, Miyagi, Iwate die zulässigen Grenzwerte überschritten.52
»» Reis: Laut der Präfekturregierung Fukushimas wurde im
Bezirk Onami und in der Stadt Date verseuchter Reis mit
Cäsiumkonzentrationen bis zu 1.050 Bq/kg gefunden.53
Bis heute überschreitet Reis aus Fukushima in Stichproben immer wieder die gesetzlich festgelegten Grenzwerte.54 Gerüchte, dass kontaminierter Reis mit unkontaminiertem so lange gemischt wird, bis die Grenzwerte
erreicht werden, konnten bislang nicht ausgeräumt werden.
Saitama gesammelt wurden.55 Sogar in nördlichen Bezirken Tokios enthielt Leitungswasser zwischenzeitlich bis
zu 210 Bq/l Jod-131, so dass auch hier vor der Verwendung als Trinkwasser gewarnt wurde.56
»» Fisch und Meeresfrüchte: In Fischen und Meeresfrüchten, die in der Nähe des Atomkraftwerks Fukushima Daiichi gefangen wurden, findet man bis heute erhöhte Cäsium-Konzentrationen von mehr als 10.000 Bq/kg – in
Extremfällen sogar bis zu 740.000 Bq/kg.57 58 59 60
»» Tee: Nach Aussage der Präfekturregierung von Shizuoka
»» Trinkwasser: Die IAEO warnte im Frühjahr 2011, dass die
wurden ca. 400 Kilometer von Fukushima entfernt Teeblätter gefunden, die mit 679 Bq/kg radioaktivem Cäsium-137 verseucht waren. Im Juni 2011 wurde aus Japan
stammender, radioaktiv belasteter Grüner Tee in Frankreich entdeckt.61
49 Ministry of Education, Culture, Sports, Science and Technology
(MEXT). „Important Information from Japanese Government, Readings of
Dust Sampling“. 18.04.11. http://eq.wide.ad.jp/files_en/110418dust_1000_
en.pdf
50 Ibaraki Prefectural Government. „Ibaraki Prefecture Agricultural Products Test Results“. 08.08.11. www.pref.ibaraki.jp/bukyoku/seikan/kokuko/en/links/agriculture_radiation.html
51 IAEA. „Fukushima Nuclear Accident Update“. 20.03.11. www.iaea.
org/newscenter/news/2011/fukushima200311.html
52 TEPCO. „Current Status of Fukushima Daiichi Nuclear Power Station“.
27.01.12. www.tepco.co.jp/en/nu/fukushima-np/f1/images/f12npgaiyou_e_3.pdf
53 Japanese Atomic Information Forum (JAIF). „Cesium detected from
more Fukushima rice“. Earthquake Report No. 276, 29.11.11. www.jaif.
or.jp/english/news_images/pdf/ENGNEWS01_1322541949P.pdf
54 Ministry of Health, Labour and Welfare. „Emergency monitoring test
results“. Juli 2015. http://www.mhlw.go.jp/file/04-Houdouhappyou11135000-Shokuhinanzenbu-Kanshianzenka/0000091483.pdf
55 IAEA. „Fukushima Nuclear Accident Update“, 20.03.11. www.iaea.
org/newscenter/news/2011/fukushima200311.html
56 „Regarding the Limitation of Tap Water for Infants to Intake – Disaster
Information 65th – Translation Edition“. Multilingual Support Center for the
Tohoku Earthquake out at Pacific Ocean, 23.03.11. http://eqinfojp.
net/?p=2999
57 Weiss D. „Contamination of water, sediments and biota of the Northern Pacific coastal area the vicinity of the Fukushima NPP“. Gesellschaft
für Anlagen- und Reaktorsicherheit, 31.10.11. www.eurosafe-forum.org/
userfiles/2_2_%20paper_marine%20environment_Fukushima_20111031.
pdf
58 TEPCO. „Nuclide Analysis results of seafood, 20 km from Fukushima
Daiichi nuclear power plant“. 15.03.13. http://www.tepco.co.jp/nu/fukushima-np/f1/smp/2013/images/fish_130315-j.pdf
59 World Health Organzation (WHO). „Preliminary dose estimation from
the nuclear accident after the 2011 Great East Japan Earthquake and
Tsunami“. 23.03.12. http://www.who.int/ionizing_radiation/pub_meet/fukushima_dose_assessment/en
60 TEPCO. „Analyzed result of nuclide in fish – Port in Fukushima Daiichi
NPS“. 18.08.15. http://w w w.tepco.co.jp/en/nu/fukushima-np/f1/
smp/2015/images/fish01_150818-e.pdf
61 Shizuoka Prefectural Government, „Test Results for Radioactivity on
Tea Produced in Shizuoka Prefecture“.
Grenzwerte von Jod-131 in Trinkwasserproben überschritten wurden, die vom 17. bis 23. März in den Präfekturen Fukushima, Ibaraki, Tochigi, Gunma, Chiba und
61
IPPNW REPORT
Abbildung 2-3:
Verlauf radioaktiver Kontamination von Nahrungsmitteln 2011/201262
Die Graphik 9-3 aus der Fachzeitschrift Nature zeigt die Anzahl
grenzwertüberschreitender Nahtungsmittelproben und veranschaulicht den Verlauf der radioaktiven Kontamination ausgewählter Nahrungsmittel im Jahr nach den atomaren Kernschmelzen.
Durch Handelsrestriktionen und präventive Maßnahmen konnte die radioaktive Belastung der meisten Nahrungsmittel in Japan schrittweise reduziert werden, wobei auch der natürliche
radioaktive Zerfall eine nicht unerhebliche Rolle gespielt hat.
Ausnahmen bilden weiterhin Fische, Meeresfrüchte, Wild,
Waldfrüchte und selbst angebaute Feldfrüchte aus den verstrahlten Gebieten. Dennoch kam es vor allem im ersten Jahr
nach Beginn der Katastrophe zu relevanten Aufnahmen von
Radioaktivität mit Nahrung und Trinkwasser. Eine wissenschaftliche Abschätzung der individuell und kollektiv erhaltenen
Strahlendosis durch kontaminierte Nahrungsmittel wäre für die
Gesamtabschätzung des Erkrankungsrisikos der betroffenen
Bevölkerung dringend notwendig.
Die WHO und UNSCEAR, deren Aufgabe dies eigentlich sein
sollte, beziehen sich in ihren Berichten aber ausschließlich auf
die Nahrungsmitteldatenbank der IAEO – einer Organisation,
die mit dem Ziel gegründet wurde, „sichere und friedliche
Atomtechnologien zu fördern“ und „den Beitrag der Atomenergie für Frieden, Gesundheit und Wohlstand weltweit zu be-
62 Gibney E. „Fukushima Data show rise and fall in food radioactivity.“
Nature, 27.02.15. http://www.nature.com/news/fukushima-data-show-rise-and-fall-in-food-radioactivity-1.17016
62
schleunigen und zu vergrößern“.63 Die Verantwortlichen in der
IAEO werden von nationalen Atomorganisationen bestimmt, so
dass die IAEO einen profunden Interessenskonflikt bei der Beurteilung der Folgen von Atomkatastrophen hat. Die IAEO-Datenbank verzeichnet für das erste Jahr der Atomkatastrophe
125.826 Nahrungsmittelstichproben, von denen allerdings 2/3
(66,9 %) ausschließlich Rindfleischproben sind.64 Die übrigen
rund 40.000 Proben werden zwar grob nach Monat und Lokalität eingeteilt, können jedoch kaum als repräsentativ für die
großen Mengen an Nahrungsmitteln angesehen werden, die in
den verstrahlten Gebieten verzehrt wurden.
Wenn in ganz Japan, einem Land mit einer Bevölkerung von
mehr als 120 Millionen Menschen, im Monat nur 6 bis 81 Eier
getestet werden, dann kann man hieraus keine aussagekräftigen Rückschlüsse über die Gesamtbelastung aller Eier im Land
ziehen. Dasselbe gilt für die gerade einmal 11 Süßwasserfischproben oder die 63 Saftproben, die im Laufe des ersten Jahres
der Atomkatastrophe von der IAEO ausgewertet wurden. Von
den rund 135 radioaktiven Isotopen wurden die Nahrungsmittelproben zudem ausschließlich auf Jod-131, Cäsium-134 und
Cäsium-137 getestet. Das gesundheitlich besonders bedenkliche Strontium-90 wurde dabei ignoriert. Auch ist weiterhin
völlig unklar, ob diese Proben in hoch-, mittel- oder niedrig kon-
63 IAEA, „Atoms for Peace“, 1957, www.iaea.org/About
64 UNSCEAR. „2013 Report, Annex A – Levels and effects of radiation
exposure due to the nuclear accident after the 2011 great East-Japan
earthquake and tsunami – Attachment C-8: FAO/IAEA food database“. July
2014. http://www.unscear.org/docs/reports/2013/UNSCEAR_2013A_C-8_
FAO_IAEA_food_database_2014-07.pdf
FOLGEN VON TSCHERNOBYL UND FUKUSHIMA
taminierten Gebieten gesammelt wurden. Die oben aufgeführten Nahrungsmittelstichproben, die von den japanischen
Behörden getestet wurden, übersteigen die Proben der IAEODatenbank hinsichtlich der radioaktiven Belastung um ein Vielfaches. Die folgende Tabelle zeigt die maximalen Messwerte
von Gemüseproben in der IAEO-Datenbank (hier zitiert aus dem
WHO-Bericht zu Fukushima von 2012)65 und vergleichbare Proben des japanischen Wissenschaftsministeriums MEXT.66 Eine
Erklärung, weshalb diese Proben nicht in die Datenbank der
IAEO aufgenommen wurden, bleiben sowohl die IAEO als auch
die WHO schuldig.
Radioisotope
WHO/IAEO
MEXT
Jod-131
54.100 Bq/kg
2.540.000 Bq/kg
Cäsium-131
41.000 Bq/kg
2.650.000 Bq/kg
Die Prognose gesundheitlicher Folgen kann nur so genau sein
wie die Daten, auf denen eine solche Berechnung basiert. Art
und Umfang der Auswahl von Nahrungsmittelproben beeinflussen die Höhe der Strahlendosiswerte und somit die Prognose
etwaiger Gesundheitsfolgen. Daten, deren Glaubhaftigkeit durch
selektive Stichproben, Vernachlässigung unabhängiger Quellen
und den Vorwurf des politischen Missbrauchs massiv eingeschränkt ist, eignen sich weder für die Berechnung gesundheitlicher Folgen noch als Grundlage für öffentliche Gesundheitsempfehlungen. Eine wissenschaftlich haltbare Abschätzung der
individuellen und kollektiven Strahlendosis durch Aufnahme
kontaminierter Nahrungsmittel ist in Japan daher bis heute
nicht möglich – und politisch wohl auch nicht gewünscht.
Tabelle 2-5:
Differenz der maximalen Messwerte von Gemüseproben
65 WHO. „Preliminary dose estimation from the nuclear accident after
the 2011 Great East Japan Earthquake and Tsunami“. 23.03.12, S.106,
Tabelle A8.2. http://whqlibdoc.who.int/publications/2012/9789241503662
_eng.pdf
66 MEXT. „Important Information from Japanese Government, Readings
of Dust Sampling“. 18.04.11. http://eq.wide.ad.jp/files_en/110418dust
_1000_en.pdf
63
IPPNW REPORT
3. Auswirkungen der Atomkatastrophe
auf die menschliche Gesundheit
Ionisierende Strahlung ist seit langem als krebserregender Faktor bekannt.1 Beruflich strahlenexponierte Arbeiter erkranken
signifikant häufiger als nicht exponierte, selbst wenn die offiziellen Dosisgrenzwerte eingehalten werden. Eine Metaanalyse
von Daten aus 15 Ländern aus dem Jahr 2007 konnte zeigen,
dass bei strahlenexponierten Menschen ein signifikanter Zusammenhang zwischen Strahlendosis und Krebsrate besteht,
ohne dass eine untere Schwellendosis erkennbar ist.2 Auch der
BEIR VI- Bericht des Beratungskomitees der US-Akademie der
Wissenschaften zu den Biologischen Effekten von Ionisierender
Strahlung geht nicht von einer unteren Schwellendosis aus und
besagt, dass selbst die geringste Strahlung potentiell gefährliche
Gewebeschäden und genetische Mutationen verursachen
kann. Die Exposition einer großen Bevölkerungsgruppe mit
niedrigen Strahlendosen kann daher einen ähnlich hohen Effekt
haben wie die Exposition einer kleinen Bevölkerungsgruppe mit
einer hohen Strahlendosis. Das Dosis-Risiko-Modell des BEIRVII Berichts besagt, dass die Exposition einer Bevölkerung von
100.000 Menschen mit durchschnittlich 1 mSv dazu führen
würde, dass im Schnitt 20 Menschen (Konfidenzintervall 9 bis
35) eine Krebserkrankung entwickeln. Dieselbe Zahl an Krebsfällen wäre zu erwarten, wenn 1.000 Menschen mit durchschnittlich 100 mSv verstrahlt würden. In beiden Fällen wird ein
Risikofaktor von 0,2 pro Personen-Sievert für die Krebsinzidenz
angenommen (Konfidenzintervall 0,09-0,35).3 Auch die WHO
geht in ihrem Fukushima-Bericht von 2013 mittlerweile von
1 WHO. „Cancer prevention“. www.who.int/cancer/prevention/en
2 Cardis E et al. „The 15-Country Collaborative Study of Cancer Risk
among Radiation Workers in the Nuclear Industry: estimates of radiationrelated cancer risks“. Radiat Res. 2007 Apr;167(4):396-416, April 2007.
www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/17388693
3 National Academy of Sciences Advisory Committee on the Biological
Effects of Ionizing Radiation (BEIR). „BEIR VII report, phase 2: Health risks
from exposure to low levels of ionizing radiation“. 2006, S. 279, Tabelle
12.5. www.nap.edu/openbook.php?record_id=11340&page=8
64
einem Risikofaktor von 0,2/PSv für die Krebsinzidenz aus.4 Der
Risikofaktor für Mortalität ist dabei etwa halb so groß (0,1/PSv,
Konfidenzintervall 0,05-0,19).
Bezieht man dieses Modell auf die Situation in Japan nach der
Atomkatastrophe von Fukushima, so ergibt sich folgendes Bild:
Die höchsten Strahlendosen werden vermutlich Arbeiter auf
dem Kraftwerksgelände erhalten haben. Hierbei handelt es sich
jedoch um eine relativ kleine Gruppe. Niedrig dosierte Strahlung
allerdings betrifft durch den radioaktiven Niederschlag, die kontinuierliche Verstrahlung des Ozeans und die Kontamination von
Wasser und Nahrungsmitteln einen enorm großen Anteil der
japanischen Bevölkerung, vor allem die Bewohner der am
schwersten kontaminierten Präfekturen. Doch auch die Einwohner der Metropolregion Tokio sind betroffen sowie Konsumenten
im ganzen Land, die Produkte mit erhöhten Strahlendosen verzehren. Diese radioaktive Belastung wird die Bevölkerung zum
Teil über sehr lange Zeit beeinflussen – Strontium-90 oder Cäsium-137 haben physikalische Halbwertzeiten von 28 bzw. 30
Jahren und werden erst in etwa 300 Jahren auf ein akzeptables
Maß zerfallen sein.
Die chronische Belastung großer Bevölkerungsteile mit Niedrigdosisstrahlung stellt in den kommenden Jahrzehnten gesundheitspolitisch die größte Herausforderung dar. Eine Krebserkrankung trägt kein Herkunftssiegel, sodass ein individueller
Krankheitsfall nie kausal auf ein bestimmtes Ereignis zurückgeführt werden kann. Auch hat Japan eine relative hohe Grundlast
an „natürlich“ vorkommenden Krebserkrankungen – ca. jeder
zweite Mensch erkrankt im Laufe seines Lebens an Krebs. Dennoch ist es möglich, mit entsprechend angelegten epidemiolo-
4 WHO. „Global report on Fukushima nuclear accident details health
risks“. 28.02.13. www.who.int/mediac entre/news/releases/2013/fukushima_report_20130228/en/index.html
FOLGEN VON TSCHERNOBYL UND FUKUSHIMA
gischen Studien die Zahl der zusätzlichen, strahleninduzierten
Krebserkrankungen aus dem „Hintergrundrauschen“ der natürlichen Krebsinzidenz hervorzuheben und nachzuweisen. Die
deutsche-KiKK Studie, die einen signifikanten Anstieg von Kinderkrebsfällen rund um deutsche Atomkraftwerke nachwies,
hat dies anschaulich zeigen können.5 Solche Untersuchungen
liegen jedoch nicht im Interesse der japanischen Behörden und
der mächtigen Atomlobby. Daher behaupten ihre Organisationen auch, dass „kein erkennbarer Anstieg von Krebserkrankungen in der betroffenen Bevölkerung zu erwarten sei, der mit
der Strahlenexposition in Verbindung gebracht werden kann.“6
In den folgenden zwei Kapiteln soll diese Behauptung anhand
der zwei betroffenen Gruppen kritisch hinterfragt werden: der
beruflich exponierten Arbeiter und der Allgemeinbevölkerung.
Anschließend wird dann noch einmal separat auf die Ergebnisse der laufenden Schilddrüsenkrebs-Studien der Medizinischen Universität Fukushima eingegangen werden, da dies
bisher die einzige Studie ist, in der tatsächlich Krebsfälle nachweisbar mit der Atomkatastrophe von Fukushima in Verbindung
gebracht werden können.
3. 1. Gesundheitliche Auswirkungen auf die
Arbeiter
Die wohl höchsten Strahlendosen erhielten in Fukushima, ähnlich wie in Tschernobyl, die KraftwerksmitarbeiterInnen und
Rettungskräfte. Die AutorInnen des UNSCEAR-Berichts zu
Fukushima vom Herbst 2013 geben an, dass seit Beginn der
Atomkatastrophe ca. 25.000 Menschen auf dem Gelände des
Atomkraftwerks Fukushima Dai-ichi tätig gewesen seien.7 Nur
etwa 15% dieser Arbeiter waren direkt bei TEPCO angestellt,
der Rest setzte sich aus Leiharbeitern, Volontären und Mitarbeitern von Subunternehmen zusammen, denen in der Regel die
nötige Ausbildung für die Arbeit mit radioaktiven Gefahrstoffen
fehlte und die größtenteils unvorbereitet und inadäquat ausgerüstet in die Einsätze im Katastrophengebiet geschickt wurden.
Die WHO rechnet in ihrem Bericht vom Februar 2013 mit
23.172 ArbeiterInnen:
»» Etwa 67% von ihnen, also ca. 15.500, seien während
des ersten Jahres der Atomkatastrophe (März 2011-April
2012) Strahlendosen von etwa 5 mSv ausgesetzt gewe-
5 Kaatsch P et al. „Leukaemia in young children living in the vicinity of
German nuclear power plants“. Int J Cancer. 1220:721-726, 2008. www.
rachel.org/lib/leukemias_near_german_nukes.080215.pdf
6 UNSCEAR. „Report of the United Nations Scientific Committee on the
Effects of Atomic Radiation – Sixtieth session“. UN General Assembly Official Records, 68th session, supplement No. 46, 27.05.13. www.un.org/
Docs/journal/asp/ws.asp?m=A/68/46
7 UNSCEAR. „Report of the United Nations Scientific Committee on the
Effects of Atomic Radiation – Sixtieth session“. UN General Assembly Official Records, 68th session, supplement No. 46, 27.05.13. www.un.org/
Docs/journal/asp/ws.asp?m=A/68/46
sen.8 Gemäß gängiger WHO-Risikomodelle (Risikofaktor
für Krebsinzidenz 0,2/PSv mit einem Konfidenzintervall
von 0,09-0,35/PSv) muss davon ausgegangen werden,
dass es in dieser Gruppe aufgrund der Strahlenbelastung
durch den Einsatz auf dem Kraftwerksgelände während
des ersten Jahres der Atomkatastrophe zu ca. 15 (KI
7-27) zusätzlichen Krebsfällen kommt, etwa zur Hälfte
mit tödlichem Verlauf. Das zusätzliche Risiko des einzelnen Arbeiters, durch die Strahlenbelastung an Krebs zu
erkranken, beträgt also ca. 0,1 % (KI 0,05-0,17 %).
»» 33%, also ca. 7.600 Arbeiter, seien während des ersten
Jahres der Atomkatastrophe Strahlendosen von etwa 30
mSv ausgesetzt gewesen. Es muss angenommen werden, dass es in dieser Gruppe aufgrund der radioaktiven
Strahlenbelastung durch den Einsatz auf dem Kraftwerksgelände während des ersten Jahres der Atomkatastrophe zu ca. 46 (KI 20-80) zusätzlichen Krebsfällen
kommt, etwa die Hälfte von diesen tödlich verlaufend.
Das zusätzliche Risiko des einzelnen Arbeiters dieser
Gruppe, durch die Strahlenbelastung an Krebs zu erkranken beträgt also ca. 0,6% (CI 0,3-1,0 %).
»» 75 Arbeiter seien laut WHO Strahlendosen zwischen 100
und 199 mSv ausgesetzt gewesen. Da keine Individualdosiswerte veröffentlicht wurden, kann für diese Gruppe
nur ein grober Schätzwert bezüglich der zu erwartenden
Krebserkrankungen angegeben werden. Es dürften jedoch zwischen 1 und 5 zusätzliche Krebsfälle in dieser
Population zu erwarten sein. Das zusätzliche Risiko dieser Arbeiter, an Krebs zu erkranken, beträgt je nach
Strahlenbelastung zwischen 1 und 7%.
»» 12 Arbeiter seien laut WHO inneren Strahlendosen von
100-590 mSv sowie zusätzlich etwa 100 mSv externer
Strahlung ausgesetzt. Da ebenfalls keine Individualdosiswerte veröffentlicht wurden, kann für diese Gruppe wieder nur ein grober Schätzwert bezüglich der zu erwartenden Krebserkrankungen angegeben werden. Es
dürften zwischen 0 und 3 zusätzliche Krebsfälle in dieser
Population zu erwarten sein. Das zusätzliche Risiko dieser Arbeiter, durch die Strahlenbelastung an Krebs zu
erkranken, beträgt je nach Strahlenbelastung zwischen 0
und 25%.
Insgesamt lässt sich somit durch die WHO-Daten abschätzen,
dass von den 23.172 Arbeitern, die während des ersten Jahres
auf dem Kraftwerksgelände tätig waren, 28-115 aufgrund ihrer
Arbeit eine Krebserkrankung entwickeln werden und 14-58 an
einer Krebserkrankung infolge der Strahlenexposition versterben werden.
8 WHO. „Global report on Fukushima nuclear accident details health
risks“. 28.02.13. www.who.int/mediac entre/news/releases/2013/fukushima_report_20130228/en/index.html
65
IPPNW REPORT
Es muss bei all diesen Schätzungen jedoch betont werden,
dass es sich bei den zugrunde liegenden Zahlen zum einen
über vorläufige Daten lediglich aus dem ersten Jahr der Atomkatastrophe handelt, zum anderen, dass diese Zahlen durchaus
umstritten sind:
»» Kurzlebige Radioisotope wie Jod-132 und Jod-133 wur-
den bei den Schätzungen nicht berücksichtigt, so dass
sogar UNSCEAR angibt, dass die interne Strahlenbelastung wohl um etwa 20% nach oben korrigiert werden
muss.9
»» Doch selbst diese korrigierten Dosisangaben stellen laut
Angaben von UNSCEAR systematische Unterschätzungen dar, da ein Großteil der Strahlung zum Zeitpunkt
der Messung wegen des raschen Zerfalls von Jod-131
bereits nicht mehr nachweisbar gewesen sein dürfte.10
»» Zudem ist zu kritisieren, dass sich Organisationen wie die
WHO oder UNSCEAR ausschließlich auf die Daten beschränken, die ihnen von TEPCO zur Verfügung gestellt
werden. Dabei ist lange bekannt, dass Mitarbeiter mehrerer Subunternehmen in den offiziellen Zahlenwerken
des Kraftwerkbetreibers nicht aufgeführt werden, ihre
Daten vermutlich nie erhoben wurden.11 12
»» Einige Arbeiter beklagen, dass sie niemals medizinischen
Untersuchungen unterzogen wurden. Berichte über fehlende oder schadhafte Strahlenmessgeräte, bewusste
Manipulation von Dosimetern (beispielsweise durch Abdeckung mit Bleischutzhüllen) und gefälschte Messergebnisse lassen zusätzlich an der Glaubhaftigkeit der
TEPCO-Daten zweifeln.13 14 15
9 UNSCEAR. „Report of the United Nations Scientific Committee on the
Effects of Atomic Radiation – Sixtieth session“. UN General Assembly Official Records, 68th session, supplement No. 46, 27.05.13. www.un.org/
Docs/journal/asp/ws.asp?m=A/68/46
10 UNSCEAR. „Report of the United Nations Scientific Committee on the
Effects of Atomic Radiation – Sixtieth session“. UN General Assembly Official Records, 68th session, supplement No. 46, 27.05.13. www.un.org/
Docs/journal/asp/ws.asp?m=A/68/46
11 Hackenbroch V et al. „A Hapless Fukushima Clean-Up Effort“. Der
Spiegel, 05.04.11. www.spiegel.de/international/world/a-haplessfukushima-clean-up-effort-we-need-every-piece-of-wisdom-we-canget-a-754868-2.html
12 Sato J , Tada T. „TEPCO fails to submit dose data on 21,000 Fukushima plant workers“. The Asahi Shimbun, 28.02.13. http://ajw.asahi.com/
article/0311disaster/fukushima/AJ201302280086
13 Sato J et al. „TEPCO subcontractor used lead to fake dosimeter readings at Fukushima plant“. The Asahi Shimbun, 21.07.12. http://ajw.asahi.
com/article/0311disaster/fukushima/AJ201207210069
14 McCurry J. „Life as a Fukushima clean-up worker“. The Guardian,
06.03.13. www.theguardian.com/environment/2013/mar/06/fukushimaclean-up-radiation-public-criticism
15 „TEPCO subcontractor tries to underreport workers’ radiation exposure“. Kyodo News, 21.07.12.
66
»» Auch werden durch die bisherige Konzentration auf die
Belastung mit radioaktivem Jod die gesundheitlichen Effekte durch andere Radioisotope wie Cäsium-137, Strontium-90 oder Plutonium vernachlässigt. Die WHO geht in
ihrem Gesundheitsbericht zu Fukushima sogar davon
aus, dass die interne Strahlenbelastung ausschließlich
auf Jod-131 zurückzuführen ist und schließt jegliche Inkorporation anderer, in den Emissionen der havarierten
Kraftwerke enthaltenen Radioisotope kategorisch aus –
entgegen aller Erkenntnisse der Strahlenforschung und
den Erfahrungen aus Tschernobyl.16
All diese Faktoren führen zu einer systematischen Unterschätzung der gesundheitlichen Risiken für Tausende von Menschen,
die im Zuge ihrer Arbeit auf dem Kraftwerksgelände Radioaktivität ausgesetzt waren – oft ohne entsprechende Ausbildung
oder adäquate Schutzmaßnahmen. Ebenfalls müssen die zehntausenden Aufräum- und DekontaminationsarbeiterInnen bedacht werden, die unter zum Teil prekären Arbeitssituationen
oder gar auf Freiwilligenbasis radioaktiven Staub aus Regenrinnen fegen, kontaminierte Erde abtragen oder verstrahlte Baumkronen abspritzen, oft nur mit einem einfachen Mundschutz vor
der Ingestion radioaktiver Partikel geschützt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die gesundheitlichen Risiken der
beruflich strahlenexponierten Menschen in der Atomkatastrophe von Fukushima auf Basis der derzeit verfügbaren Daten
nicht adäquat einzuschätzen sind.
3. 2. Gesundheitliche Auswirkungen auf die
Allgemeinbevölkerung
Anders als die beruflich exponierten ArbeiterInnen, die auf dem
Kraftwerksgelände zum Teil hohen Dosen ausgesetzt waren
und sind, leidet der Großteil der japanischen Bevölkerung durch
radioaktive Kontamination von Nahrungsmitteln, Wasser, Böden
und Luft unter einer verhältnismäßig geringeren Strahlenbelastung. Dennoch ist, aufgrund des Umfangs dieser Gruppe, hier
bei weitem die größte Zahl konkreter Gesundheitsfolgen zu erwarten. Eine Beispielrechnung verdeutlicht das: Geht man von
den Angaben von UNSCEAR aus, so wird die japanische Bevölkerung von rund 127 Millionen Menschen einer Lebenszeitdosis
von ca. 48.000 Personen-Sievert (PSv) ausgesetzt sein, wobei
sich der Großteil dieser zusätzlichen Strahlendosis auf die am
schwersten verstrahlten Präfekturen beschränken dürfte. Bei
Verwendung des von BEIR VII postulierten und von der WHO
mittlerweile ebenfalls benutzten Risikofaktors von 0,2/PSv (KI
0,09-0,35) für die Krebsinzidenz ist in der japanischen Gesamt-
16 WHO. „Global report on Fukushima nuclear accident details health
risks“. 28.02.13, S. 48-49. www.who.int/mediac entre/news/releases/2013/fukushima_report_20130228/en/index.html
FOLGEN VON TSCHERNOBYL UND FUKUSHIMA
bevölkerung von ca. 9.600 (KI 4.300-16.800) strahlenbedingten Krebsfällen aufgrund der Atomkatastrophe von Fukushima auszugehen, etwa die Hälfte davon tödlich verlaufend.
Orientiert man sich an den Dosisberechnungen des WHO-Berichts zu Fukushima, kommt man sogar auf höhere Zahlen. Die
WHO geht für das erste Jahr der Atomkatastrophe von einer
individuellen Jahresdosis von 3-25 mSv für einzelne Bevölkerungsgruppen in den am schwersten verstrahlten Gebieten aus
(knapp 1 Million Menschen), und von durchschnittlich 0,316
mSv (KI 0,1-1 mSv) für die restliche Bevölkerung Japans (rund
126 Millionen Menschen).17
Je nachdem, welchen Faktor man zur Hochrechnung der Lebenszeitdosis wählt (das 2-fache oder 3-fache der Dosis des 1.
Jahres), kommt man auf eine kollektive Lebenszeitdosis von
110.000–165.000 PSv und somit bei einem Risikofaktor von
0,2/PSv (KI 0.09-0,35) für die Krebsinzidenz auf 9.900–57.750
zusätzliche Krebsfälle in ganz Japan. Alternative Rechenmodelle die einen höheren Risikofaktor für die Krebsinzidenz von 0,4/
PSv nutzen kommen sogar auf 22.000–66.000 zusätzliche
Krebsfälle.18 Neuere epidemiologische Studien legen nahe, dass
dieser Risikofaktor das tatsächliche Krebsrisiko realistischer
wiedergibt als der niedrigere Risikofaktor im BEIR VII-Bericht.19
Unabhängig davon, welchen Dosisschätzungen, LebenszeitHochrechnungen oder Risikofaktoren man am ehesten Glauben
schenkt – klar ist, dass es aufgrund der freigesetzten Radioaktivität in den kommenden Jahrzehnten in Japan zu einer nicht
unerheblichen Zahl von Krebserkrankungen kommen wird –
Leukämien, Lymphome und solide Tumorerkrankungen, deren
Zusammenhang mit der Atomkatastrophe von Fukushima im
Einzelfall nicht beweisbar sein wird. Reihenuntersuchungen
oder besondere Vorsorgeprogramme für die Allgemeinbevölkerung sind, außer für die Kinder in der Präfektur Fukushima, bei
denen in regelmäßigen Abständen Schilddrüsenuntersuchungen stattfinden sollen, nicht vorgesehen.
Zudem ist mittlerweile bekannt, dass ionisierende Strahlung
nicht nur zur Entstehung von Krebs, sondern auch zu HerzKreislauf-Erkrankungen und einer Reihe anderer Krankheiten
führt – zum Teil mit ähnlichen Risikofaktoren wie im Bereich der
17 WHO. „Health risk assessment from the nuclear accident after
the 2011 Great East Japan Earthquake and Tsunami based on a
preliminary dose estimation“. 2013. S. 39. www.who.int/iris/bitstream/10665/78218/1/9789241505130_eng.pdf
18 Paulitz H et al. „Auf der Grundlage der WHO-Daten sind in Japan
zwischen 22.000 und 66.000 Krebserkrankungen zu erwarten“ IPPNW,
14.03.13. www.ippnw.de/commonFiles/pdfs/Atomenergie/Fukushima/Fukushima_Erwartete_Krebserkrankungen_Japan_mit_WHO-Daten.pdf
19 Thiel et al. „Gefahren ionisierender Strahlung: Ergebnisse des Ulmer
Expertentreffens vom 19. Oktober 2013“. IPPNW, 15.01.14. www.ippnw.
de/strahlung
Krebserkrankungen.20 21 Auch genetische Folgeschäden und
transgenerationelle Effekte ionisierender Strahlung sind heutzutage hinlänglich bekannt und beispielsweise in der neuen
Übersichtsarbeit von Scherb et al. anhand zahlreicher Beispiele
erläutert.22 Insbesondere eine Verschiebung des Geschlechterverhältnisses zugunsten der männlichen Neugeborenen ist
durch Einwirkung ionisierender Strahlung auf eine Bevölkerung
zu verzeichnen. Ob sich dieser Effekt auch in Fukushima im
Laufe der nächsten Jahre zeigen wird, bleibt abzuwarten und
sollte genauer untersucht werden. Körblein fand in einer statistischen Analyse der japanischen Geburtsdaten zudem einen
signifikanten Anstieg der Perinatalsterblichkeit um 20% in den
verstrahlten Gebieten in den Jahren 2012 und 2013. Die Erhöhung entspicht einer Anzahl von 140 zusätzlichen perinatalen
Todesfällen.23
Einschränkend ist anzumerken, dass die Berechnungen von
Erkrankungsfällen und die Abschätzung von Gesundheitsfolgen
auf einer Vielzahl von Annahmen beruhen, zum Beispiel der
20 Little MP et al. „Systematic review and meta-analysis of circulatory
disease from exposure to low-level ionizing radiation and estimates of potential population mortality risks“. Environ Health Perspect 2012, 120,
1503-1511.
21 Shimizu Y et al. „Radiation exposure and circulatory disease risk: Hiroshima and Nagasaki atomic bomb survivor data, 1950-2003“. BMJ
2010, 340, b5349.
22 Scherb, H et al. „Ionizing radiation and the human gender proportion
at birth – A concise review of the literature and complementary analyses of
historical and recent data.“ Early Human Development 91 (2015) 841–
850. http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/26527392
23 Körblein A. „Perinatal mortality in Japan after Fukushima: an ecological study“. Submitted to Environmental Health Journal, 26. Januar 2016
67
IPPNW REPORT
Gesamtmenge der emittierten Radioaktivität, der Aufnahme
strahlender Partikel mit der Nahrung und gewisser risikorelevanter Verhaltensweisen.24 Die oben aufgeführten Rechnungen
beziehen sich auf die Schätzungen der kollektiven Lebenszeitdosis von UNSCEAR und auf Dosisberechnungen der WHO. Es
wurde bereits dargestellt, dass diese Angaben mit zahlreichen
Unsicherheiten behaftet sind und systematischen Unterschätzungen unterliegen, so dass die tatsächlichen Kollektivdosen
sowie die Zahl der Erkrankungs- und Todesfälle um ein Mehrfaches höher liegen dürften. Gründe dafür sind u.a.:
»» Die Gesamtmenge an freigesetzten radioaktiven Partikeln
liegt vermutlich deutlich über den von UNSCEAR und
WHO verwendeten Daten (siehe „Atmosphärische Emissionen“).
»» Die Belastung der Bevölkerung innerhalb der 20-kmZone vor und während der Evakuierung wurde bei den
Dosisabschätzungen ignoriert.25
»» Die Menge und Auswahl der für die Berechnung der
Strahlendosen verwendeten Nahrungsmittelproben war
unzureichend, bzw. unausgewogen (siehe auch „Radioaktive Kontamination von Lebensmitteln“).
»» Die Unabhängigkeit der AutorInnen beider Berichte muss
in Frage gestellt werden. Maßgebliche Teile des WHOBerichts wurde beispielsweise von Mitgliedern der IAEO
verfasst, einer Institution mit dem selbst erklärten Ziel,
„weltweit die Nutzung der Atomenergie zu fördern.“26
Die Berechnung von Gesundheitsrisiken kann naturgemäß immer nur so präzise sein wie die Annahmen, auf denen sie beruht. Eine Bewertung, die auf Daten basiert, deren Belastbarkeit
aufgrund fehlender Objektivität, selektiver Probenauswahl, Datenverzerrung und Unterschlagung relevanter Fakten zu hinterfragen ist, kann nicht als Grundlage für Gesundheitsempfehlungen akzeptiert werden.
24 WHO. „Preliminary dose estimation from the nuclear accident after
the 2011 Great East Japan Earthquake and Tsunami“. 23.03.12. http://
www.who.int/ionizing_radiation/pub_meet/fukushima_dose_assessment/
en
25 WHO. „Preliminary dose estimation from the nuclear accident after
the 2011 Great East Japan Earthquake and Tsunami“. 23.03.12. http://
www.who.int/ionizing_radiation/pub_meet/fukushima_dose_assessment/
en
26 IAEA. „Atoms for Peace“. 1957. www.iaea.org/About
68
FOLGEN VON TSCHERNOBYL UND FUKUSHIMA
4.Schilddrüsen-Reihenuntersuchungen
in der Präfektur Fukushima
Durch die Freisetzung von radioaktivem Jod ist in den betroffenen Regionen von einem erhöhten Risiko für Schilddrüsenkrebserkrankungen auszugehen. Laut UNSCEAR wurden die
Schilddrüsen von Kleinkindern in der Präfektur Fukushima im
ersten Jahr der Atomkatastrophe einer Dosis von 15-83 mGy
ausgesetzt, „gut die Hälfte davon durch Aufnahme radioaktiv
kontaminierter Nahrung“.1 2 Zum Vergleich: die durchschnittliche jährliche Schilddrüsendosis durch natürliche Hintergrundstrahlung beträgt typischerweise 1 mGy.3 Es handelt sich bei
diesen Dosisangaben natürlich stets um Schätzungen. Die wahren Dosen sind abhängig von einer Vielzahl diätetischer und
habitueller Variablen, sowie individueller Gesundheitsfaktoren,
so dass einzelne Menschen durchaus höhere oder niedrigere
Dosen erhalten haben können. Da radioaktiver Niederschlag
vor Präfekturgrenzen nicht Halt macht und radioaktives Jod in
Milch, Meeresfrüchten, Fleisch, Leitungswasser, Gemüse und
Reis gefunden wurde, sind auch Kleinkinder in anderen Teilen
des Landes betroffen: Es wird geschätzt, dass im Rest Japans
Kleinkinder im ersten Jahr der Atomkatastrophe im Schnitt eine
1 UNSCEAR, „Sources, effects and risks of ionizing radiation – UNSCEAR
2013 Report; Volume I – Report to the General Assembly – Scientific Annex A: Levels and effects of radiation exposure due to the nuclear accident
after the 2011 great east-Japan earthquake and tsunami“. 02.04.14, S. 9,
Paragraph 30. www.unscear.org/docs/reports/2013/13-85418_Report_2013_Annex_A.pdf
2 UNSCEAR, „Sources, effects and risks of ionizing radiation – UNSCEAR
2013 Report; Volume I – Report to the General Assembly – Scientific Annex A: Levels and effects of radiation exposure due to the nuclear accident
after the 2011 great east-Japan earthquake and tsunami“. 02.04.14, S. 87,
Tabelle 10. w w w.unscear.org /docs/repor ts/2013/13- 85 418 _Report_2013_Annex_A.pdf
3 UNSCEAR, „Sources, effects and risks of ionizing radiation – UNSCEAR
2013 Report; Volume I – Report to the General Assembly – Scientific Annex A: Levels and effects of radiation exposure due to the nuclear accident
after the 2011 great east-Japan earthquake and tsunami“. 02.04.14, S. 86,
Paragraph 211. www.unscear.org/docs/reports/2013/13-85418_Report_2013_Annex_A.pdf
Schilddrüsendosis von 2,6-15 mGy erhalten haben. UNSCEAR
schätzt eine kollektive Lebenszeit-Schilddrüsendosis von
112.000 Personen-Gy für ganz Japan.4 Errechnet man mithilfe
des DDREF-korrigierten Risikofaktors des BEIR-VII Berichts von
0,009/PGy5 die Anzahl der zu erwartenden Schilddrüsenkrebsfälle durch die Radioaktivität der Atomkatastrophe in Japan,
kommt man auf eine Zahl von ca. 1.000 zusätzlichen Fällen.
Diese Zahl dürfte aufgrund der zahlreichen, oben bereits angesprochenen Probleme mit den UNSCEAR-Daten allerdings viel
zu niedrig liegen.
Um von Beginn an die Entwicklung der Schilddrüsenkrebsfälle
in der Bevölkerung zu überwachen, hat die Medizinische Universität von Fukushima (FMU) den sogenannten „Fukushima
Health Management Survey“ begonnen. Diese prospektive Studie stellt die bislang größte wissenschaftliche Untersuchung von
Langzeitfolgen der Atomkatastrophe in Fukushima dar und soll
an dieser Stelle näher beleuchtet werden.
Die Studie wurde von dem umstrittenen japanischen Wissenschaftler Shunichi Yamashita initiiert, der u.a. dadurch bekannt
wurde, dass er den Menschen in Fukushima dazu riet, mehr zu
lächeln, da dies dazu führen würde, Strahlenschäden zu verhindern, und der allgemein die gesundheitlichen Folgen ionisierender Strahlung entgegen aller wissenschaftlicher Erkennt-
4 UNSCEAR, „Sources, effects and risks of ionizing radiation – UNSCEAR
2013 Report; Volume I – Report to the General Assembly – Scientific Annex A: Levels and effects of radiation exposure due to the nuclear accident
after the 2011 great east-Japan earthquake and tsunami“. 02.04.14, S.
198, Tabelle C16. www.unscear.org/docs/reports/2013/13-85418_Report_2013_Annex_A.pdf
5 National Academy of Sciences Advisory Committee on the Biological
Effects of Ionizing Radiation (BEIR). „BEIR VII report, phase 2: Health risks
from exposure to low levels of ionizing radiation“. 2006, S. 279, Tabelle
12.5. www.nap.edu/openbook.php?record_id=11340&page=8
69
IPPNW REPORT
nisse verharmlost.6 Noch viel schwerer wiegt vermutlich jedoch
die Tatsache, dass er als Berater der zuständigen Notfallbehörden maßgeblich die Verteilung von Jodtabletten verhinderte –
eine Entscheidung, die selbst er im Nachhinein als falsch bezeichnete.7 So müssen die Ergebnisse der von ihm geleiteten
Studie aufgrund mangelnder Objektivität zumindest kritisch
betrachtet werden. 2012 wurde bekannt, dass die internationale Atomlobbyorganisation IAEO finanziell Einfluss auf die Medizinische Universität in Fukushima nimmt, was die wissenschaftliche Unabhängigkeit der Studie zusätzlich in Frage stellt.8 Von
Seiten der Elternorganisationen in Fukushima wurde zudem
vielfach kritisiert, dass die Untersuchungen an der FMU mit
einer Dauer von 2-3 Minuten zu kurz und oberflächlich seien,
dass die Ultraschallbilder der Kinder den Familien vorenthalten
werden und dass Arztpraxen in der Präfektur schriftlich ermahnt wurden, Kinder aus der Studie nicht nachzuuntersuchen
und keine Zweitmeinungen abzugeben. Betroffene Kinder, die
außerhalb der Präfektur leben, wurden ebensowenig in die Studie eingeschlossen wie zahlreiche Kinder, deren Familien nach
der Katastrophe die Präfektur verlassen hatten. All diesen Kritikpunkten zum Trotz stellt die Schilddrüsenstudie der Präfektur
Fukushima die weltweit umfangreichste Untersuchung verstrahlter Kinder dar und soll daher an dieser Stelle eingehend
diskutiert werden. Die FMU-Studie besteht aus zwei getrennten
Teilen: einer sogenannten Baseline-Studie und einer Hauptuntersuchung.
4. 1. Die Baseline-Studie
Im Rahmen der sog. Baseline-Studie („preliminary baseline
screening“) sollte zwischen Oktober 2011 und März 2014 die
Prävalenz, also die natürliche Häufigkeit von Schilddrüsenkrebsfällen in der pädiatrischen Bevölkerung der Präfektur
Fukushima festgestellt werden. In der Präfektur lebten zum
Zeitpunkt der Kernschmelzen schätzungsweise 360.000 Kinder
im Alter von 0–18 Jahren. Die jährliche Rate von Neuerkrankungen (Inzidenz) von Schilddrüsenkrebs bei Kindern unter 19
Jahren in Japan wird vom japanischen Gesundheitsministerium
mit 0,35 pro 100.000 angegeben.9 Bei einer Bevölkerung von
360.000 Kindern war somit damit zu rechnen, dass etwa ein
neuer Schilddrüsenkrebsfall im Jahr festgestellt wird – entweder
dadurch, dass die Erkrankung Symptome zeigt oder durch ei-
6 Yamashita, S. „Rede vom 21.03.11“. https://www.youtube.com/
watch?v=UOgaBUDFeb4
7 „Authorities jump gun on iodine pills / Premature distribution risked ill
effects on health, depleted emergency supplies“. The Yomiuri Shimbun,
22.03.11. http://www.nationmultimedia.com/2011/03/21/headlines/Authorities-jump-gun-on-iodine-pills-30151398.html
8 MOFA. „Practical arrangements between Fukushima Medical University and the International Atomic Energy Agency on Cooperation in the area
of human health“. 15.12.12. http://www.mofa.go.jp/policy/energy/fukushima_2012/pdfs/fukushima_iaea_en_06.pdf
9 Katanoda K et al. „An updated report of the trends in cancer incidence
and mortality in Japan“. Jpn J Clin Oncol. 43(5):492-507, Mai 2013. www.
ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/23493744.
70
nen Zufallsbefund. Man weiß, dass durch Reihenuntersuchungen ein sogenannter „Screening-Effekt“ auftritt, also durch
die Untersuchung gesunder Probanden auch schon frühe Erkrankungsstadien diagnostiziert werden, die normalerweise erst
viel später symptomatisch geworden wären. Man rechnete also
damit, dass man in den dreieinhalb Jahren der Baseline-Studie
mehr als nur die rechnerisch zu erwartenden 3-4 Krebserkrankungen diagnostizieren würde. Bei diesen überzähligen Fällen
ging man davon aus, dass sie in sehr frühen Stadien und daher
ohne akute Gefährdung für die PatientInnen diagnostiziert würden.
Die tatsächlichen Ergebnisse der Baseline-Studie zeichneten
jedoch ein anderes Bild: Bei 537 Kindern wurden solch auffällige Befunde im Ultraschall identifiziert, dass Feinnadelbiopsien
durchgeführt werden mussten. Die mikroskopische Aufarbeitung ergab insgesamt 116 Krebsverdachtsfälle (Stand Februar
2016). Die überwiegende Mehrheit von ihnen präsentierte sich
in der weiteren Beobachtung aggressiv. Basierend auf den wenigen veröffentlichten Informationen wissen wir, dass bislang
101 dieser Kinder operiert werden mussten, meist wegen Tumorstreuung (Metastasenbildung), gefährlich großem Wachstum oder der Nähe des Tumors zu lebenswichtigen Organstrukturen. Ein Fall stellte sich nach der Operation als gutartiger
Tumor heraus, bei 100 der operierten Fälle bestätigte sich die
Krebsdiagnose (97 papilläre Schilddrüsenkarzinome und 3
schlecht differenzierte Schilddrüsenkarzinome).10 Schon nach
Abschluss der Baseline-Studie stellten sich somit unangenehme Fragen bezüglich der Ursachen dieser unerwartet hohen Zahl aggressiver Schilddrüsentumoren.
4. 2. Die Hauptuntersuchung
Den zweiten Teil der Schilddrüsenuntersuchungen bildet die
seit April 2014 laufende Hauptuntersuchung („full scale screening“). Hierbei handelt es sich um die Nachuntersuchung aller
Kinder, die in die Baseline-Studie eingeschlossen waren, sowie
zusätzlich die Untersuchung aller Kinder, die kurz nach dem
Atomunglück geboren wurden. Die Zielgruppe dieser Untersuchung ist somit etwas größer als die der Baseline-Studie. Geplant ist derzeit, diese Kinder bis zum Abschluss des 20. Lebensjahres alle 2 Jahre und anschließend alle 5 Jahre zu
untersuchen. In der Hauptuntersuchung wurden zwischen April
2014 und Dezember 2015 von insgesamt 381.261 Kindern bislang 236.595 (62,1%) untersucht. Validierte Ergebnisse liegen
bislang nur von 220.088 Kindern vor (57,7 %). Bei 157 von
ihnen waren bislang aufgrund schwerer Veränderungen im Ultraschall Feinnadelbiopsien notwendig. Die mikroskopische Aufarbeitung ergab insgesamt 51 neue Krebsverdachtsfälle. 16
dieser Kinder mussten bislang operiert werden, einigen von
10 Fukushima Medical University. „Final Report of Thyroid Ultrasound
Examination (Preliminary Baseline Screening)“. 31.08.15. http://fmu-global.jp/?wpdmdl=1222
FOLGEN VON TSCHERNOBYL UND FUKUSHIMA
ihnen wegen Metastasen, andere wegen gefährlich großem
Wachstum oder der Nähe des Tumors zu lebenswichtigen Organstrukturen.11
Die Gesamtzahl von Kindern mit bestätigten Schilddrüsenkrebsdiagnosen liegt somit mittlerweile bei 116 (Stand Februar
2016). Ihre Schilddrüsen mussten operativ entfernt werden. Bei
50 weiteren Kindern besteht der akute Verdacht auf ein Schilddrüsenkarzinom. Sie warten noch auf eine Operation.
An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass Schilddrüsenkrebs zwar prinzipiell zu den malignen Erkrankungen mit einer
guten Prognose gehört, eine Krebserkrankung jedoch unabhängig von der Prognose für die betroffenen Patienten und ihre
Familien stets einen schweren Schicksalsschlag darstellt. Nach
einer Operation, die natürlich auch mit gewissen Risiken einhergeht, sind lebenslange Nachkontrollen sowie die dauerhafte
Einnahme von Schilddrüsenhormonen notwendig, verbunden
mit regelmäßigen Arztbesuchen, Blutabnahmen sowie klinischen und sonographischen Untersuchungen. Auch besteht
das Risiko eines erneuten Tumorwachstums im Sinne eines
Rezidivs. Eine Bagatellisierung der Schilddrüsenkrebsfälle ist
also keinesfalls gerechtfertigt.
Besonders besorgniserregend ist bei der Betrachtung der bisherigen Ergebnisse der Hauptuntersuchung die Tatsache, dass
die Krebserkrankung bei mindestens 16 Kindern im Zeitraum
zwischen der Erst- und der Zweituntersuchung auftrat. Auch
die Anzahl der anderen pathologischen Schilddrüsenbefunde
nahm im Verlauf zu: Während im Erstscreening die Rate an
Knoten und Zysten in der Schilddrüse noch bei 48,5% lag, fand
man solche Veränderungen in der Nachuntersuchung bei
59,3% der Kinder. Das bedeutet, dass bei 36.408 Kindern, bei
denen im ersten Screening noch gar keine Schilddrüsenanomalien gefunden wurden, nun Zysten oder Knoten festgestellt wurden – bei 348 von ihnen sogar so große, dass eine weitere
Abklärung dringend notwendig wurde. Zusätzlich wurde bei
782 Kindern mit kleinen Zysten oder Knoten im Erst-Screening
in der Nachuntersuchung ein so rasches Wachstum festgestellt,
dass weitergehende Diagnostik eingeleitet werden musste. Die
Familien dieser Kinder müssen fortan mit der Sorge leben, dass
bei ihren Kind in einigen Jahren eine Krebserkrankung festgestellt wird, machen sich Vorwürfe und fragen, weshalb nicht
mehr zum Schutz ihrer Kinder getan wurde, bzw. wird.
Anhand der Daten der Hauptuntersuchung sollte eine Berechnung der Inzidenz, also der jährlichen Neuerkrankungsrate, nun
möglich sein. Leider werden viele Daten bezüglich der neu diagnostizierten Schilddrüsenkrebsfälle von den Behörden zurückgehalten, so dass nicht bekannt ist, welcher Abstand zwischen
11 Fukushima Medical University. „The 22nd Prefectural Oversight Committee Meeting for Fukushima Health Management Survey“. 15.02.16.
http://fmu-global.jp/survey/proceedings-of-the-22nd-prefectural-oversightcommittee-meeting-for-fukushima-health-management-survey
Erst- und Zweitscreening lagen. Geht man davon aus, dass
zwischen den beiden Untersuchungen wie vorgesehen 2 Jahre
liegen, dann ist von einer jährlichen Inzidenz von derzeit 3,6
neuen Fällen pro Jahr pro 100.000 Kinder auszugehen. Zur
Erinnerung: die jährliche Inzidenz für Schilddrüsenkrebs bei
Kindern lag in Japan vor den Kernschmelzen von Fukushima
bei 0,35 pro 100.000. Dieser Anstieg in der Inzidenz von
Schilddrüsenkrebs bei Kindern um mehr als das Zehnfache
lässt sich nicht mehr mit einem sogenannten „Screening-Effekt“ begründen.
4. 3. Prognosen
Gleichzeitig legt die Zahl der bislang noch nicht untersuchten
Kinder nahe, dass über die jährliche Inzidenz hinaus noch mit
einem weiteren Anstieg der Schilddrüsenkrebsfälle zu rechnen
ist. Mehr als 67.000 strahlenexponierte Kinder aus der Präfektur Fukushima wurden erst gar nicht in die Untersuchung eingeschlossen, mehr als 160.000 Kinder warten weiterhin auf
ihre Zweituntersuchung. Eine weitere besorgniserregende Tatsache ist, dass außerhalb der Präfektur Fukushima Kinder erst
gar nicht untersucht wurden – obwohl bekannt ist, dass der
radioaktive Niederschlag mit Jod-131 bis in die nördlichen
Stadtteile von Tokio reichte und Hunderttausende weiterer Kinder in den Tagen und Wochen nach Begin n der Atomkatastrophe von erhöhten Strahlenwerten betroffen waren. Ohne Reihenuntersuchungen werden die zusätzlichen Krebsfälle, die in
dieser Bevölkerung zu erwarten sind, nie mit der gefährlichen
Strahlung in einen kausalen Zusammenhang gebracht werden
können und Krebsfälle evtl. zu spät entdeckt werden.
Besonders bedrückend ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass die Behörden die betroffene Bevölkerung wider
besseres Wissen nicht durch die Vergabe von Jodtabletten vor
den schädlichen Wirkungen des Jod-131 schützten. Die unabhängige Untersuchungskommission des japanischen Parlaments hält in ihrem offiziellen Bericht fest: „Obwohl der positive
Effekt einer rechtzeitigen Verabreichung von Jodtabletten vollständig bekannt war, waren die Kommandozentrale für nukleare
Notfälle und die Regierung der Präfektur nicht in der Lage, die
Öffentlichkeit richtig zu beraten.“12 Schwer verständlich ist auch
die Tatsache, dass die japanische Regierung die zulässige
Höchstgrenze für die Strahlenexposition von Kindern am 19.
April 2011 auf 3,8 μSv pro Stunde anhob (entsprechend 20
mSv pro Jahr bei einer durchschnittlichen Exposition von 14
Stunden am Tag).13 Erst nach Protesten von Elternorganisationen, WissenschaftlerInnen und ÄrztInnen hob die Regierung
die neuen Richtlinien am 27. Mai 2011 wieder auf und kehrte
12 The National Diet of Japan. „The official report of The Fukushima
Nuclear Accident Independent Investigation Commission of the National
Diet of Japan“. 05.07.12. http://www.nirs.org/fukushima/naiic_report.pdf
13 MEXT. „Notification of interim policy regarding decisions on whether
to utilize school buildings and outdoor areas within Fukushima Prefecture“.
19.04.11. www.mext.go.jp/english/incident/1306613.htm
71
IPPNW REPORT
zu dem alten zulässigen Höchstwert von 0,2 μSv pro Stunde
(entsprechend 1 mSv pro Jahr) zurück.14 Diese Faktoren werden in den ersten Wochen und Monaten dazu beigetragen haben, dass Kinder in den betroffenen Gebieten eine erhöhte
Strahlendosis erhielten.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Reihenuntersuchungen dabei helfen können, die Inzidenz vom Schilddrüsenerkrankungen zu dokumentieren und gefährliche Verläufe
frühzeitig zu entdecken und zu behandeln. Dabei muss jedoch
kritisch angemerkt werden, dass andere maligne Erkrankungen,
wie beispielsweise solide Tumore, Leukämien oder Lymphome,
nicht-maligne gesundheitliche Folgen wie Katarakte, endokrinologische und kardiovaskuläre Erkrankungen sowie genetische
Konsequenzen der radioaktiven Exposition der Bevölkerung
nicht adäquat untersucht und durch den Fokus auf die Schilddrüsenkrebsfälle aus der öffentlichen Wahrnehmung gedrängt
werden. Die Tatsache, dass außerhalb des Schilddrüsenscreenings keine weiteren Reihenuntersuchungen bei den betroffenen Kindern in den belasteten Präfekturen durchgeführt werden, ist nach den Erfahrungen von Tschernobyl nicht
nachvollziehbar. Umfangreiche Studien durch unabhängige
Wissenschaftler werden benötigt, um das wahre Ausmaß der
Krankheitslast in der betroffenen Bevölkerung quantifizieren zu
können.
14 MEXT. „Immediate Measures toward Reducing the Radiation Doses
that Pupils and Others Receive at Schools, etc. in Fukushima Prefecture“.
27.05.11. http://radioactivity.mext.go.jp/en/important_imfor mation/0001
72
FOLGEN VON TSCHERNOBYL UND FUKUSHIMA
5. Auswirkungen der Atomkatastrophe
auf das Ökosystem
Neben den Auswirkungen auf die Menschen in den verstrahlten
Gebieten ist auch eine nähere Betrachtung der Folgen erhöhter
Radioaktivität auf die Tier- und Pflanzenwelt von Bedeutung.
Tiere und Pflanzen sind Teil desselben Ökosystems wie der
Mensch und stehen mit diesem in vielfältigen Interdependenzen, nicht nur im Hinblick auf die menschliche Ernährung,
die nahezu vollständig aus tierischen und pflanzlichen Produkten besteht. Wir leben in einer komplexen Symbiose mit
zahlreichen Spezies der Flora und Fauna, so dass Veränderungen in diesen Systemen auch uns betreffen. Aus den Effekten, die chronische Belastung mit niedrig-dosierter Radioaktivität auf Tiere und Pflanzen haben, lassen sich unter Umständen
Rückschlüsse auf die Folgen für Menschen ziehen. Zudem
haben viele Lebewesen kürzere Erbfolgen als der Mensch, sodass genetische Effekte sowohl in vitro als auch in vivo besser
zu beobachten und zu untersuchen sind. Aus all diesen Gründen ist eine Untersuchung der nicht-menschlichen Biota von
immenser Bedeutung für die Erforschung der Folgen einer
Atomkatastrophe. In den letzten fünf Jahren wurde eine wachsende Anzahl wissenschaftlicher Arbeiten publiziert, die sich
mit den morphologischen, genetischen und physiologischen
Folgen ionisierender Strahlung für die Tier- und Pflanzenwelt
von Fukushima befassen.
Die Forschungsgruppe um Watanabe et al. fand 2015 beispielsweise einen signifikanten Zusammenhang zwischen Strahlendosen und morphologischen Abnormalitäten an japanischen
Momi-Tannen in kontaminierten Gebieten rund um das havarierte Atomkraftwerk.1 Je näher die Tannen an den havarierten
Reaktoren standen, umso ausgeprägter waren auch die Veränderungen, so dass eine Dosis-Wirkungsbeziehung anzunehmen
1 Watanabe Y. et al. „Morphological defects in native Japanesefir trees
around the Fukushima Daiichi Nuclear Power Plant“. Sci. Rep. 5, 13232.
http://dx.doi.org/10.1038/srep13232
ist. Auch zeitliche Verläufe waren an den untersuchten Tannen
abzulesen, da die gravierendsten Mutationen in Haupttrieben
zu finden waren, die im Frühjahr 2012, also ein Jahr nach Beginn der Atomkatastrophe zu wachsen begannen. Da Pflanzen
ortsständig sind, lassen sich an ihnen hervorragend lokale Effekte nachvollziehen.
Anders ist dies bei Tieren, die sich in der freien Wildnis bewegen können, so dass lokale Effekte nur schwer nachvollziehbar
sind. Eine besondere Rolle spielen daher ortsständige Spezies,
wie beispielsweise Bläulings-Schmetterlinge, die ihr Leben in
einem sehr begrenzten Radius verbringen. Hiyama et al. konnten 2012 bei Untersuchungen solcher Bläulinge in Fukushima
eine signifikante Zunahme pathologischer Befunde zeigen, die
direkt proportional zur radioaktiven Kontamination ihrer Nahrung waren: eine Reduktion der Körper- und Flügelgröße, eine
größere Zahl an morphologischen Mutationen und eine erhöhte
Sterblichkeitsrate.2 Laboruntersuchungen bestätigten die strahlenabhängige Zunahme genetischer Mutationen und morphologischer Veränderungen in den Schmetterlingen.3 Zudem zeigten
sich in späteren Generationen von Schmetterlingen höhere Mutationsraten als in der 1. Generation. Dies legt eine Vererbbarkeit von Mutationen und eine Akkumulation von genetischen
Schäden über Generationen nahe.4 Auch größere Tiere lassen
sich durchaus im Rahmen gut aufgebauter Studien untersuchen. Murase et al. betrachteten eine Habichtspezies vor und
nach dem atomaren Super-GAU in Fukushima und fanden,
2 Hiyama A et al. „The biological impacts of the Fukushima nuclear accident on the pale grass blue butterfly“. Nature Scientific Reports 2, Art
570 (2012). www.nature.com/articles/srep00570
3 Møller AP, Mousseau TA. „Low-dose radiation, scientific scrutiny, and
requirements for demonstrating effects“. BMC Biol. 2013 11:92. http://
bmcbiol.biomedcentral.com/articles/10.1186/1741-7007-11-92
4 Taira W et al. „Fukushima’s Biological Impacts: The Case of the Pale
Grass Blue Butterfly“. J Hered (2014) 105 (5): 710-722.
73
IPPNW REPORT
dass die Reproduktionsfähigkeit der Vögel direkt proportional
zur gemessenen Strahlendosis unterhalb der Nester abnahm.5
Diese Ergebnisse deuten auf Effekte der Strahlung auf die
Keimbahn der Vögel hin. Insgesamt ging in den untersuchten
Gebieten proportional zur Umgebungsstrahlung die Anzahl von
Vögeln, Schmetterlingen und Zikaden zurück.6 7
Noch relevanter für mögliche Rückschüsse auf den Menschen
sind die Studien an Primaten in den verstrahlten Gebieten. Im
April 2012 wurden bei wilden Affen aus den Wäldern der Stadt
Fukushima Blutbildveränderungen festgestellt. Als Kontrollgruppe wurde eine Affenpopulation herangezogen, die ca. 400 Kilometer nördlich von Fukushima lebt. Während in den Muskeln
der Affen aus Fukushima Cäsiumkonzentrationen zwischen 78
und 1.778 Bq/kg festgestellt wurden, lagen die Cäsiumwerte
der Kontrollgruppe unterhalb der Nachweisgrenze. Proportional
zu der Höhe der Cäsiumkonzentration im Muskel wurde bei den
Affen von Fukushima eine Reduktion von roten und weißen
Blutkörperchen gemessen, so dass von einer Dosis-Wirkungsbeziehung auszugehen ist.8
Es wäre unwissenschaftlich, direkte Rückschlüsse solcher Tierund Pflanzenstudien auf die Auswirkungen ionisierender Strahlung auf den Menschen zu ziehen. Dennoch können die Erkenntnisse dieser Forschung auch nicht ignoriert werden,
insbesondere nicht, wenn es um die Frage nach genetischen
und transgenerationellen Strahleneffekten geht, also konkret
um die Folgen für nachfolgende Generationen. Gerade hier können Tiermodelle mit ihren schnellen Generationenfolgen dabei
helfen, Wissenslücken zu schließen und die komplexe Interaktion ionisierender Strahlung mit lebendem Gewebe im Allgemeinen und dem Erbgut der Keimbahnzellen im Besonderen besser zu verstehen. Die Untersuchung der nicht-menschlichen
Biota in Fukushima ist ein Forschungsgebiet, das künftig noch
viele wichtige Erkenntnisse liefern dürfte.
5 Murase K et al. „Effects of the Fukushima Daiichi nuclear accident on
goshawk reproduction“. Sci. Rep. 2015, 5. http://dx.doi.org/10.1038/
srep09405
6 Mousseau TA et al. „Genetic and Ecological Studies of Animals in Chernobyl and Fukushima“. Journal of Heredity, Volume 105, Issue 5. S. 704709.
7 Aliyu AS et al. „An overview of current knowledge concerning the
health and environmental conseqences of the Fukszima Daiichi Nuclear
Power Plant (FDNPP) accident“. Environ. Internat. 85 (2015) 213-228.
http://cricket.biol.sc.edu/chernobyl/papers/Sadiq-et-al-EI-2015.pdf
8 Ochiai K et al. „Low blood cell counts in wild Japanese monkeys after
the Fukushima Daiichi nuclear disaster“. Nature Scientific Reports
2014:4:5793. http://www.nature.com/srep/2014/140724/srep05793/pdf/
srep05793.pdf
74
FOLGEN VON TSCHERNOBYL UND FUKUSHIMA
6.Ausblick
Aus den oben angeführten Erkenntnissen wird deutlich, dass
die Situation in Fukushima noch lange nicht unter Kontrolle ist
und die Aufarbeitung der Folgen für Mensch und Umwelt erst
am Anfang steht. Die grundlegenden Angaben zum Quellterm
sowie zur Kontamination von Böden, Ozean und Nahrungsmitteln sind auch fünf Jahre nach Beginn der Katastrophe zwischen Atomlobby und unabhängigen Wissenschaftlern umstritten. Die gesundheitlichen Folgen für beruflich exponierte
Arbeiter und die Allgemeinbevölkerung werden durch die Atomindustrie und ihre Lobbyorganisationen wie die IAEO systematisch klein gerechnet. Mit markigen Aussagen und beschönigenden Berichten wird vor allem von Seiten der japanischen
Behörden immer wieder versucht, einen schnellen Schlussstrich unter die Debatte um die Atomkatastrophe von Fukushima zu ziehen.
Dabei muss klargestellt werden, dass diese noch lange nicht
vorbei ist. Täglich fließen laut Angaben von TEPCO ca. 300
Tonnen radioaktives Abwasser ins Meer.1 Die Dekontaminations­
bemühungen sind ins Stocken geraten und werden immer wieder durch Verwehung radioaktiver Partikel zunichte gemacht.
Die Dekontamination von Bergzügen, Wäldern und Feldern hat
sich selbst im erfolgsverwöhnten und technikgläubigen Japan
als illusorisch herausgestellt. Die Behörden gehen optimistisch
von einem „Abschirmeffekt“ aufgrund der Auswaschung von
Radionukliden in den Boden aus und graben radioaktive Nuklide in tiefere Bodenschichten, versäumen es aber, den Anstieg
der öffentlichen Strahlenexposition durch radioaktives Cäsium-137 im Grundwasser und in der Nahrungskette zu berück-
1 Tsukimori O, Hamada K. „Japan government: Fukushima plant leaks
300 tpd of contaminated water into sea | Reuters“. Reuters, 07. 08.13.
http://www.reuters.com/article/2013/08/07/us-japan-fukushima-wateridUSBRE9760AU20130807.
sichtigen.2 Die gefährliche Bergung des radioaktiven Materials
aus den havarierten Kraftwerksblöcken wird noch mehrere
Jahrzehnte dauern und viele Milliarden Steuergelder verschlingen.3 Cäsium-137 hat eine Halbwertszeit von rund 30 Jahren.
Das bedeutet, dass für etwa drei Jahrhunderte relevante Strahlenmengen in Feldern, Wiesen und Wäldern verbleiben werden.
Der 30 Jahre nach Tschernobyl immer noch radioaktiv belastete
süddeutsche Wald ist dafür ein abschreckendes Beispiel.
Nach nur fünf Jahren eine abschließende Aussage über Langzeitfolgen einer Atomkatastrophe treffen zu wollen, bei der es
vor allem um Krebs- und Herzkreislauferkrankungen geht, die
erst nach Jahren und Jahrzehnten klinisch manifest werden,
wäre unwissenschaftlich. Ebendies wird jedoch von den japanischen Behörden, der IAEO und UNSCEAR versucht, wenn
diese behaupten, dass es zu keinen „relevanten“ oder „messbaren“ Strahlenfolgen in der betroffenen Bevölkerung kommen
wird. Die Menschen in den betroffenen Gebieten brauchen
glaubhafte Informationen, Aufklärung und Unterstützung, nicht
Vertuschung, fingierte Studien und falsche Hoffnungen. Tatsächlich geht es Organisationen wie der IAEO nicht in erster
Linie um die Gesundheit der Bevölkerung, sondern um die Profite und politische Macht der Atomindustrie in Japan und weltweit. Während die japanische Atomindustrie jahrzehntelang mit
ihren Reaktoren immense Gewinne erzielte, müssen die Kosten
der umfangreichen Dekontaminations- und Aufräumarbeiten in
Fukushima von Generationen japanischer Steuerzahler finanziert werden – die der Atomenergie mittlerweile mehrheitlich
2 MAFF. „Towards the recovery and restoration of the Great East Japan
Earthquake disaster area“. MAFF Topics, Dezember 2011. http://www.
maff.go.jp/j/pr/aff/1112/mf_news_00.html
3 „IAEA calls for improvements at Japan’s Fukushima plant“. BBC News
Asia, 22.04.13. http://www.bbc.co.uk/news/world-asia-22246464.
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IPPNW REPORT
kritisch gegenüber stehen. Um die Atomindustrie zu schützen,
wurde in Japan ein gewaltiger Vertuschungsapparat geschaffen,
der nun sogar unliebsame journalistische Berichterstattung unter Strafe stellt und als „Geheimnisverrat“ definiert.4
Der öffentliche Diskurs zu Fukushima sollte nicht um Profite,
Macht und politischen Einfluss geführt werden, sondern das
Schicksal und die Gesundheit der betroffenen Menschen im
Blick haben – derjenigen, die wegen der Atomkatastrophe alles
verloren haben, die um ihre Gesundheit und die ihrer Kinder
bangen und ein Leben ohne Angst vor der Strahlung einfordern.
Die Gesundheitsrisiken für die japanische Bevölkerung müssen
in einer Weise von unabhängigen Wissenschaftlern geprüft werden, dass jeder Verdacht auf Beeinflussung durch die Atomindustrie und ihre politischen Unterstützer ausgeschlossen ist.
Umfangreiche Studien werden benötigt, um die gesundheitlichen Konsequenzen für die betroffene Bevölkerung zu verstehen, Erkrankungen frühzeitig zu erkennen und zukünftige Generationen durch neue Erkenntnisse vor den Folgen
ionisierender Strahlung besser zu schützen. In der Debatte über
die Gesundheitsfolgen der Atomkatastrophe von Fukushima
geht es um mehr als nur das Prinzip der unabhängigen Forschung, die sich dem Einfluss mächtiger Lobbygruppen widersetzt. Es geht um das universelle Recht eines jeden Menschen
auf Gesundheit und das Leben in einer gesunden Umwelt.
4 Sieg L, Takenaka K. „Japan secrecy act stirs fears about press freedom, right to know“. Reuters, 24.10.13. http://www.reuters.com/article/2013/10/25/us-japan-secrecy-idUSBRE99N1EC20131025.
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FOLGEN VON TSCHERNOBYL UND FUKUSHIMA
Forderungen der IPPNW
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IPPNW REPORT
Forderungen der IPPNW
Für Japan:
»» Die von der Atomkatastrophe betroffenen Menschen und
ihr Menschenrecht auf Gesundheit und das Leben in einer gesunden Umwelt sollten im Mittelpunkt aller Diskussionen und politischen Entscheidungen stehen. Hierzu
ist eine adäquate Einbeziehung dieser Gruppen in Entscheidungsfindungsprozesse zu gewährleisten.
»» Die japanische Regierung muss Register schaffen, die
alle Personengruppen erfassen, welche infolge der Atomkatastrophe von Fukushima Radioaktivität ausgesetzt
wurden. Dies gilt für:
»» alle Evakuierten sowie die noch in den kontaminierten
Zonen lebende Bevölkerung (Präfektur Fukushima
und Nachbarpräfekturen)
»» Es muss sichergestellt werden, dass die Bewohner kon-
taminierter Regionen eine freie Entscheidung darüber
treffen können, ob sie weiterhin dort wohnen oder in
nicht kontaminierte Regionen ziehen wollen. Hierzu sind
finanzielle und logistische Unterstützung notwendig.
»» Die forcierte Rücksiedelung evakuierter Menschen in
kontaminierte Regionen muss gestoppt werden. Vor
allem dürften Menschen nicht durch finanziellen Druck
wie beispielsweise durch den Entzug von Hilfszahlungen
dazu genötigt werden, mit ihren Familien in kontaminierte
Regionen zurück zu kehren.
»» Alle Menschen, die beruflich mit den Folgen der Atomka-
tastrophe von Fukushima beschäftigt und möglicherweise Radioaktivität ausgesetzt sind, müssen mit verlässlichsten Dosimetern ausgestattet und regelmäßig von
unabhängigen ArbeitsmedizinerInnen untersucht werden. Dies gilt auch für Angestellte von Subunternehmen
und ZeitarbeiterInnen. Die Betreiberfirmas TEPCO darf
keinen Einfluss mehr auf die Untersuchungen und Daten
nehmen.
78
»»
die Aufräumarbeiter, die unmittelbar auf dem Kraftwerksgelände arbeiten sowie die Aufräumarbeiter, die
Dekontaminationsarbeiten in der 20-km-Zone durchführen.
»» Begleitende epidemiologische Forschung muss finanziert
und regelmäßige kostenlose Gesundheitschecks und Behandlung für diese Menschen gewährleistetn werden. Die
Gesundheitsrisiken für die japanische Bevölkerung müssen in einer Weise von unabhängigen Wissenschaftlern
geprüft werden, dass jeder Verdacht auf Beeinflussung
durch die Atomindustrie und ihre politischen Unterstützer ausgeschlossen ist.
»» Da ein Großteil des radioaktiven Niederschlags den Pazi-
fischen Ozean betraf, muss systematische Forschung zu
den Auswirkungen auf Meeresflora und -fauna ermöglicht werden. Hierzu sollten japanische und internationale
Meeresforschungsinstitute zusammenarbeiten.
FOLGEN VON TSCHERNOBYL UND FUKUSHIMA
Für die ehemaligen Sowjetrepubliken:
»» Nach der Tschernobylkatastrophe wurden von der sowje-
tischen Regierung in den Städten Moskau, Obninsk,
Minsk, Gomel und Kiew große Gesundheitsregister für
die von radioaktiver Kontamination betroffenen Bevölkerung angelegt. Es handelt sich um Gesundheitsdaten von
schätzungsweise mehr als 1 Million Menschen. Diese
Daten der regelmäßigen Gesundheitsuntersuchungen
hinsichtlich Krebserkrankungen, Nichtkrebserkrankungen und genetischer Folgeschäden sind bisher nur
teilweise ausgewertet. Dies muss mit internationaler finanzieller Unterstützung fortgeführt werden.
»» So wie die Daten der Atombombenopfer von Hiroshima
und Nagasaki müssen auch die Daten der Tschernobyl­
opfer weiter erhoben und ausgewertet werden. Auch hier
bedarf es internationaler finanzieller Unterstützung, z. B.
seitens der EU, um groß angelegte, epidemiologische
Fall-Kontroll-Studien durchzuführen.
»» Die Tschernobylopfer brauchen weiter medizinische, fi»» Die Berichterstattung und Forschung zu den Folgen der
Atomkatastrophe in Japan dürfen nicht durch staatliche
Repression wie das umstrittene Gesetz zum „Geheimnisverrat“ behindert werden.
»» Japan hat nach dem mehrfachen Super-GAU von Fukus-
hima alle seine Atomkraftwerke abgeschaltet und ist
mehrere Jahre ohne sie ausgekommen. Nun versucht die
Atomlobby die Reaktoren wieder ans Netz zu bringen –
gegen den Willen der Bevölkerungsmehrheit. Japan sollte
alle seine rund 50 Atomkraftwerke stillegen und statt
dessen in erneuerbare nachhaltige Energieerzeugung
investieren – das Land hat enorme Potentiale für Solarstrom, Windkraft, Wasserkraft, Geothermie und nicht
zuletzt Energieeffizienz und -sparmaßnahmen.
»» Bis es soweit ist, muss der enorme Einfluss der Atom-
lobby auf die japanische Politik durch unabhängige parlamentarische Gremien untersucht werden, damit der
grassierenden Korruption und Kollusion zwischen Politik,
Kraftwerksbetreibern und Aufsichtsbehörden wirksam
begegnet und Katastrophen wie in Fukushima künftig
verhindert werden können.
nanzielle und soziale Unterstützung. Es existiert bereits
ein Netz von europäischen und internationalen Unterstützungsorganisationen, deren Expertise in die weitere
nachhaltige Unterstützung miteinbezogen werden sollte.
Für Europa und weltweit:
In Europa sind immer noch knapp 200 Atomreaktoren am Netz
– mit durchschnittlichen Laufzeiten von 30 bis 40 Jahren.1 Dieses „europäische Restrisiko“ wollen wir nicht mehr weiter hinnehmen.
»» Wir fordern von allen Staaten mit Atomkraftwerken eine
zügige Abschaltung und Stilllegung der Reaktoren und
den Einstieg in nachhaltige erneuerbare Energien. Fossile
Brennstoffe können und dürfen in der Energieproduktion
der Zukunft keine Rolle spielen. Hierüber besteht bereits
ein breiter globaler Konsens. Aber auch die Atomenergie
stellt keine Alternative dar.
»» Die globale Energiewende hin zu 100% Erneuerbaren
Energien, gekoppelt mit Energieeffizienz- und Sparmaßnahmen sowie die Dezentralisierung der Energieproduktion sind aus Sicht der IPPNW die einzige
vernünftige politische Konsequenz aus den Atom­
katastrophen von Tschernobyl und Fukushima.
1 Mycle Schneider, Anthony Frogatt World Nuclear In Ddustry Status
Report 2015
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Impressum
Report: Gesundheitliche Folgen der Atomkatastrophen von Fukushima und Tschernobyl
30 Jahre Leben mit Tschernobyl. 5 Jahre Leben mit Fukushima
1. Auflage, Februar 2016
Team der Autorinnen und Autoren:
Dr. med. Angelika Claußen, IPPNW
Dr. med. Alex Rosen, IPPNW
Mitarbeit (Kapitel 4):
Henrik Paulitz, IPPNW
Danksagung:
Wir danken Prof. Dr. Schmitz-Feuerhake und Dr. rer. nat. Pflugbeil, beide Gesellschaft für Strahlenschutz, für
die zahlreichen Hinweise auf die vielen unterschiedlichen Arbeiten der Strahlenforscher aus der ehemaligen
Sowjetunion und für ihre eigenen Arbeiten und Publikationen, die sie in den letzten 30 Jahren zu den
Gesundheitsfolgen in Tschernobyl veröffentlicht haben. Ihre Arbeiten sind sehr häufig in dem deutschsprachigen „Strahlentelex“ erschienen, das beide Wissenschaftler zusammen mit anderen seit der Tschernobylkatastrophe als unabhängigen, monatlich erscheinenden Informationsdienst zu Radioaktivität, Strahlung und
Gesundheit herausgeben. Sie haben uns als ÄrztInnen kontinuierlich ermutigt, auf die Ergebnisse der
Strahlenforschung einen kritischen Blick zu richten.
Herausgeber
Deutsche Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung
des Atomkrieges / Ärzte in sozialer Verantwortung e. V. (IPPNW)
Körtestr. 10
10967 Berlin
Deutschland
Tel. ++49/ (0)30 / 69 80 74-0
Fax ++49/ (0)30 / 693 81 66
E-Mail: [email protected]
Internet: www.ippnw.de, www.fukushima-disaster.de
Koordination und Schlussredaktion
Angelika Wilmen, IPPNW
Layout
Boris Buchholz
Bestellungen unter: http://shop.ippnw.de
Deutsche Sektion der Internationalen Ärzte
für die Verhütung des Atomrieges / Ärzte in
sozialer Verantwortung e. V. (IPPNW)
Körtestr. 10 · 10967 Berlin · Deutschland
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Fax ++49/ (0)30/ 693 81 66
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