Montag, 12. Oktober 2015 / Nr. 235 Tagesthema Neue Luzerner Zeitung Neue Zuger Zeitung Neue Nidwaldner Zeitung Neue Obwaldner Zeitung Neue Urner Zeitung Bote der Urschweiz 3 Motiviert, aber meist schlecht gebildet FLÜCHTLINGE Kurzfristig verursachen Asylsuchende der Schweiz vor allem Kosten, mittelfristig können sie aber einen wirtschaftlichen Nutzen bringen. Ein Problem ist dabei, dass ihre Qualifikationen meist gering sind. LUKAS LEUZINGER [email protected] Die Flüchtlinge, die auf der Suche nach einem besseren Leben zu Tausenden nach Europa kommen, werden in den Zielländern primär als Belastung wahrgenommen. Politiker sprechen davon, die «Lasten» gerecht zu verteilen, oder fragen sich besorgt, ob diese für ihr Land tragbar seien. Tatsächlich sind die finanziellen Kosten, welche die Migranten verursachen, beachtlich. Das Budget des Staatssekretariat für Migration (SEM), das auf Bundesebene für das Asylwesen zuständig ist, beträgt im laufenden Jahr rund 1,3 Milliarden Franken. Die Ausgaben der Kantone sind darin nicht enthalten. Für einen Flüchtling, der in einem Asylzentrum wohnt, zahlt das SEM den Kantonen eine Pauschale von knapp 1500 Franken pro Monat. Über 80 Prozent mit Sozialhilfe wie viel Geld sie in Form von Transferzahlungen erhält. Trägt ein Haushalt mehr zum Staatshaushalt und zu den Sozialwerken bei, als er Leistungen daraus bezieht, ist die Bilanz positiv, andernfalls negativ. Insgesamt war die Fiskalbilanz der von 2003 bis 2009 in der Schweiz wohnhaften Ausländer knapp positiv. Nach Herkunftsländern aufgeschlüsselt, fanden die Forscher allerdings deutliche Unterschiede. Haushalte von Einwanderern aus West- und Nordeuropa lieferten unter dem Strich schätzungsweise 1135 Franken pro Monat an die Gesellschaft ab (siehe Grafik). Demgegenüber bezogen Immigranten aus den südlichen EU-Ländern etwas mehr Leistungen, als sie einzahlten. Deutlich negativ war die Fiskalbilanz bei Einwanderern aus anderen europäischen Ländern (hauptsächlich Osteuropa), während sie bei Immigranten von ausserhalb Europa positiv war. Die Mehrheit der Asylsuchenden ist von der Sozialhilfe abhängig. 2014 betrug der Anteil 88 Prozent. Ein Grund für die hohe Sozialhilfequote ist, dass Asylsu- Bildungsstand ist entscheidend Die Unterschiede erklären sich laut chende bis sechs Monate nach Einreichung ihres Gesuchs nicht arbeiten dür- Sheldon vor allem durch den Bildungsfen. Allerdings ist der Wert bei jenen, die stand und die Art der Immigration. Wähbleiben dürfen, nicht viel tiefer: Die rend unter den Einwanderern aus WestSozialhilfequote unter anerkannten und Nordeuropa sowie von ausserhalb Flüchtlingen und vorläufig Aufgenom- Europas mehr als die Hälfte einen höhemenen (bis 5 beziehungsweise 7 Jahre ren Bildungsabschluss haben, sind es bei Aufenthalt in der Schweiz) lag im Jahr den Süd- und Osteuropäern nur etwa 30 Prozent. «Die Schweiz holt ihre hoch 2013 bei 82 Prozent. Zumindest kurzfristig verursachen die qualifizierten Einwanderer in erster Linie Flüchtlinge der Schweiz also erhebliche aus Nordeuropa, Asien und NordameriKosten. Doch bringen sie mittelfristig ka», erklärt Sheldon. Aus Südeuropa kaauch wirtschaftliche Vorteile? Diesen men in der Vergangenheit hingegen vieSchluss legen Studien le gering qualifizierte Arbeitskräfte, aus aus den USA und anderen Ländern nahe. Osteuropa daneben auch viele KriegsSo fand die amerikanische Professorin Kaflüchtlinge, die infollena Cortes in einer ge des ZusammenUntersuchung heraus, bruchs des ehemalidass Flüchtlinge, die gen Jugoslawien in in den 1970er-Jahren die Schweiz kamen. Betrachtet man lein die USA kamen (vor allem aus Vietnam, diglich die Auslänaber auch aus der Soder, die im Zeitraum «Sie kommen nicht, wjetunion, aus Laos 2003 bis 2009 einweil ihre wanderten, liegt die und Haiti), zu Beginn Qualifikationen zwar wenig verdienFiskalbilanz bei allen ten. In der Folge stieHerkunftsgruppen gefragt wären, gen ihre Löhne aber höher, weil diese Einsondern um der stark an und lagen wanderer im Schnitt schlimmen Situation nach zehn Jahren höjünger sind (und soher als jene von andemit insbesondere in ihrem Heimatland weniger AHV bezieren Immigranten. zu entfliehen.» hen) und zudem besG EO R GE S H E L DO N, PR O FE SS O R Positive Bilanz ser ausgebildet sind. F Ü R AR B E I TS M AR KTÖKON O MI E , Allerdings wird bei George Sheldon ist U N IV E RS I TÄT B ASEL diesem Standbild Professor für Arbeitsmarktökonomie an ausgeblendet, dass der Universität Basel die Einwanderer und hat sich in seiner Forschung inten- ebenfalls älter werden, wodurch sich ihre siv mit den wirtschaftlichen Auswirkun- Fiskalbilanz tendenziell verschlechtert. gen von Immigration beschäftigt. Er differenziert: Wie gut sich ein Einwan- Fehlende Daten derer in den Arbeitsmarkt integriert und Bei der Frage nach dem wirtschaftliwelches wirtschaftliche Potenzial er für chen Potenzial der Migranten, die derzeit das Gastland besitzt, hänge von ver- nach Europa kommen, gibt es ein Proschiedenen Faktoren ab. Sheldon und blem: Es ist nicht bekannt, welchen seine Mitarbeiter haben auf der Grund- Bildungsstand sie haben. Sheldon geht lage von offiziellen Statistiken die Fiskal- davon aus, dass sie am ehesten mit den bilanz von ausländischen Haushalten in Einwanderern aus Südosteuropa zu verder Schweiz berechnet. Die Fiskalbilanz gleichen sind, bei denen es sich vielfach berechnet sich daraus, wie viel Geld ebenfalls um (Kriegs-)Flüchtlinge hanjemand dem Staat in Form von Steuern, delt. «Der grösste Teil der Migration in Abgaben und Gebühren abliefert und die Schweiz ist nachfragegesteuert», sagt Asylbewerber aus Eritrea, die in Lumino TI untergebracht sind, werden im Strassenunterhalt beschäftigt. Keystone/Gabriele Putzu Fiskalbilanz von Ausländern in der Schweiz 2003–2009 pro Haushalt und Monat in Franken In der Schweiz wohnhafte Ausländer Herkunft Nördliche EU-/Efta-Länder Südliche EU-Länder Resteuropa Rest der Welt Total 1135 – 77 –1099 570 56 –1000 –500 0 500 1000 1500 2000 Zwischen 2003 und 2009 in die Schweiz eingewanderte Ausländer Herkunft Nördliche EU-/Efta-Länder Südliche EU-Länder Resteuropa Rest der Welt Total Quelle: Universität Basel / Grafik: lsi 1754 424 – 937 611 729 –1000 Sheldon. Es handelt sich um Arbeitskräfte, die von Unternehmen geholt wurden. Diese sind typischerweise hoch qualifiziert und leisten einen stark positiven Beitrag für die Wirtschaft. Solches könne von Flüchtlingen in der Regel nicht gesagt werden. «Sie kommen nicht, weil ihre Qualifikationen gefragt wären, sondern um der schlimmen Situation in ihrem Heimatland zu entfliehen.» Fleissige Unternehmensgründer Was aber, wenn Migranten ihren Lebensunterhalt nicht als Angestellte eines Unternehmens verdienen, sondern sich selbstständig machen? Untersuchungen aus den USA weisen darauf hin, dass Flüchtlinge häufiger Unternehmen gründen als andere Einwanderer. In der Schweiz gibt es dazu keine Zahlen. Bekannt ist lediglich, dass Ausländer insgesamt wesentlich häufiger Firmen gründen als Schweizer: Laut einer Studie der Wirtschaftsinformationsfirma Bisnode D&B erfolgen ein Drittel aller Unternehmensgründungen durch Ausländer. George Sheldon kann sich gut vorstellen, dass Flüchtlinge, die den gefährlichen Weg nach Europa auf sich genommen haben, risikofreudiger und motivierter sind als andere Bevölkerungsgruppen und deshalb häufiger Firmen gründen. Er bezweifelt aber, dass das ausreicht, um den Mangel an Qualifikationen zu kompensieren. «Auch die motiviertesten Leu- –500 0 500 Flüchtlingsprognose nach oben korrigiert SCHWEIZ sda. Die Schweizer Migrationsbehörden korrigieren ihre Prognose für die Zahl der Asylgesuche in diesem Jahr nach oben. Es dürften rund 30 000 Anträge eintreffen. Mario Gattiker, Chef des Staatssekretariats für Migration, informierte vergangene Woche Parlamentarier darüber, wie die «Sonntagszeitung» berichtete. Bisher lag die Prognose bei 29 000. Europaweit dürften 1,1 Millionen Anträge eingehen. Hauptthema im Wahlkampf Das Thema Migration hat auch den Wahlkampf in den Medien seit Anfang Jahr dominiert. Das geht aus dem «Reputationsmonitor Politik» des Forschungsinstituts Öffentlichkeit und Gesellschaft der Universität Zürich hervor, wie die «Schweiz am Sonntag» meldete. 18 Prozent der Berichterstattung drehten sich darum, 60 Prozent der Medienresonanz bezog sich dabei auf die SVP. Auf dem zweiten Platz folgte die Sozialpolitik (16,6 Prozent), mit der sich die SP profiliert. 1000 1500 2000 te können wenig bewirken, wenn ihnen die nötige Ausbildung fehlt.» Auffangnetz hat seinen Preis Sheldon weist zudem auf die Unterschiede zwischen den USA und Europa hin. Dass amerikanische Studien einen positiven Beitrag von Flüchtlingen zur Wirtschaft feststellten, könnte damit zu tun haben, dass es in den USA kaum ein soziales Sicherheitsnetz gibt. Demgegenüber haben die europäischen Länder einen stark ausgebauten Sozialstaat. Dadurch kann den Flüchtlingen eine relativ gute Grundversorgung gewährt werden. Letztlich seien die wirtschaftlichen Auswirkungen der gegenwärtigen Zuwanderung schwierig abzuschätzen, sagt Sheldon, weil man nie genau modellieren könne, welche Leute einwanderten. Er geht aber davon aus, dass die Flüchtlinge eher schlechter ausgebildet sind als der Durchschnitt der in der Schweiz lebenden Arbeitskräfte. Zusammen mit den mangelnden Sprachkenntnissen sind das keine guten Voraussetzungen, um schnell wirtschaftlich Fuss zu fassen, zumal die Nachfrage nach gering qualifizierten Arbeitnehmern in Ländern wie der Schweiz tendenziell zurückgeht. «Umso wichtiger ist es, dass der Bildungsstand dieser Leute möglichst schnell verbessert wird.» Bildung könnte daher die beste Investition sein, welche die Schweiz bei den Flüchtlingen tätigen kann.
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