Wahrnehmungsorgan Angst! Angst und Sicherheit sind Gefühle, Stimmungen oder Affekte, die stark von unserer Vorstellung von Bedrohung abhängen. Viele seelische und körperliche Störungen sind Folgen von Ängsten. Dem erzieherischen Umgang mit Sicherheit und Angst nimmt massgeblich Einfluss auf unsere Lebensqualität und kommt zudem präventive Bedeutung zu. Da lese ich Berichte von fussballspielenden Kindern im bombenbedrohten Sarajewo; von Katastrophenhelfern in verseuchten Gebieten; von abenteuerlichen Alpinisten in unwirtlichen Felswänden; von Velofahrern im Grosstadtverkehr! Wie ist das möglich ? Wieso begeben sich diese Menschen in Gefahr? Haben sie denn keine Angst? Da höre ich Warnungen, abends nicht mehr allein in der Dunkelheit spazieren zu gehen; treffe Kinder, die sich nicht mehr auf den Pausenhof getrauen oder nicht mehr einschlafen können; Menschen, die sich nicht getrauen einen andern Menschen anzusprechen. Ist es denn auf unserer Welt wirklich so gefährlich? Sind „die anderen“ eine Bedrohung meiner Sicherheit? Vor was haben sie solche Angst? Vergessene Wahrnehmungsorgane Wir sind uns gewohnt als Wahrnehmungsorgane nur unsere 5 Körpersinne (Auge, Ohr, Geschmack, Getast und Geruchsinn) zu bezeichnen. Aber unsere körperliche Ausstattung verfügt noch über viel mehr „Sinne“ resp. Sinnesorgane. Der ganze Körper reagiert sehr vielfältig und differenziert auf Umwelteinflüsse, die wir bis heute zum Teil noch mit keinem Messinstrument erfassen können. Denken wir etwa an die zwischenmenschliche Ausstrahlung, an Zärtlichkeit oder Sanftheit, an Herzlichkeit oder Grauen. Wenn wir genau hinspüren, können wir mehr oder minder exakt empfinden, an welchen inneren Organen uns diese Wahrnehmungen anpacken. Es wird uns warm ums Herz, oder das Zwerchfell flattert; ein Zittern in freudiger Erregung lässt sich sehr präzise vom Angstzittern und dies wieder vom Frösteln unterscheiden. Das Fühlen und das Spüren sind menschliche Wahrnehmungsorgane, die sich oft als präziser und vorausschauender erweisen, als rationale Prognosen. Vielleicht sind sogenannte „Intuition“ und „dass der Kindermund die Wahrheit spricht“ gar nicht so geheimnisvolle Kräfte, sondern die Folge eines unverbauten Zuganges zu Wahrnehmungsorganen, die ursprünglich jedem angeboren sind. Vertrauen in eigene Wahrnehmung Was wir spüren (direkt im Körper) und was wir fühlen, sind klare Botschaften über unsere Befindlichkeit und über den Zustand der Umgebung. Viele von uns haben aber eine Kindheit lang oder länger gelernt, dem wenig Beachtung zu schenken oder es gar bewusst abtrainiert. Viele sind zu „harten Männern“ oder „geduldigen Frauen“ geworden, die gelernt haben kaum noch etwas zu spüren. Damit einher geht ein grosser Verlust. Ein ganzer Wahrnehmungsapparat wird verstopft. So ist auch kein Verlass mehr auf das, was „mich dünkt“. Ich muss alles prüfen, messen, beweisen oder mir sagen lassen, „wie es ist“ oder eben wie es nicht ist. Ein Teil erfolgreicher Psychotherapien besteht oft darin, dass das Vertrauen in die Treffsicherheit eigener Wahrnehmungen wieder aufgebaut wird. Wie häufig kommen Bilder aus Träumen oder aus der Erinnerung hervor, bei denen die Menschen sagen, aber das kann doch nicht sein; das ist doch absurd; so war der oder jene nicht, wie ich sie jetzt in meinem Gefühl erlebe. In Psychotherapien, die den Körper miteinbeziehen, geht es zu Beginn meist darum, den verschütteten Zugang zur eigenen Körperwahrnehmung wieder anzubahnen; unterscheiden zu lernen, welches Zittern hochkommt oder die Feinheiten der Wahrnehmung innerer Organe gegen die Überflutung durch Lärm und Bilder zu verteidigen. Angst wahrnehmen Bei vielen Männern sind Entdeckungen nicht so beliebt, die eigenes Verhalten und eigene Grundsätze in Zusammenhang mit Angst bringen. Angst gilt nicht als salonfähig, schon gar nicht für einen Mann und erst recht nicht für einen in gewissen gesellschaftlichen Positionen oder bestimmten Rollen. Noch stärker als Frauen haben sie als Bub oder Jugendlicher mitbe- kommen, dass es ihre Pflicht ist, Angst niederzuhalten. Zunächst ist sie möglichst ungefragt zu überwinden und schliesslich nicht mehr zu spüren. Sie soll verdrängt werden und wird verdrängt. Aber auch für Frauen ist eigene Angst kein willkommenes Gefühl, und dem gesellschaftlichen Druck, nichts zu spüren, sind auch sie - vielleicht etwas anders und bei andern Themen - ausgesetzt. Wer nicht mehr hinsehen kann, was ihm denn Angst macht, verliert nicht die Angst, sondern den Zugang zu deren Botschaft!. Dann bleibt Angst im Menschen zurück, die er nicht zuordnen, nicht verstehen und deren Erkenntnis er also nicht nutzen kann. Angst wird zum bedrohlichen Hintergrundgefühl und verliert ihre Kraft, zu Veränderungen und zu Taten zu schreiten. Oft wird sie dann erst recht unterdrückt, sei es mit noch mehr Abhärtung, sei es mit angsthemmenden Medikamenten. Mit diesen wird jedoch nicht die angstmachenden Umstände besiegt, sondern nur deren Wahrnehmung unterdrückt. Mit Wegsehen ist bekanntlich keine Situation zu verändern. Die Erziehung zum Wegsehen erzeugt ihre eigenen Gefahren und Störungen. Denn Angst hat zunächst eine sinnvolle, lebenserhaltene Aufgabe. Schon vor jeder Vernunft und vor jedem „intelligenten“ Überblick über die „Sachlage“ informiert die Angst den ganzen Organismus, dass er auf erhöhte Reaktionsbereitschaft umstellen muss. Sie informiert, dass Gefahren in der gegenwärtigen Situation bestehen oder bestehen könnten, gegen die ich vorgehen sollte. Angst ist das körpereigene Frühwarnsystem. So betrachtet ist ein Abhärtungstraining eine katastrophale, gesellschaftliche Torheit: Es ist so, als würde in einem AKW die Alarmanlage abgestellt, damit alle ruhiger und sicherer an die Arbeit gehen können. Es gibt keinen Alarm, also besteht keine Gefahr. Angst ist nie objektiv“ Die Psychologie versuchte eine Abgrenzung herauszufinden, um gesunde Angst (Realangst genannt) von krankhafter Angst (neurotische oder eingebildete Ängste) zu unterscheiden. Dieses Ziel ist zunächst sicher sinnvoll; denn unbestritten gibt es Menschen, die an Ängsten leiden, die ihr Leben ungeheuer beeinträchtigen und für die es keine aktuellen Gründe - im Sinne von Gefahren in ihrem momentanen Leben - gibt. Es ist für sie ein grosser Segen, wenn sie sich von ihnen befreien können. Andererseits birgt der Versuch aber die Gefahr, dass sich der eine Mensch über den andern stellt und ihm die Berechtigung seiner Wahrnehmungen abspricht. Dies geschieht besonders leicht auch in der Erziehung. Wenn Rolli sich nicht auf den Pausenhof getraut, weil er Angst vor Schlägereien hat, nützt es ihm nichts, wenn ich sage, das sei nicht so schlimm, die Buben seien nicht so gewalttätig oder er solle nicht so „bubig“ tun, sondern halt zurückschlagen. Für mich, der nicht betroffen ist und sich nicht fürchtet, hat seine Angst zuwenig Berechtigung, um seine Weigerung zu rechtfertigen. Aber mit meiner Reaktion verschliesse ich vielleicht, dass er mir später von seinen Ängsten erzählt und isoliere ihn in seinen Ängsten. Vielleicht gelingt mir auch eine „Abhärtung“, so dass er seine Ängstlichkeit verdrängt und selber zum groben Schläger mutiert, wenn er etwas grösser und stärker ist. Hier geraten wir auf einen schmalen Grat: Welche Ängste sind denn berechtigt? Wer entscheidet darüber, ob eine Angst ein besonders gutes Gespür verrät oder den Ansatz zu einer lebensbehindernden Erkrankung ist. Umgang mit Angst Was sicher nichts bringt, ist obrigkeitlich zu bestimmen, wie gross eine Gefahr objektiv sei und wie berechtigt oder unberechtigt eine Angst. Tschernobil lehrte die, die sich wirklich mit dessen Auswirkungen auch heute noch zu befassen wagen, dass die „übertriebene“ Angst der Besetzer von KKW-Geländen keineswegs übertrieben ist; sondern dass die angeblich objektive Sicherheit dieser Anlagen als unverantwortbares Verdrängen tatsächlicher Gefahren gesehen werden kann. Wie viel Angst daraus resultiert, ist keine Fragestellung mehr, die objektiv zu beantworten ist. Dieses Beispiel führt uns aber zu einem weiteren Aspekt: Wir können auch die Frage stellen, ob jemand den Mut hat, Angst wahrzunehmen oder ob er aus Angst vor den Folgen, die Gefahr (und damit seine Angst) verdrängt. Oft wird gerade auch in Therapien deutlich, dass es einige persönliche Stärke braucht, sich den eigenen Ängsten zu stellen. Sich eigene Ängste einzugestehen, bedeutet auch den Mut haben, sich verunsichern zu lassen. In unserem Erziehungsbeispiel etwa ginge es darum, Rolli zu helfen deutlicher zu spüren, vor was er Angst hat und dann mit ihm zu besprechen, ob er nicht trotz seiner Angst versuchen kann, hinauszugehen. Vielleicht braucht er nicht so viel Sicherheit wie er meint. Vielleicht lernt er, seine Angst zu differenzieren und als Lotsen schätzen zu lernen. Vielleicht dient auch dem Lehrer oder den Eltern die Angst als Mittel, genauer hinzuschauen, was da eigentlich passiert. Natürlich ist dies anstrengender und unbequemer als den „Angsthasen“ abzuweisen. Angst in der Erziehung Erziehung und Schule haben ein merkwürdig ambivalentes Verhältnis zu Angst. Auf der einen Seite wird Angst kaum positiv bewertet, auf der andern Seite sind völlig angstfreie Schüler nicht eben beliebt; denn mit Angst wird - leider - sehr viel Erziehung, Verhaltenssteuerung und Motivation betrieben. Ein Schüler, der sich von Schelte, Strafaufgaben oder schlechten Noten wenig beeindrucken lässt, gilt bald einmal als schwierig oder gar schwer erziehbar. Bei genauer Untersuchung müssen wir feststellen, dass ein grosser Teil unserer institutionalisierten und unserer traditionellen Erziehung auf Angsterzeugung beruht. Strafe wirkt nur, wo sie abschreckt, d.h. Angst macht. Konkurrenz und Wettbewerb (Noten) wirken bei vielen nur „motivierend“, weil sie Angst haben vor dem Verlieren oder Unterliegen, Angst vor Blamage oder gar Angst vor der Einschränkung ihrer existentiellen Möglichkeiten (Zukunftsangst). So ist unsere Kultur durchsetzt von Angstmachern und Ausbeutung dieses Affektes. Diese Ausbeutung wird dadurch ermöglicht, dass Erziehung oft Angst von ihrer ursprünglichen Wahrnehmungsfunktion trennt (entfremdet) und damit nicht mehr sinnvoller Teil unserer Wahrnehmung ist: Oft löst sich eine Angst auf, wenn ich der Spur zurückgehe: Was ist wirklich gefährlich dabei? Was kann mir passieren? Ist es tatsächlich so schlimm, wenn eintrifft, was ich fürchte? Und welche eigenen Möglichkeiten stehen mir dann noch zur Verfügung,? Wieviel Sicherheit brauche ich denn wirklich? Wer würde mich unterstützen? An wen könnte ich mich wenden? (Oder warum nicht?) Selbstsicherheit gegen fremde Ver(un)sicherung Angst ist nichts objektives. Angst ist eine biologisch sinnvolle Reaktion und ein subjektives Wahrnehmungsorgan. Je mehr ich meine Wahrnehmungen durchspüren, durchschauen und in ihren Feinheiten erleben kann, desto mehr tragen sie zur Selbstsicherheit bei, sogar wenn es sich um Ängste handelt. Der Verlust oder die starke Einschränkung dieses Organismus hat weitreichende Folgen. Kinder können sich nicht mehr auf sich und ihr Gespür verlassen, sie finden den Halt nicht mehr in sich und werden dadurch manipulierbar und verführbar; in gewissen Sinne müssen wir leider auch sagen, erziehbar. Mit der Abstumpfung der Empfindungen und einer Erziehung (Bildung), die der Lehre (dem Wissen der anderen) - nur zu oft wenig hinterfragt - einen höheren Wahrheitsgehalt attestiert als dem eigenen Gespür, wird Selbstsicherheit und Selbstvertrauen unterhöhlt. Damit wird eine Bastion gegen aufgepfropfte Ängste geschleift. Dann kann Angst auch gezielt geschürt und Menschen „mit Hilfe ihrer Angst“ ausgebeutet werden. Wir schützen unsere Kinder am Besten, wenn wir diesen Wahrnehmungsapparat, ihren Körper mit seinem Gespür und Empfinden, als Seismographen der Atmosphäre und der herrschenden Stimmungen unterstützen. Dr. Rudolf Buchmann, Psychotherapeut SPV/ASP www. praxis-buchmann.ch
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