Lösung 2015-06-26 endg - Lehrstuhl für Strafrecht II

Examensklausurenkurs SS 2015
Prof. Dr. Brian Valerius
Lösung der Examensklausur vom 26. Juni 2015 Teil I Strafbarkeit des M(atthias) Tatkomplex 1: Ehestreit 1 Hinweis: Der erste Tatkomplex kann ebenso chronologisch aufgebaut und mit dem Versuch der
Ohrfeige durch Matthias begonnen werden. Es sollte dann hierfür jedoch wegen der geringen Bedeutung dieser (ohnehin auf Konkurrenzebene zurücktretenden) versuchten Körperverletzung nicht
zu viel Zeit und Raum verwendet werden.
I.
§§ 212 Abs. 1, 22 StGB 1.
Vorprüfung 2.
−
Nichtvollendung der Tat (+): F(ranziska) überlebt
−
Strafbarkeit des Versuchs (+): §§ 23 Abs. 1 Var. 1, 12 Abs. 1 StGB
Tatentschluss Vorsatz bzgl. des Grunddelikts des § 212 Abs. 1 StGB (+): Wille zur Verwirklichung eines
Straftatbestandes in Kenntnis aller seiner objektiven Tatumstände (§ 15 StGB)
hier (+): M nimmt bei dem Stich mit dem Klappmesser billigend in Kauf, F tödlich zu verletzen
3.
Unmittelbares Ansetzen (§ 22 StGB) der Täter setzt unmittelbar an, wenn er subjektiv die Schwelle zum „Jetzt geht es los“ überschritten und objektiv so zur tatbestandsmäßigen Angriffshandlung angesetzt hat, dass sie
ohne wesentliche Zwischenakte in die eigentliche Tatausführung einmündet
hier (+): Stich des M mit dem Klappmesser
4.
Rechtswidrigkeit Notwehr (§ 32 StGB) −
1
Notwehrlage: gegenwärtiger rechtswidriger Angriff
»
Angriff: jede durch menschliches Verhalten drohende Verletzung rechtlich geschützter Güter
»
gegenwärtig: Angriff steht unmittelbar bevor, hat bereits begonnen oder dauert
noch an
Angelehnt an BGH NStZ 2014, 451.
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hier (+): F schlägt gerade auf M ein, greift somit dessen Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit an und lässt sich von weiteren Schlägen nicht abbringen
»
rechtswidrig: im Widerspruch zur Rechtsordnung
hier (+): F ist ihrerseits nicht gerechtfertigt; von dem am Boden liegenden und gerade wehrlosen M geht kein gegenwärtiger Angriff mehr auf die Rechtsgüter der F
aus, nachdem die zudem „einzelne heftige Ohrfeige“ ihr Ziel verfehlt hat
−
Notwehrhandlung
»
erforderlich, d.h. geeignet und relativ mildestes Mittel
−
Messerstich des M geeignet, den Angriff der F sofort zu beenden (+)
−
relativ mildestes Mittel: es darf kein Mittel zur Verfügung stehen, das
ebenso effektiv ist, aber den Angreifer weniger beeinträchtigt
bei Schusswaffen oder ähnlich gefährlichen Mitteln – wie bei dem hier gebrauchten Klappmesser mit 10 cm langer Klinge – besteht das relativ mildeste Mittel zunächst darin, einen Warnruf abzugeben (hier z.B. den Messereinsatz zunächst anzudrohen); sodann ist eine gezielte, nicht tödliche Verteidigung gegen den Angreifer zulässig (hier z.B. der Stich in einen weniger
gefährlichen Körperteil); erst als letztes Mittel ist die ungezielte Verteidigung mit ggf. tödlichen Folgen für den Angreifer gestattet
der Verteidiger muss sich indessen nicht auf unsichere Verteidigungsmaßnahmen einlassen und darf sogleich zu einem ggf. tödlichen Mittel greifen,
wenn Warnung und gezielte Verteidigung die Verletzung des angegriffenen
Rechtsguts nicht auszuschließen vermögen
hier (+): der deutlich benommene M sticht – nach vorangegangener Androhung des Einsatzes seines Klappmessers – mit letzter Kraft zu, so dass
gegen F kein milderes effektives Abwehrmittel mehr bestand als blindlings
zuzustechen
»
geboten
−
sozialethisch zu beanstandendes Vorverhalten: besteht zwischen dem
Vorverhalten und dem rechtswidrigen Angriff ein enger zeitlicher und
räumlicher Ursachenzusammenhang und ist das Vorverhalten nach Kenntnis des jetzigen Verteidigers geeignet, einen Angriff zu provozieren, ist das
Notwehrrecht einzuschränken
in einem solchen Fall muss der Verteidiger nach der Drei-Stufen-Theorie
dem Angriff unter Umständen zunächst versuchen auszuweichen und sich
ansonsten auf Schutzwehr beschränken; zur (ggf. lebensgefährlichen)
Trutzwehr darf er nur übergehen, wenn andere Abwehrmöglichkeiten erschöpft oder mit Sicherheit aussichtslos sind; hierbei muss der Verteidiger
auch auf fremde (ggf. private) Hilfe zurückgreifen
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hier Gebotenheit (–): M hat die Reaktion der F durch den Versuch seiner
Ohrfeige provoziert und hätte zur Abwehr des folgenden Angriffs jedenfalls
zunächst seine vor der Küchentür stehenden Eltern um Hilfe rufen müssen
−
enge familiäre Beziehung zwischen Angreifer und Verteidiger: nach
eA ist bei Personen mit engen familiären Beziehungen wie vor allem unter
Ehegatten nur eine eingeschränkte Verteidigung nach der Drei-StufenTheorie zulässig, da das Recht zur Selbstverteidigung und die Beschützergarantenstellung aufeinandertreffen
diese Auffassung ist nach zunehmend vertretener aA allerdings bedenklich,
da sie einen Freibrief für Misshandlungen innerhalb der genannten Beziehungen gewähren könnte
hier nach eA Gebotenheit (–): auch insoweit wäre dann zu berücksichtigen,
dass M seine Eltern um Hilfe hätte rufen müssen
→ Notwehr (§ 32 StGB) jedenfalls (–)
→ Rechtswidrigkeit (+)
5.
Schuld (+) 6.
Kein Rücktritt (§ 24 StGB) −
kein fehlgeschlagener Versuch: fehlgeschlagen ist ein Versuch, wenn der Täter davon
ausgeht, dass er sein Ziel nicht erreicht hat und mit den ihm zur Verfügung stehenden
Mitteln nicht mehr oder zumindest nicht ohne zeitliche Zäsur erreichen kann
hier fehlgeschlagener Versuch (–): F ist lebensgefährlich verletzt und M könnte die F
auch umgehend mit seinem Klappmesser töten
−
Rücktrittsvoraussetzungen nach § 24 Abs. 1 StGB
»
unbeendeter/beendeter Versuch
−
unbeendet ist der Versuch, wenn der Täter nach seiner Vorstellung von der
Tat noch nicht alles getan hat, um den Taterfolg herbeizuführen
−
beendet ist hingegen der Versuch, wenn der Täter glaubt, alles getan zu haben, was nach seiner Vorstellung zur Vollendung der Tat notwendig oder
möglicherweise ausreichend ist
hier beendeter Versuch (+): M geht (zutreffend) von einer lebensgefährlichen
Verletzung der F aus
»
Verhindern der Vollendung gemäß § 24 Abs. 1 Satz 1 Var. 2 StGB: Täter muss
bewusst und gewollt eine Kausalreihe in Gang setzen, die für das Ausbleiben der
Vollendung zumindest mitursächlich ist
hier (–): F wird von den Rettungskräften gerettet, welche die von den Nachbarn
informierte Polizei vorbeigeschickt hat
»
ernsthaftes Bemühen, die Vollendung der Tat zu verhindern gemäß § 24 Abs. 1
Satz 2 StGB: Täter unternimmt alles, was in seinen Kräften steht und nach seiner
Überzeugung erforderlich ist, um die Vollendung der Tat zu verhindern
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der Täter kann sich dabei auch der Hilfe Dritter bedienen; stehen allerdings Menschenleben auf dem Spiel, muss der Zurücktretende sich um die bestmögliche
Maßnahme für die Erfolgsabwendung bemühen
hier (+): M bittet seine Eltern eindringlich, sofort einen Arzt zu rufen; es ist nicht
davon auszugehen, dass seine Eltern dieser Bitte nicht nachkommen
−
freiwillig: Rücktritt wird nicht durch zwingende Hinderungsgründe veranlasst, sondern
entspringt der eigenen autonomen Entscheidung des Täters
hier (+): eigene Entscheidung des M
→ Rücktritt (+)
7.
Ergebnis §§ 212 Abs. 1, 22 StGB (–)
II.
§§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 StGB 1.
Tatbestand a)
Objektiver Tatbestand −
des Grunddelikts des § 223 Abs. 1 StGB
»
körperliche Misshandlung (Var. 1): jede üble, unangemessene Behandlung, die
das körperliche Wohlbefinden oder die körperliche Unversehrtheit nicht nur unerheblich beeinträchtigt
hier (+): M verabreicht F einen Messerstich
»
Gesundheitsschädigung (Var. 2): Hervorrufen oder Steigern eines krankhaften
(pathologischen) Zustandes
hier (+): M verletzt die F lebensgefährlich
−
der Qualifikation des § 224 Abs. 1 StGB
»
Gefährliches Werkzeug (Nr. 2 Var. 2): jeder Gegenstand, der nach seiner objektiven Beschaffenheit und der Art seiner Verwendung im Einzelfall geeignet ist,
erhebliche Verletzungen hervorzurufen
hier (+): Klappmesser mit 10 cm langer Klinge als Stichwerkzeug
»
mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung (Nr. 5), die nach den Umständen des Einzelfalls objektiv generell (hM) geeignet ist, das Opfer in Lebensgefahr zu bringen
hier (+): Stich in den Oberkörper mit dem Klappmesser
b)
Subjektiver Tatbestand Vorsatz bezüglich des objektiven Tatbestandes sowohl des Grunddelikts des § 223 Abs. 1
StGB als auch der Qualifikation des § 224 Abs. 1 StGB (+)
nicht zuletzt agiert M sogar mit Tötungsvorsatz und hat daher auch Vorsatz in Bezug auf
§ 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB
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2.
Rechtswidrigkeit (+); vgl. oben 3.
Schuld (+) 4.
Ergebnis §§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 StGB (+)
III.
Konkurrenzen und Ergebnis § 224 Abs. 1 verdrängt § 223 Abs. 1 StGB im Wege der Spezialität; die (ursprünglich) versuchte Körperverletzung gemäß §§ 223 Abs. 1, 22 StGB durch die versuchte einzelne heftige Ohrfeige tritt ebenfalls hinter § 224 Abs. 1 StGB zurück
→ Strafbarkeit des M gemäß § 224 Abs. 1 StGB
Tatkomplex 2: Taxi A.
Faustschlag I.
§ 263 Abs. 1 StGB (–) hier bereits keine konkludente Täuschung des M gegenüber T(izian) über seine Zahlungswilligkeit zu Beginn der Taxifahrt, da M erst später bemerkt, sein Portemonnaie vergessen zu
haben
mangels Aufklärungspflicht bei einem gewöhnlichen Austauschverhältnis (hier: Beförderungsvertrag zwischen M und T) auch keine Täuschung durch Unterlassen (§§ 263 Abs. 1, 13
StGB), nachdem M erkannt hat, sein Portemonnaie vergessen zu haben
Hinweis: Die vorstehenden Ausführungen können auch unter zwei getrennten Überschriften (§ 263
Abs. 1 StGB und §§ 263 Abs. 1, 13 StGB) angesprochen werden. Wegen der Kürze der Erörterung
erscheint dies vorliegend aber nicht erforderlich.
II.
§§ 253 Abs. 1, 255 StGB 1.
Tatbestand a)
Objektiver Tatbestand −
Qualifiziertes Nötigungsmittel: Gewalt gegen eine Person oder Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben
hier Gewalt gegen eine Person: körperlicher Zwang durch unmittelbare oder mittelbare
Einwirkung auf einen anderen, die nach Vorstellung des Täters dazu bestimmt und geeignet ist, einen tatsächlich geleisteten oder erwarteten Widerstand zu überwinden oder
unmöglich zu machen
hier (+): M schlägt T mit einem kurzen Fausthieb bewusstlos
−
Nötigungserfolg (+): T unterlässt es, das Entgelt für die Taxifahrt weiter zu verlangen
−
str: Vermögensverfügung/Abgrenzung von Raub und räuberischer Erpressung
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»
Lit (+): Strukturverwandtschaft von Erpressung und Betrug, die jeweils den
Eintritt eines Vermögensnachteils des Opfers und Bereicherungsabsicht des Täters voraussetzen
es bedarf somit einer Vermögensverfügung, d.h. eines Tuns, Duldens oder Unterlassens, das sich unmittelbar vermögensmindernd auswirkt; aufgrund des notwendigen Selbstschädigungscharakters scheidet eine Erpressung daher aus, wenn
der Täter mit vis absoluta vorgeht
hier Vermögensverfügung (–): M schlägt T bewusstlos, so dass dessen Unterlassen, das Entgelt für die Taxifahrt weiter zu verlangen, kein selbstschädigendes
Verhalten darstellt
→ in Betracht kommt nur – da ein Raub bei Forderungen ausscheidet – eine
Strafbarkeit wegen Nötigung gemäß § 240 StGB
»
hA (–): aus der Ähnlichkeit des Wortlauts des § 253 Abs. 1 mit § 240 Abs. 1 StGB
folgt die Wesensverwandtschaft von Erpressung und Nötigung
→ keine Vermögensverfügung erforderlich; für die Erpressung genügt vielmehr
jedes durch eine Nötigung verursachte vermögensmindernde Verhalten
−
nach hA weiter mit Vermögensschaden (+): T entgeht das Entgelt für die erbrachte
Leistung der Taxifahrt
Hinweis: Wer der Literatur folgt, muss anschließend den Tatbestand der Nötigung durchprüfen (und bejahen). Wer der hA folgt, kann die Nötigung allenfalls im Rahmen der Konkurrenzen als zurücktretendes Delikt erwähnen.
b)
2.
Subjektiver Tatbestand −
Vorsatz (+)
−
Absicht stoffgleicher (hier: Eigen-)Bereicherung (+): M will sich das Entgelt für die Taxifahrt ersparen
−
Rechtswidrigkeit der erstrebten Bereicherung und Vorsatz diesbezüglich (+)
Rechtswidrigkeit und Schuld (+) insbesondere Verwerflichkeit gemäß § 253 Abs. 2 StGB (+); bei räuberischer Erpressung gemäß § 255 StGB indiziert
3.
Ergebnis §§ 253 Abs. 1, 255 StGB nach hA (+)
III.
§§ 253 Abs. 1, 255, 250 StGB 1.
Tatbestand a)
Objektiver Tatbestand −
des Grunddelikts der §§ 253 Abs. 1, 255 StGB (+)
−
der Qualifikation des § 250 Abs. 1 Nr. 1 lit. a StGB
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»
Waffe (Var. 1): Gegenstand, der als Angriffs- oder Verteidigungswerkzeug dazu
bestimmt ist, erhebliche Verletzungen hervorzurufen
hier (–): Klappmesser jedenfalls in seiner vorrangigen Funktion nicht für die Zufügung von Verletzungen bestimmt
»
gefährliches Werkzeug (Var. 2): an sich jeder Gegenstand, der nach seiner objektiven Beschaffenheit und der Art seiner Verwendung im Einzelfall geeignet ist,
erhebliche Verletzungen hervorzurufen (vgl. die Definition des § 224 Abs. 1 Nr. 2
Var. 2 StGB, auf die auch der Gesetzgeber hinwies)
Problem: Rückgriff auf diese Definition nicht möglich, da das Werkzeug nur bei
sich geführt wird, dem Wortlaut nach aber (anders als bei der gefährlichen Körperverletzung) nicht als Tatmittel eingesetzt werden muss
es kann somit im Einzelfall an der Verwendung fehlen, an deren Art die Gefährlichkeit gemessen werden könnte; allein die objektive Beschaffenheit genügt aber
nicht, da fast jeder Gegenstand in gefährlicher Weise verwendet werden kann
−
mM (subjektive Theorie): Täter muss dem Werkzeug eine generelle Bestimmung zur Verwendung gegen Menschen verleihen; Tatbestand insbesondere nicht auf Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anwendbar,
die der Täter in sozialadäquater Weise bei sich führt
Kritik: einengendes subjektives Merkmal nicht mit dem Wortlaut vereinbar;
zudem Absichtsmerkmal der Verwendung nur in §§ 244/250 Abs. 1 Nr. 1
lit. b StGB; lit. a soll bereits die abstrakt-objektive Gefährlichkeit von Diebstählen erfassen, bei denen der Täter ein gefährliches Werkzeug bei sich
führt
−
hM (objektive Theorien): Kriterien wie die objektive Zweckbestimmung
oder Beschaffenheit, unter anderem die Waffenähnlichkeit oder Waffenersatzfunktion bzw. die Gefährlichkeit des Werkzeugs
Kritik: keine trennscharfen Abgrenzungskriterien
hier stellt jedenfalls nach hM das Klappmesser wegen der Waffenersatzfunktion
ein gefährliches Werkzeug dar; nach mM kommt dasselbe Ergebnis jedenfalls
dann in Betracht, wenn auf einen generellen Verwendungsvorbehalt (siehe das
Geschehen im ersten Tatkomplex) abgestellt würde
»
Beisichführen: es reicht aus, dass dem Täter das gefährliche Werkzeug zu irgendeinem Zeitpunkt zwischen Versuchsbeginn und Beendigung (hM) des Raubes zur Verfügung steht
hier (+): M trägt das Messer ständig bei sich
Hinweis: Im ersten Absatz des Sachverhalts weisen die näheren Angaben zu dem Messer („Klappmesser mit 10 cm langer Klinge“) sowie die Bemerkung, dass M das Messer ständig bei sich trage,
darauf hin, dass eine Auseinandersetzung mit dessen Eigenschaft als gefährliches Werkzeug auch im
Rahmen von Diebstahl und Raub zu erfolgen hat. Wer den Sachverhalt insoweit für nicht aussage– Seite 7 von 13 –
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kräftig hält, weil nicht geschildert wird, ob M das Messer nach dem Stich gegen F wieder einsteckt
oder liegen lässt, kann dies gerne – wie bei jeder (ggf. auch nur vermeintlichen) Unklarheit des Sachverhalts – kurz in seiner Lösung kurz aufgreifen. Auf den im Raum stehenden Meinungsstreit wäre
allerdings gleichwohl (wenn auch nur verkürzt) einzugehen.
b)
Subjektiver Tatbestand −
bezüglich des Grunddelikts der §§ 253 Abs. 1, 255 StGB (+)
−
bezüglich der Qualifikation des § 250 Abs. 1 Nr. 1 lit. a StGB (+); aA mit guter Begründung vertretbar, wenn dem M während der Tat das Bewusstsein abgesprochen wird,
sein Klappmesser bei sich zu tragen; allerdings genügt nach allgemeinen Grundsätzen
für den Vorsatz an sich ein ständiges Begleitwissen
2.
Rechtswidrigkeit und Schuld (+) 3.
Ergebnis §§ 253 Abs. 1, 255, 250 Abs. 1 Nr. 1 lit. a StGB (+)
IV.
§ 316a Abs. 1 StGB 1.
Tatbestand a)
Objektiver Tatbestand −
Angriff auf Leib und Entschlussfreiheit (+): M schlägt T bewusstlos
−
Angriff auf Führer eines Kraftfahrzeugs: ein Kraftfahrzeug führt, wer das Fahrzeug in
Bewegung zu setzen beginnt, es in Bewegung hält oder allgemein mit dem Betrieb des
Fahrzeugs und/oder mit der Bewältigung von Verkehrsvorgängen beschäftigt ist
hält der Fahrer des Kraftfahrzeugs an, ist nach BGH zu unterscheiden
−
»
verkehrsbedingter Halt: in der Regel Führereigenschaft des Fahrers (+)
»
nicht verkehrsbedingter Halt (wie hier bei dem Halt am Straßenrand gegenüber
einer Kneipe aus freien Stücken ohne Einwirkung des Verkehrs): Fahrer führt so
lange ein Kraftfahrzeug, wie der Motor läuft → (+)
Ausnutzen der besonderen Verhältnisse des Straßenverkehrs: bei dem Führer eines
Kraftfahrzeugs ist hiervon auszugehen, wenn er im Zeitpunkt des Angriffs noch in einer
Weise mit der Beherrschung seines Kraftfahrzeugs und/oder mit der Bewältigung von
Verkehrsvorgängen beschäftigt ist, dass er gerade deshalb leichter zum Angriffsobjekt
eines Überfalls werden kann
hält der Fahrer des Kraftfahrzeugs an, ist nach BGH zu unterscheiden
»
verkehrsbedingter Halt: Ausnutzen in der Regel (+), da Fahrer auf Fortsetzung
seiner Fahrt wartet
»
nicht verkehrsbedingter Halt (wie hier): notwendige Erschwerung der Gegenwehr nicht allein aufgrund laufenden Motors anzunehmen; vielmehr bedarf es zusätzlicher Umstände, die ein Ausnutzen der besonderen Verhältnisse des Straßenverkehrs begründen
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hier (+): T zückt zwar einerseits seine Geldbörse, um das Entgelt für die Fahrt zu kassieren, beschäftigt sich also insoweit nicht mit Verkehrsvorgängen; andererseits hält er
am Straßenrand und somit auf einer öffentlichen Verkehrsfläche, so dass er nach wie
vor den Verkehr zu beachten hat; aA vertretbar
b)
Subjektiver Tatbestand −
Vorsatz (+)
−
Absicht zur Begehung eines Raubes, eines räuberischen Diebstahls oder einer räuberischen Erpressung
hier (+): M will aus dem Taxi des T steigen, ohne dass T seine Forderung geltend
macht, und somit (siehe oben) eine räuberische Erpressung begehen
2.
Rechtswidrigkeit und Schuld (+) 3.
Ergebnis § 316a Abs. 1 StGB (+)
V.
§§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 StGB 1.
Tatbestand −
körperliche Misshandlung (§ 223 Abs. 1 Var. 1 StGB): kräftiger Fausthieb gegen T
(+)
−
Gesundheitsschädigung (§ 223 Abs. 1 Var. 2 StGB): T wird bewusstlos (+)
−
mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung (§ 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB): bei
Bewusstlosigkeit von nur kurzer Zeit wohl (–); aA vertretbar
−
Subjektiver Tatbestand (+)
2.
Rechtswidrigkeit und Schuld (+) 3.
Ergebnis § 223 Abs. 1 StGB (+), je nach Begründung auch § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB; falls § 224 Abs. 1
StGB wie hier verneint wird, ist ein Strafantrag gemäß § 230 Abs. 1 Satz 1 StGB erforderlich
VI.
§ 239a Abs. 1 StGB 1.
Tatbestand hier Tathandlung des Sich-Bemächtigens (Var. 1): Täter erlangt physische Gewalt über das
Opfer gegen dessen Willen; anders als für das Entführen ist eine Ortsveränderung nicht erforderlich
hier wohl (+): M schlägt T bewusstlos
dies führte allerdings dazu, dass § 239a StGB auch Nötigungen ohne weitergehenden Unrechtsgehalt erfasste, was angesichts der hohen Mindestfreiheitsstrafe sowie der vorverlagerten
Vollendungsstrafbarkeit in Var. 1 Wertungswidersprüche begründete
im Zwei-Personen-Verhältnis (wie hier zwischen M und T) wird daher der Tatbestand nach
hM dergestalt teleologisch reduziert, dass zwischen dem ersten Teilakt des Entführens bzw.
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des Sich-Bemächtigens und dem zweiten Teilakt der angestrebten Erpressung ein funktionaler Zusammenhang gefordert wird; der Täter muss also die durch den ersten Teilakt für das
Opfer geschaffene Lage für das weitere Vorgehen ausnutzen, was eine gewisse Stabilisierung
der Bemächtigungslage voraussetzt
hier (–): die Bemächtigungslage wird durch das qualifizierte Nötigungsmittel der Gewalt gegen
eine Person durch den kräftigen Fausthieb geschaffen, auf die auch die erpresste Handlung
des Unterlassens der Geltendmachung des Entgelts für die Taxifahrt zurückzuführen bleibt
der Bemächtigungslage kommt somit keine eigenständige Bedeutung zu; vielmehr fallen Bemächtigungs- und Nötigungsmittel zusammen, so dass es an dem erforderlichen funktionalen
Zusammenhang fehlt
2.
Ergebnis § 239a Abs. 1 StGB (–)
Hinweis: Diese Ausführungen können recht knapp geschehen, zumal hierauf an sich nur einzugehen hat, wer oben (Tatkomplex 2, II. 1. a)) der hA folgt und eine Erpressung bejaht.
VII. Konkurrenzen und Ergebnis § 255 StGB verdrängt als Qualifikation das Grunddelikt des § 253 StGB; § 250 StGB verdrängt an sich wiederum als Qualifikation § 255 StGB, der allerdings zur Abgrenzung von
§(§ 249,) 250 StGB (hier: „schwere räuberische Erpressung“) mitzitiert wird
→ Strafbarkeit des M gemäß §§ 255, 250 Abs. 1, § 316a Abs. 1, § 223 Abs. 1, § 52 StGB
B.
Rückkehr und Wegnahme der 100 € I.
§ 249 Abs. 1 StGB (vorheriger Fausthieb) 1.
Tatbestand −
Nötigungsmittel „Gewalt gegen eine Person“
hier (+): kräftiger Fausthieb des M gegen T
−
fremde bewegliche Sache (+): 100 € im Eigentum des T
−
Wegnahme: Bruch fremden und Begründung neuen, nicht notwendig tätereigenen
Gewahrsams
hier (+): M nimmt aus der Geldbörse des T 100 € und steckt diese ein; dadurch verbringt er das Geld in seine Gewahrsamsenklave, so dass schon zu diesem Zeitpunkt
der Diebstahl vollendet ist
−
Finalzusammenhang zwischen Gewalt und Wegnahme
hier (–): M schlägt T nicht nieder, um das Geld zu entwenden; diesen Entschluss erfasst
er erst in wenigen Metern Entfernung vom Taxi
2.
Ergebnis § 249 Abs. 1 StGB durch den Fausthieb (–)
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II.
§ 249 Abs. 1 StGB (Ausnutzen des bewusstlosen Zustandes) Gewalt gegen eine Person durch Ausnutzen des bewusstlosen Zustandes (–), da die körperliche Zwangswirkung durch den kräftigen Fausthieb nicht aktiv aufrechterhalten wird
anders als bei Einsperren oder Fesselung eines Opfers kann hier auch nicht davon gesprochen
werden, dass der Täter als Garant die andauernde Wirkung seines Nötigungsmittels beseitigen
könnte und anderenfalls „Gewalt durch Unterlassen“ anwendet
III.
§ 242 Abs. 1 StGB 1.
Tatbestand a)
Objektiver Tatbestand hier (+); vgl. oben
b)
Subjektiver Tatbestand −
Vorsatz bzgl. der objektiven Tatbestandsmerkmale (+)
−
Zueignungsabsicht: Zueignung als Anmaßung eigentümerähnlicher Stellung durch
»
zumindest vorübergehende Einverleibung der Sache in das (Eigen- oder Dritt-)
Vermögen (Aneignung; Absicht erforderlich) und
»
dauerhafte Entziehung der Sache oder des in ihr verkörperten Sachwertes (Enteignung; bedingter Vorsatz genügt)
hier (+): M will von den 100 € eine Taxifahrt nach Hause bezahlen
−
Rechtswidrigkeit der Zueignung und Vorsatz diesbezüglich (+): kein durchsetzbarer
und fälliger Anspruch des M auf das Geld, was er auch weiß
2.
Rechtswidrigkeit und Schuld (+) 3.
Strafzumessung hier: besonders schwerer Fall des Diebstahls gemäß § 243 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 StGB
−
hilflos ist, wer aufgrund eines persönlichen Schwächezustands nicht in der Lage ist, aus
eigener Kraft die Wegnahme einer Sache zu verhindern bzw. zu erschweren
hier (+): Bewusstlosigkeit des T
−
ausnutzen: Täter macht sich den Schwächezustand des Opfers bewusst zu Nutzen
hier (+): M will die günstige Gelegenheit nutzen
−
Vorsatz analog §§ 15, 16 Abs. 1 Satz 1 StGB (+)
−
kein Ausschluss gemäß § 243 Abs. 2 StGB (+)
→ § 243 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 StGB (+)
4.
Ergebnis § 242 Abs. 1 i.V.m. § 243 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 StGB (+)
IV.
§§ 242 Abs. 1, 244 Abs. 1 Nr. 1 lit. a StGB hier (+); vgl. oben (wenn davon ausgegangen wird, dass M das Messer auch hier bei sich trägt
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V.
Ergebnis § 242 Abs. 1 i.V.m. § 243 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 StGB tritt hinter § 244 Abs. 1 Nr. 1 lit. a StGB
zurück
→ Strafbarkeit des M gemäß § 244 Abs. 1 StGB
Gesamtergebnis Strafbarkeit des M gemäß § 224 Abs. 1; §§ 255, 250 Abs. 1, § 316a Abs. 1, § 223 Abs. 1, § 52; § 244
Abs. 1; § 53 StGB
Teil II Frage 12 −
Macht ein Zeuge in der Hauptverhandlung von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch,
ergibt sich aus § 252 StPO nicht nur das dort normierte Verlesungsverbot (dies folgt nämlich
bereits aus § 250 Satz 2 StPO), sondern grundsätzlich ein umfassendes Verwertungsverbot.
hier (+): F als Ehefrau des Angeklagten M zeugnisverweigerungsberechtigt gemäß § 52 Abs. 1
Nr. 2 StPO
−
Etwas anderes gilt nach BGH nur dann, wenn der Zeuge nach ordnungsgemäßer, qualifizierter Belehrung zwar von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch macht, die Verwertung
der früheren Aussage jedoch gestattet. In diesem Fall wäre die Schwelle des § 252 StPO
überwunden und die Verwertung – nach allgemeinen Regeln – zulässig.
hier (–): F gestattet die Verwertung ihrer ermittlungsrichterlichen Vernehmung nicht
−
Das umfassende Verwertungsverbot des § 252 StPO äußert sich darin, dass eine frühere Aussage auch nicht durch die Vernehmung einer nichtrichterlichen Verhörperson (Polizeibeamter,
Staatsanwalt) in die Hauptverhandlung eingeführt werden darf. Bei richterlichen Verhörpersonen erachtet die hM hingegen eine Vernehmung für zulässig, da die StPO der richterlichen Vernehmung im Ermittlungsverfahren ein höheres Vertrauen entgegenbringt (siehe
§ 251 Abs. 1 und 2, § 254 StPO). Dies setzt voraus, dass
−
der Zeuge auch bei seiner früheren richterlichen Vernehmung als Zeuge vernommen
wurde,
−
das Zeugnisverweigerungsrecht schon zur Zeit der früheren Vernehmung bestanden hat
und nicht erst nachträglich entstanden ist und
−
der Zeuge wirksam gemäß § 52 Abs. 3 StPO belehrt wurde und wirksam auf sein Zeugnisverweigerungsrecht verzichtet hat.
hier (+): F hat nach ordnungsgemäßer Belehrung durch Ermittlungsrichter E(mil) im Ermittlungsverfahren gegen ihren schon damals angetrauten Ehemann M ausgesagt
2
Angelehnt an BGH 2. StrS NStZ 2014, 596 = Jura 2015, 220.
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−
fraglich kann allenfalls mit dem Vorbringen von V(iktor) sein, ob E die F nicht nur (einfach)
über ihr Zeugnisverweigerungsrecht, sondern auch (qualifiziert) darüber hätte belehren
müssen, dass ihre Aussage durch die Vernehmung der richterlichen Verhörsperson selbst
dann verwertbar bleibt, wenn sie sich in der Hauptverhandlung auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht beruft
dies hat vor kurzem der zweite Strafsenat unter Hinweis auf die Regelung des § 52 StPO vertreten, wonach niemand gezwungen sein soll, aktiv zur Überführung eines Angehörigen beizutragen, weil der Zwang zur Belastung von Angehörigen mit dem Persönlichkeitsrecht des
Zeugen unvereinbar wäre wie ein gegen den Zeugen geübter Zwang zur Selbstbelastung; hinter diesem persönlichen Interesse des Zeugen träte das öffentliche Interesse an möglichst unbehinderter Strafverfolgung zurück; vor diesem Hintergrund sei der Zeuge auch darüber zu
belehren, dass er bei einer richterlichen Vernehmung im Ermittlungsverfahren zu diesem
Zeitpunkt endgültig und unwiderruflich über die Wahrnehmung des ihm zustehenden Zeugnisverweigerungsrechts zu entscheiden hat.
Den entsprechenden Anfragebeschluss haben sämtliche anderen Senate3 indessen ablehnend
beantwortet. Unter anderem fehle es an einer entsprechenden gesetzlichen Grundlage und bezwecke § 252 StPO auch nicht den Schutz des Angeklagten. Die §§ 52, 252 StPO sollen lediglich den Zeugen vor der Verpflichtung schützen, als Angehörige den Beschuldigten wahrheitsgemäß zu belasten, und sichern zudem, dass der Zeuge eine einmal getätigte Aussage
auch noch in der Hauptverhandlung für ihn folgenlos wieder rückgängig machen kann, ohne
sie durch eine neue Aussage ersetzen zu müssen, bei deren Abgabe er wiederum dem Spannungsfeld zwischen Wahrheitspflicht und Näheverhältnis ausgesetzt wäre.
Hinweis: Die vorstehenden abschließenden Ausführungen zum Anfragebeschluss des zweiten
Strafsenats und den Antworten der anderen Senate sind ausführlicher als der maximale Erwartungshorizont. Es genügt, die im Sachverhalt ausdrücklich aufgeworfene Frage aufzugreifen und sich um
Argumente für und gegen die von V vorgetragene Ansicht zu bemühen.
Frage 24 −
Bei der Vernehmung des Ermittlungsrichters dürfen nur dessen Bekundungen aus eigener
Erinnerung verwertet werden. Zwar darf ihm das Vernehmungsprotokoll – notfalls durch
Verlesen – vorgehalten werden. Verwertbar ist aber nur das, was auf den Vorhalt hin in die
Erinnerung des Richters zurückkehrt. Hingegen darf nicht der Inhalt der Niederschrift selbst
für die Beweiswürdigung herangezogen werden.
−
§ 253 StPO, der nach hM eine ergänzende Verlesung des Protokolls zum Zweck des Urkundsbeweises gestattet, ist nur gegenüber Personen anwendbar, deren Aussage selbst in dem
zu verlesenden Protokoll festgestellt wurde (siehe auch den Wortlaut des § 253 StPO).
3
4
Siehe etwa den 4. Strafsenat in NStZ-RR 2015, 48 und den 5. Strafsenat in NStZ-RR 2015, 118.
Angelehnt an BGH NStZ 2013, 479.
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