Subjektive Aspekte von Exklusion

04/2015 soziale psychiatrie
überleben in der psychosozialen arbeit
Subjektive Aspekte von Exklusion –
und die Sozialpsychiatrie?
Vo n C h r i st i a n R e u m s c h ü s s e l – Wi e n e r t
ber Inklusion und Exklusion ist in den
letzten Jahren viel geredet und geschrieben worden. Dabei wird jedoch kaum
zur Kenntnis genommen, dass Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler
(nicht nur) in Deutschland Exklusionsprozesse seit einigen Jahren intensiv beforschen.
Sie beziehen sich hierbei auf »Karrieren« von
Menschen, die mehr oder weniger dauerhaft
arbeitslos und im Bezug von Grundsicherungsleistungen des Arbeitslosengelds (ALG) II
(»Hartz IV«) sind.
Sozialwissenschaftliche Befunde
zur Exklusion
Untersucht werden die Folgen, die diese prekären Lebenserfahrungen für die betroffenen Menschen haben bzw. wie diese mit ihren Lebensumständen umgehen. Im Gegensatz zu vielen epidemiologischen Fragestellungen, die oft um die Thesen der »sozialen
Verursachung« (»social shift«) versus »soziale Selektion« (»social drift«) von Krankheiten
kreisen, steht hier, seit den berühmten Studien von Marie Jahoda u.a. (1975) über die »Arbeitslosen von Marienthal« in den 1930erJahren, die Wechselwirkung vom Subjekt im
Austausch mit seiner Umwelt im Fokus. Zentrale Faktoren, die einen Einfluss auf Gesundheit haben, sind der sozioökonomische
Status (Bildung, Beruf, Einkommen) sowie
miteinander in Beziehung stehende materielle und psychosoziale (Risiko-)Faktoren,
die – auch indirekt – Verhalten und Gesundheit beeinflussen. Berücksichtigt wird allerdings auch eine zeitliche Dimension bzw.
eine Lebenslaufperspektive sowie »Karrieren«. Exklusion ist kein kausaler Prozess und
stellt auf individuell-biografischer Ebene keine Zwangsläufigkeit dar. Eine je unterschiedliche Teilhabe in gesellschaftlichen Teilbereichen kann sich kompensatorisch auf andere
auswirken: Armut ist kompensierbar durch
Einbezogenheit in Familie bzw. soziale Netzwerke. Arbeitslosigkeit ist kompensierbar
durch ehrenamtliche Tätigkeit. Beziehungen
sind kompensierbar durch Konsum. Aber alles in Grenzen.
Eine erste Annäherung bieten Natalie
Grimm u.a. (2013) an. Sie beschreiben eine
Zone der Entkoppelung (Castel) am Arbeitsmarkt, in der die Grenzziehung zwischen
innen und außen der Arbeitswelt verschwimmt. In dieser bewegen sich zahlreiche
Menschen, die ein so genanntes »Zwischenzonenbewusstsein« herausgebildet haben,
welches widerspiegelt, sich nicht als erwerbstätig definieren zu können und sich
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nicht als Hilfebedürftiger definieren zu wollen. Allerdings ist die mentale Aneignung
der prekären Lebenslage durchaus unterschiedlich und pendelt zwischen der Wahrnehmung als Chance zur (beruflichen) Neuorientierung, die mit großem Elan angegangen wird, einem Leben als »Jobnomade« mit
unsteten Beschäftigungsverhältnissen oder
der Bildung von traditionellen Orientierungen und Rollen (z.B. Mutter, Rentner, Nichtarbeiter) bis hin zu Verweigerungshaltungen –
auch radikalerer Art. Aber oft kommt es vor,
dass Menschen im Verlauf ihres Hartz-IV-Bezugs abdriften und die Orientierung für ihren Lebensweg verlieren. Sie sind zunehmend demoralisiert, ohne Perspektive und
können anscheinend ohne fremde Hilfe keinen Tritt mehr fassen.
Abwärtsspirale durch Hartz IV
Auch andere Studien beschäftigen sich mit
subjektiver Verarbeitung (Bedeutung) von
derartigen Prozessen des Hilfebezugs bzw.
Maßnahmen des Sozialgesetzbuchs (SGB) II
(Grundsicherung für Arbeitsuchende/Hartz
IV). Für die betroffenen Menschen kann ein
Leben im Hilfebezug, je nach biografischem
Hintergrund und zur Verfügung stehender
informeller Netzwerke, unterschiedliche Bedeutung annehmen. Sie reicht von apathisch-defätistischer Resignation bis hin zu
einer Chance der Neuorientierung. Zwar
wird von vielen die Arbeitslosigkeit und der
Hilfebezug als biografieadäquat wahrgenommen und mit Lebenshilfeerwartungen
sowie Erwartungen an »Employability« verbunden, bei anderen jedoch werden die
Maßnahmen in eine resignative Exklusionsperspektive integriert und als Autonomieverlust bzw. Entmächtigung wahrgenommen. Eine besondere Rolle hierbei spielt ein
»Exklusionserleben durch Inklusion«, das
Gefühl, in eine ohnehin zweck- und sinnlose
(Fort-)Bildungsmaßnahme geparkt zu werden. Hier generieren die Hilfeangebote des
SGB II subjektseitig das Gegenteil ihres ursprünglichen Zwecks, nämlich den inneren
Rückzug gegenüber den gesetzlichen Aktivierungsbestrebungen.
Auch bei vorhandener Motivation zur Aufnahme von Minijobs oder anderen Arbeitsgelegenheiten zur Aufbesserung des Einkommens bedeutet für viele Menschen
Grundsicherung Verzicht und Einschränkung. Andreas Hirseland und Philipp Ramos
Lobato (2010) beschreiben dies in den Bereichen Ernährung, Kleidung, Mobilität, Kommunikations- und Informationsmedien, Freizeit und Erholung, Gesundheitsversorgung,
soziale und kulturelle Aktivitäten, Familienfeierlichkeiten, Energieverbrauch, Wohnen
und Bildung. Darüber hinaus wird im Laufe
von Exklusionskarrieren der Zugang zu sozialen Netzwerken (Bekannte, Freunde, Familie) eingeschränkt und damit gehen wesentliche Kompensationsmöglichkeiten bzw.
Ressourcen verlustig.
Foto: Klaus Uwe Gerhardt, pixelio.de
Ü
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absehbaren Folgen – aufgenommen und
auch zahlungsintensive Investitionen in Kinder (z.B. Bücher, Sportverein, Reisen) werden
zurückgefahren.
bezogenes Arbeitsvermögen in negativen
Devolvierungsdynamiken wechselseitig verstärken«. Erforderlich seien eher sozialpädagogisch ausgerichtete Unterstützung, aber
auch solche Aktivierungsangebote, die eine
nachhaltige, an Kriterien der Beruflichkeit
ausgerichtete Qualifizierungschance eröffnen.
Die Kasseler Soziologen Heinz Bude und
Ernst-Dieter Lantermann beschreiben in ihren Studien Exklusionskarrieren, in denen
sich zunehmende Exklusion kumulierend zu
einem »Circulus vitiosus« entwickeln, der
Exklusionserfahrungen:
ein »Circulus vitiosus«
Die Forschungsergebnisse legen nahe, dass
Exklusionserfahrungen dazu führen, dass
sich Einschränkungen verfestigen. Zum einen in Orientierungen hinsichtlich sozialer
Netzwerke. Hier wird berichtet, dass nach
Foto: Berthold Bronisz, pixelio.de
Entscheidend bei »Abwärtsspiralen« ist,
dass vielen Menschen mit der Zeitdauer des
Hilfebezugs bestimmte Kompetenzen und
Orientierungen abhandenkommen. Entwickelt wird dies anhand der Kategorie des
»Arbeitsvermögens«. Sie bildet die Grundlage von Handlungsfähigkeit bzw. »die subjektive, habituelle, leibliche Seite der Arbeit,
umfasst Erfahrungs- und inkorporierte Wissensbestände ›unterhalb‹ der Ebene formaler Zertifikate«, also nicht nur in der Sphäre
formaler oder informeller »Arbeit«, sondern
auch in der Sphäre der Organisation des alltäglichen Lebens. Hirseland und Ramos Lobato unterscheiden: Erwerbsorientiertes Arbeitsvermögen wird als Aneignungssphäre
begriffen, in der es um alle erwerbsähnlichen Formen von Arbeit geht, als abhängige
formelle Arbeit, prekäre Beschäftigungen,
Freiberuflichkeit, Trainings, aber auch informelle Arbeit inklusive Schwarzarbeit. Zum
lebensweltorientierten Arbeitsvermögen zählen Tätigkeiten der direkten Lebensorganisation wie Ernährung, Wohnen, Finanzorganisation, Strukturierung des Alltags, Wahrnehmung von Hobbys und Ehrenämtern sowie
auch die Organisation lebensweltlicher sozialer Beziehungen und Netzwerke.
Die weiteren Kategorien »involviert« oder
»devolviert« reflektieren die subjektive Orientierung der Zugehörigkeit, also inwieweit
die Betroffenen eine der eben genannten Kategorien für sich als relevant thematisieren
oder sich mit diesen Praxisfeldern aktiv oder
auch nicht mehr auseinandersetzen.
Die Ergebnisse dieser Untersuchung sind
ernüchternd: Lediglich eine Minderheit der
Befragten konnte sich während der Dauer
aus dem Hilfebezug befreien, alle anderen
blieben – auch bei Aufnahme von versicherungspflichtiger Beschäftigung – von Hilfeleistungen weiter abhängig. Bei vielen der
Befragten führten die Hartz-IV-Maßnahmen
nicht zu einer Motivierung zur Teilhabe am
Arbeitsleben, sondern eher zum Gegenteil.
Eine derartige Orientierung kann anscheinend nicht durch die Maßnahmen hergestellt werden, sondern ist von biografischen
Erfahrungen, Ressourcen (inklusive Netzwerken) abhängig.
Bei vielen führt Hartz-IV-Bezug zu erheblichen Einschränkungen im alltäglichen Leben. Es wird von Situationen wie leeren
Kühlschränken zur Monatsmitte, unterbrochene Wasser- und Energieversorgung, Abmelden von Telefonanschlüssen, Ablehnung
von Einladungen oder Familienfeiern, Nichtinanspruchnahme von Gesundheitsleistungen berichtet. Für eine Reihe von Befragten
ist die durch Armut indizierte Anforderung
an das häusliche Finanzmanagement ein
großes Problem. Zahlungstermine werden
nicht eingehalten, Kredite werden – mit un-
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Flaschenpfand
langen Entbehrungen auch dann, wenn wieder eine Beschäftigung erreicht worden ist,
die sozialinvestiven Ausgaben (z.B. soziale
Kontakte, verbunden mit gemeinsam ins
Kino/essen gehen) und entsprechende Orientierungen stark abnehmen und an subjektiver Relevanz verlieren. Soziale Kontakte
werden nicht mehr wichtig und soziale Isolation nimmt zu. Zusammen mit den Verlusten an Fähigkeiten und Kompetenzen führen auch andauernde Bewältigungsversuche
zu psychosozialen Belastungen, alltägliche
Knappheit, Bedrängnis und Deprivation werden als Ursache von »Depressionsempfinden« wahrgenommen.
Hirseland und Ramos Lobato kommen zu
dem Ergebnis, »dass die Reintegration in stabile Beschäftigung selbst bei vorhandenen
objektiven Chancen vor allem dort erschwert
wird, wo sich lebensweltliches und erwerbs-
eine stärker werdende Dynamik entfaltet.
Sie definieren »Exklusionsempfinden« als
ein Empfinden, das sich mit Gesellschaft
ausdrücklich in Beziehung setzt, nämlich als
»Ausgeschlossensein vom Ganzen der Gesellschaft« bzw. wie eine »Exklusionskonstellation […] in ein entsprechendes Exklusionsempfinden mündet, wie eine Person die
künftige Entwicklung ihrer mehr oder weniger prekären Lebenslage pessimistisch beurteilt und die momentane Lage zugleich negativ bewertet«.
Im Rahmen eines ressourcenorientierten
Ansatzes werden »externe Ressourcen« –
Höhe des verfügbaren Einkommens, schulische/berufliche Bildung, Karrierestufe bzw.
Position, partnerschaftliche Einbindung sowie Alter und Geschlecht – betrachtet. Als
prekäre Lebenslagen, im Sinne von positiv
oder negativ bewertete oder antizipierte Ent-
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Foto: Andreas Köckeritz, pixelio.de
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Street Art
wicklungen, wurden erhoben: Wohlstand,
Erwerbssituation, soziale Vernetzung, (Institutions-)Vertrauen sowie psychischer und
physischer Gesundheitszustand. Als »interne Ressourcen« wurde Kohärenzsinn und
Unbestimmtheitsorientierung einbezogen.
Dies wird im Folgenden expliziert. Zunächst
jedoch: Die Herausforderungen des modernen prekären Lebens mit seinen Chancen
und Bedrohungen sind für viele Menschen
eine bereichernde Herausforderung, für andere eine Angst auslösende Bedrohung und
für wiederum andere eine unlösbare Aufgabe. »Man sieht sich von Komplexität überwältigt und verfällt darüber in eine Stimmung der Indifferenz. Die Verhältnisse haben sich gegen einen verschworen, wie auch
immer es man angeht, es führt zu nichts.«
Selbstsorge und Ressourcen
Anhand eines Konzeptes zur Selbstsorge
konzipieren Bude und Lantermann (2008)
Vertrauen und Kompetenzen als wesentliche
Ressourcen zum Umgang mit Unsicherheit.
Vertrauen ist für sie eine wichtige Resilienzressource, die in drei Dimensionen aufgefächert wird:
– als Systemvertrauen, das auf Institutionen
der sozialen Sicherung und der ihnen innewohnenden Verfahren gerichtet ist,
– als Sozialvertrauen, das auf soziale Netzwerke, auf solidarische Unterstützung
durch Familie, Freunde und Bekannte gerichtet ist, und
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– als Selbstvertrauen, das auf eigene Kraft,
Probleme angemessen lösen zu können,
gerichtet ist.
Die drei Dimensionen des Vertrauens können gegebenenfalls gegenseitig kompensiert werden.
Im Anschluss an Aaron Antonovski (1997)
werden als individuelle Kompetenzen gesehen:
– Ungewissheitsorientierung bzw. Ambiguitätstoleranz, d.h. das Vermögen, mit widersprüchlichen Lebenslagen und Situationen
produktiv umgehen zu können;
– Ziel- und Handlungsorientiertheit, also sein
Leben bzw. einige Aspekte desselben bewusst angehen zu können;
– Selbstregulation als Fähigkeit, sich selbst in
einer gewissen Balance zu halten, verbunden mit einem »Sense of Coherence«, das
ist die Fähigkeit, sich und die Welt als zusammenhängend und sinnvoll zu erleben;
– kommunikative Kompetenz als Fähigkeit,
sich selbst darstellen zu können, Beziehungen in sozialen Kontakten, auch in formeller Hinsicht, aufnehmen zu können, »sowie das Vermögen, sich trotz Niederlagen
und Enttäuschungen als eine Person von
Respekt und Achtung darzustellen«.
Beide Arten (Dimensionen) von Ressourcen
sind sehr wesentlich im Umgang mit prekären Lebenslagen. »Vertrauen und Kompetenzen sind Resilienzressourcen und schützen
Menschen davor, sich hilflos und ausgeliefert zu erleben, sich selbst zu vernachlässigen und mangelnde Selbstsorge zu betreiben.« Aber das gelingt eben nicht allen Menschen. Denn: »Je prekärer die Lebenssituation ist und je länger diese anhält, desto stärker nehmen die Kompetenzen zur Selbststeuerung und Unbestimmtheitsregulation
ab.« Ein allzu starkes Vertrauen in Institutionen verführt anscheinend zu einem Nachlassen von Eigeninitiative und Selbstsorge.
Verbunden hiermit sind »fatalistische Bewältigungsstrategien« und ein Nachlassen von
»selbstinitiierten Lernaktivitäten«, die mit
zunehmendem Exklusionsempfinden und
objektiver Exkludiertheit zunehmen.
Wie alle anderen hier zitierten Autorinnen
und Autoren betonen Bude und Lantermann
(2010) auch ein möglicherweise unterstützendes Umfeld bei der Bewältigung von Exklusionserfahrungen. Sie fokussieren allerdings, wie auch Hirseland und Ramos Laboto, spezifische professionelle Unterstützungsangebote. »Auch eine Ausbildung individueller Kernkompetenzen für einen erfolgreichen, von Selbstsorge und Offenheit geleiteten Umgang mit prekären Lebenssituationen setzt nicht nur Wollen und Können des
einzelnen Individuums voraus, sondern
gleichfalls soziale und gesellschaftliche
Lernangebote und Erfahrungsräume, in de-
nen derartige Kompetenzen abverlangt und
mit Erfolgt ausprobiert werden können.« Im
besonderen Fokus stehen die Menschen, die
sich selbst abgeschrieben haben. »Gerade
diejenigen, die [nach unseren Befunden] einer gesellschaftlichen Wertschätzung und
Einbindung am meisten bedürfen, sollten
darin bestärkt und unterstützt werden, sich
auch weiterhin als Mitglied der Gesellschaft
zu sehen und ihren Platz in der Gesellschaft
behaupten zu können.«
Am Ende der Karriere steht die Selbstexklusion. Sozialwissenschaftler beschreiben
Exklusion erst dann als »vollendet«, wenn
ein Individuum sich selbst als exkludiert beschreibt, als isoliert und abgekoppelt von der
Gesellschaft, ohne eine Chance, irgendwann
je wieder einen Anschluss finden zu können.
Der französische Psychoanalytiker Jean
Furtos (2009) entwirft für diese Problematik
ein »Selbstexklusionssyndrom«, welches
körperliche Symptome verbindet mit psychoseähnlichen Wahrnehmungsstörungen,
dem Abbrechen sozialer Beziehungen und
entsprechendem Vermeidungsverhalten sowie dem Verlust des Schamgefühls und einer
Selbstverneinung.
Konsequenzen für die Sozialpsychiatrie
Die hier kurz referierten Ergebnisse meist soziologischer Forschungen haben auf den ersten Blick nicht so richtig viel mit »Psychiatrie« zu tun, obwohl uns meines Erachtens
eine Reihe von Befunden nicht unbekannt
sind und – hoffentlich – Assoziationen wecken. Ich meine, dass die zitierten Forschungen für die Sozialpsychiatrie von großer Bedeutung sein können, und zwar in mehrerlei
Hinsicht: zum einen – wissenschaftlich gesehen – hinsichtlich einer sozialepidemiologischen Ausrichtung sowie in einer theoretischen Fundierung einer »Sozialpsychiatrie«
und zum anderen – praktisch gesehen – in
der Ausrichtung von Strategien und Konzepten einer sich politisch sowie auf Rehabilitation und Teilhabe (Inklusion) verstehenden
»Gemeindepsychiatrie«.
Meines Erachtens hat sich die Sozialpsychiatrie in den vergangenen Jahren zunehmend von der Gesellschaft und ihren Entwicklungen verabschiedet. Sie kämpft zwar
wacker gegen das Vordringen einer »biologischen« Psychiatrie an, jedoch hat sie einen
eigenen Ansatz, vor allem im interdisziplinären Verbund mit anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen (insbesondere der Soziologie) stark vernachlässigt. Sie ist nicht sozialwissenschaftlich-empirisch fundiert. Zwar
gibt es Ansätze, dass sich auch in Deutschland eine Sozialepidemiologie wieder entwickelt, doch erscheinen populationsökologische Ansätze nicht in jeden Fall hinreichend.
soziale psychiatrie 04/2015
haltet oder auch Segregationsprozesse in
Stadtgebieten verhindert. Für Menschen mit
psychischen Störungen ist eine angemessene Gestaltung von Arbeit, Ausbildung, Rehabilitation von zentraler Bedeutung.
■ Politisch-konzeptionell erscheint eine sozialräumliche Orientierung der Gemeindepsychiatrie sinnvoll, da die Sozialraumperspektive eine differenzierte Weiterentwicklung
dern auch Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein wiederzuerlangen.
Benötigt man/frau hierzu bei derartigen
Aktivitäten eine spezifische »Grundhaltung«?
Ja und nein!
Ich bin der Meinung, dass die Forderung
zum Beispiel nach einer philosophisch begründeten Grundhaltung nicht verkehrt ist,
aber in einer sich zunehmend auf »Diversity«
der Gemeinde- und der Lebensweltorientierung darstellt. Sie sollte hierbei darauf ausgerichtet sein, dass Menschen im »Sozialraum« teilhaben und partizipieren können
(aber nicht müssen), und hierzu unterstützend tätig sein. Hierdurch kann es möglich
werden, dass Menschen wieder ein »Sozialvertrauen« und Selbstvertrauen über gegenseitige Anerkennung entwickeln können.
■ Neben ihrem therapeutischen Auftrag sollte die Gemeindepsychiatrie sich insbesondere bei langfristig kranken und exkludierten
Menschen auf die gezielte Entwicklung von
Lebenskompetenzen oder auch Arbeitskompetenzen (»soft skills«) konzentrieren. Dies
ist zwar oft »Alltagsbegleitung« im betreuten Wohnen, es sind mittlerweile jedoch
auch eine Reihe von Programmen und (manualisierten) Therapien verfügbar, die nicht
nur erfolgreich, sondern auch evidenzbasiert
sind. Hierzu gehören etwa Empowerment,
Recovery, EX-IN, Social-Skill- und Kommunikationstrainings, aber auch emanzipatorische Formen von Psychoedukation. Auch sie
dienen dazu, nicht nur Kompetenzen, son-
entwickelnden Gesellschaft ins Leere läuft.
Die Jahrestagung der DGSP 2014 zum Thema
Grundhaltung war ein eindrucksvolles Beispiel dafür, dass es nicht eine Grundhaltung
gibt, sondern viele Haltungen. Ein vernünftiges sozialpsychiatrisches und reflexives Verständnis der Arbeit und ein Handeln, das
»auf dem Boden des Grundgesetzes« die
Menschenrechte beachtet, reicht völlig aus.
In der therapeutischen Beziehung steht
nicht so sehr der »philosophische« Aspekt im
Mittelpunkt, sondern – neben dem Menschenrechtsbezug – eher die praktischen Aspekte der »Verlässlichkeit« und des »Vertrauens«. ■
www.bob-born.de
Ich glaube, dass sich eine »subjektorientierte« Forschung hinsichtlich der Genese,
Beschreibung und Behandlung psychischer
Störungen viel mehr der Interdisziplinarität
mit Sozialwissenschaften bedienen muss,
um beispielsweise herauszufinden, was bei
Individuen eine »störungsspezifische« Verarbeitung der eigenen Lebensgeschichte ist
oder was eine »lebensgeschichtliche« Verarbeitung gesellschaftlich bedingter Exklusionsprozesse ist. Wenn sie dies nicht leistet,
gerät auch die wissenschaftliche Sozialpsychiatrie in das Dilemma, Prozesse und deren
individuelle Aneignungsformen zu pathologisieren, die, angesichts der gegenwärtigen
Entwicklungen, unter Umständen ganz
»normal« sind bzw. – im Sinne einer »SocialShift-These« – eher mit Behinderung zu tun
haben als mit Krankheit. Sie würde damit ihren gesellschaftskritischen Impetus verlieren. Deshalb ist es notwendig, dass sich die
Sozialpsychiatrie wieder mit empirischen
Sozialwissenschaften verbindet, um ihren
gesellschaftlichen Ort selbstkritisch beschreiben zu können.
Die eben genannten Aspekte gelten auch
für die praktische Arbeit in der Gemeindepsychiatrie. Nicht nur in der deutschen, sondern auch in der internationalen Fachpresse
wird eine stärkere politische Orientierung
der Sozialpsychiatrie gefordert, die sich im
Sinne von »Public Mental Health« entwickeln muss. Hierzu gehört eine stärkere gesundheitsbezogene Ausrichtung, eine präventive Orientierung sowie auch eine stärkere Integration unterschiedlicher, fragmentierter Hilfebereiche. Leitend hierbei muss
eine Orientierung an Entstigmatisierung,
Menschenrechten und Inklusion sein. Anhand der geschilderten Forschungen könnten sich meines Erachtens folgende Handlungsfelder ergeben:
■ Eine vor allem auf die Institutionen der sozialen Sicherung gerichtete Perspektive
muss sich gegen den zunehmenden Ausschluss von (nicht nur) psychisch kranken
und behinderten Menschen aus den sozialen und gesundheitlichen Sicherungs- und
Hilfesystemen richten. Hinzukommen muss
ein Ansatz, der sich auf die institutionelle
Verankerung von vernetzten, mithin »integrierten« Versorgungs- und Hilfeformen
richtet sowie auch an Gruppen, die bisher
kaum versorgt sind (Arbeitslose, Wohnungslose).
■ Notwendig erscheint jedoch auch, dass
weitere gesellschaftliche Bereiche thematisiert werden, die für eine »Ambulantisierung« der Hilfen und »Inklusion« von großer
Bedeutung sind. So muss zum Beispiel die
Arbeits- oder Wohnungspolitik so gestaltet
werden, dass sie Möglichkeiten für Menschen mit seelischen Behinderungen bein-
überleben in der psychosozialen arbeit
Christian Reumschüssel-Wienert, Diplom-Sozialwirt,
Diplom-Soziologe, ist Referent für Psychiatrie und
Queere Lebensweisen im Paritätischen Wohlfahrtsverband Landesverband Berlin e.V.
E-Mail: [email protected]
Hinweis: Eine wesentlich erweiterte Fassung dieses
Artikels mit umfassenden Literaturangaben ist beim
Autor erhältlich. Anfragen unter oben stehender E-MailAdresse.
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