04/2015 soziale psychiatrie überleben in der psychosozialen arbeit Subjektive Aspekte von Exklusion – und die Sozialpsychiatrie? Vo n C h r i st i a n R e u m s c h ü s s e l – Wi e n e r t ber Inklusion und Exklusion ist in den letzten Jahren viel geredet und geschrieben worden. Dabei wird jedoch kaum zur Kenntnis genommen, dass Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler (nicht nur) in Deutschland Exklusionsprozesse seit einigen Jahren intensiv beforschen. Sie beziehen sich hierbei auf »Karrieren« von Menschen, die mehr oder weniger dauerhaft arbeitslos und im Bezug von Grundsicherungsleistungen des Arbeitslosengelds (ALG) II (»Hartz IV«) sind. Sozialwissenschaftliche Befunde zur Exklusion Untersucht werden die Folgen, die diese prekären Lebenserfahrungen für die betroffenen Menschen haben bzw. wie diese mit ihren Lebensumständen umgehen. Im Gegensatz zu vielen epidemiologischen Fragestellungen, die oft um die Thesen der »sozialen Verursachung« (»social shift«) versus »soziale Selektion« (»social drift«) von Krankheiten kreisen, steht hier, seit den berühmten Studien von Marie Jahoda u.a. (1975) über die »Arbeitslosen von Marienthal« in den 1930erJahren, die Wechselwirkung vom Subjekt im Austausch mit seiner Umwelt im Fokus. Zentrale Faktoren, die einen Einfluss auf Gesundheit haben, sind der sozioökonomische Status (Bildung, Beruf, Einkommen) sowie miteinander in Beziehung stehende materielle und psychosoziale (Risiko-)Faktoren, die – auch indirekt – Verhalten und Gesundheit beeinflussen. Berücksichtigt wird allerdings auch eine zeitliche Dimension bzw. eine Lebenslaufperspektive sowie »Karrieren«. Exklusion ist kein kausaler Prozess und stellt auf individuell-biografischer Ebene keine Zwangsläufigkeit dar. Eine je unterschiedliche Teilhabe in gesellschaftlichen Teilbereichen kann sich kompensatorisch auf andere auswirken: Armut ist kompensierbar durch Einbezogenheit in Familie bzw. soziale Netzwerke. Arbeitslosigkeit ist kompensierbar durch ehrenamtliche Tätigkeit. Beziehungen sind kompensierbar durch Konsum. Aber alles in Grenzen. Eine erste Annäherung bieten Natalie Grimm u.a. (2013) an. Sie beschreiben eine Zone der Entkoppelung (Castel) am Arbeitsmarkt, in der die Grenzziehung zwischen innen und außen der Arbeitswelt verschwimmt. In dieser bewegen sich zahlreiche Menschen, die ein so genanntes »Zwischenzonenbewusstsein« herausgebildet haben, welches widerspiegelt, sich nicht als erwerbstätig definieren zu können und sich 20 nicht als Hilfebedürftiger definieren zu wollen. Allerdings ist die mentale Aneignung der prekären Lebenslage durchaus unterschiedlich und pendelt zwischen der Wahrnehmung als Chance zur (beruflichen) Neuorientierung, die mit großem Elan angegangen wird, einem Leben als »Jobnomade« mit unsteten Beschäftigungsverhältnissen oder der Bildung von traditionellen Orientierungen und Rollen (z.B. Mutter, Rentner, Nichtarbeiter) bis hin zu Verweigerungshaltungen – auch radikalerer Art. Aber oft kommt es vor, dass Menschen im Verlauf ihres Hartz-IV-Bezugs abdriften und die Orientierung für ihren Lebensweg verlieren. Sie sind zunehmend demoralisiert, ohne Perspektive und können anscheinend ohne fremde Hilfe keinen Tritt mehr fassen. Abwärtsspirale durch Hartz IV Auch andere Studien beschäftigen sich mit subjektiver Verarbeitung (Bedeutung) von derartigen Prozessen des Hilfebezugs bzw. Maßnahmen des Sozialgesetzbuchs (SGB) II (Grundsicherung für Arbeitsuchende/Hartz IV). Für die betroffenen Menschen kann ein Leben im Hilfebezug, je nach biografischem Hintergrund und zur Verfügung stehender informeller Netzwerke, unterschiedliche Bedeutung annehmen. Sie reicht von apathisch-defätistischer Resignation bis hin zu einer Chance der Neuorientierung. Zwar wird von vielen die Arbeitslosigkeit und der Hilfebezug als biografieadäquat wahrgenommen und mit Lebenshilfeerwartungen sowie Erwartungen an »Employability« verbunden, bei anderen jedoch werden die Maßnahmen in eine resignative Exklusionsperspektive integriert und als Autonomieverlust bzw. Entmächtigung wahrgenommen. Eine besondere Rolle hierbei spielt ein »Exklusionserleben durch Inklusion«, das Gefühl, in eine ohnehin zweck- und sinnlose (Fort-)Bildungsmaßnahme geparkt zu werden. Hier generieren die Hilfeangebote des SGB II subjektseitig das Gegenteil ihres ursprünglichen Zwecks, nämlich den inneren Rückzug gegenüber den gesetzlichen Aktivierungsbestrebungen. Auch bei vorhandener Motivation zur Aufnahme von Minijobs oder anderen Arbeitsgelegenheiten zur Aufbesserung des Einkommens bedeutet für viele Menschen Grundsicherung Verzicht und Einschränkung. Andreas Hirseland und Philipp Ramos Lobato (2010) beschreiben dies in den Bereichen Ernährung, Kleidung, Mobilität, Kommunikations- und Informationsmedien, Freizeit und Erholung, Gesundheitsversorgung, soziale und kulturelle Aktivitäten, Familienfeierlichkeiten, Energieverbrauch, Wohnen und Bildung. Darüber hinaus wird im Laufe von Exklusionskarrieren der Zugang zu sozialen Netzwerken (Bekannte, Freunde, Familie) eingeschränkt und damit gehen wesentliche Kompensationsmöglichkeiten bzw. Ressourcen verlustig. Foto: Klaus Uwe Gerhardt, pixelio.de Ü soziale psychiatrie 04/2015 absehbaren Folgen – aufgenommen und auch zahlungsintensive Investitionen in Kinder (z.B. Bücher, Sportverein, Reisen) werden zurückgefahren. bezogenes Arbeitsvermögen in negativen Devolvierungsdynamiken wechselseitig verstärken«. Erforderlich seien eher sozialpädagogisch ausgerichtete Unterstützung, aber auch solche Aktivierungsangebote, die eine nachhaltige, an Kriterien der Beruflichkeit ausgerichtete Qualifizierungschance eröffnen. Die Kasseler Soziologen Heinz Bude und Ernst-Dieter Lantermann beschreiben in ihren Studien Exklusionskarrieren, in denen sich zunehmende Exklusion kumulierend zu einem »Circulus vitiosus« entwickeln, der Exklusionserfahrungen: ein »Circulus vitiosus« Die Forschungsergebnisse legen nahe, dass Exklusionserfahrungen dazu führen, dass sich Einschränkungen verfestigen. Zum einen in Orientierungen hinsichtlich sozialer Netzwerke. Hier wird berichtet, dass nach Foto: Berthold Bronisz, pixelio.de Entscheidend bei »Abwärtsspiralen« ist, dass vielen Menschen mit der Zeitdauer des Hilfebezugs bestimmte Kompetenzen und Orientierungen abhandenkommen. Entwickelt wird dies anhand der Kategorie des »Arbeitsvermögens«. Sie bildet die Grundlage von Handlungsfähigkeit bzw. »die subjektive, habituelle, leibliche Seite der Arbeit, umfasst Erfahrungs- und inkorporierte Wissensbestände ›unterhalb‹ der Ebene formaler Zertifikate«, also nicht nur in der Sphäre formaler oder informeller »Arbeit«, sondern auch in der Sphäre der Organisation des alltäglichen Lebens. Hirseland und Ramos Lobato unterscheiden: Erwerbsorientiertes Arbeitsvermögen wird als Aneignungssphäre begriffen, in der es um alle erwerbsähnlichen Formen von Arbeit geht, als abhängige formelle Arbeit, prekäre Beschäftigungen, Freiberuflichkeit, Trainings, aber auch informelle Arbeit inklusive Schwarzarbeit. Zum lebensweltorientierten Arbeitsvermögen zählen Tätigkeiten der direkten Lebensorganisation wie Ernährung, Wohnen, Finanzorganisation, Strukturierung des Alltags, Wahrnehmung von Hobbys und Ehrenämtern sowie auch die Organisation lebensweltlicher sozialer Beziehungen und Netzwerke. Die weiteren Kategorien »involviert« oder »devolviert« reflektieren die subjektive Orientierung der Zugehörigkeit, also inwieweit die Betroffenen eine der eben genannten Kategorien für sich als relevant thematisieren oder sich mit diesen Praxisfeldern aktiv oder auch nicht mehr auseinandersetzen. Die Ergebnisse dieser Untersuchung sind ernüchternd: Lediglich eine Minderheit der Befragten konnte sich während der Dauer aus dem Hilfebezug befreien, alle anderen blieben – auch bei Aufnahme von versicherungspflichtiger Beschäftigung – von Hilfeleistungen weiter abhängig. Bei vielen der Befragten führten die Hartz-IV-Maßnahmen nicht zu einer Motivierung zur Teilhabe am Arbeitsleben, sondern eher zum Gegenteil. Eine derartige Orientierung kann anscheinend nicht durch die Maßnahmen hergestellt werden, sondern ist von biografischen Erfahrungen, Ressourcen (inklusive Netzwerken) abhängig. Bei vielen führt Hartz-IV-Bezug zu erheblichen Einschränkungen im alltäglichen Leben. Es wird von Situationen wie leeren Kühlschränken zur Monatsmitte, unterbrochene Wasser- und Energieversorgung, Abmelden von Telefonanschlüssen, Ablehnung von Einladungen oder Familienfeiern, Nichtinanspruchnahme von Gesundheitsleistungen berichtet. Für eine Reihe von Befragten ist die durch Armut indizierte Anforderung an das häusliche Finanzmanagement ein großes Problem. Zahlungstermine werden nicht eingehalten, Kredite werden – mit un- überleben in der psychosozialen arbeit Flaschenpfand langen Entbehrungen auch dann, wenn wieder eine Beschäftigung erreicht worden ist, die sozialinvestiven Ausgaben (z.B. soziale Kontakte, verbunden mit gemeinsam ins Kino/essen gehen) und entsprechende Orientierungen stark abnehmen und an subjektiver Relevanz verlieren. Soziale Kontakte werden nicht mehr wichtig und soziale Isolation nimmt zu. Zusammen mit den Verlusten an Fähigkeiten und Kompetenzen führen auch andauernde Bewältigungsversuche zu psychosozialen Belastungen, alltägliche Knappheit, Bedrängnis und Deprivation werden als Ursache von »Depressionsempfinden« wahrgenommen. Hirseland und Ramos Lobato kommen zu dem Ergebnis, »dass die Reintegration in stabile Beschäftigung selbst bei vorhandenen objektiven Chancen vor allem dort erschwert wird, wo sich lebensweltliches und erwerbs- eine stärker werdende Dynamik entfaltet. Sie definieren »Exklusionsempfinden« als ein Empfinden, das sich mit Gesellschaft ausdrücklich in Beziehung setzt, nämlich als »Ausgeschlossensein vom Ganzen der Gesellschaft« bzw. wie eine »Exklusionskonstellation […] in ein entsprechendes Exklusionsempfinden mündet, wie eine Person die künftige Entwicklung ihrer mehr oder weniger prekären Lebenslage pessimistisch beurteilt und die momentane Lage zugleich negativ bewertet«. Im Rahmen eines ressourcenorientierten Ansatzes werden »externe Ressourcen« – Höhe des verfügbaren Einkommens, schulische/berufliche Bildung, Karrierestufe bzw. Position, partnerschaftliche Einbindung sowie Alter und Geschlecht – betrachtet. Als prekäre Lebenslagen, im Sinne von positiv oder negativ bewertete oder antizipierte Ent- 21 04/2015 soziale psychiatrie Foto: Andreas Köckeritz, pixelio.de überleben in der psychosozialen arbeit Street Art wicklungen, wurden erhoben: Wohlstand, Erwerbssituation, soziale Vernetzung, (Institutions-)Vertrauen sowie psychischer und physischer Gesundheitszustand. Als »interne Ressourcen« wurde Kohärenzsinn und Unbestimmtheitsorientierung einbezogen. Dies wird im Folgenden expliziert. Zunächst jedoch: Die Herausforderungen des modernen prekären Lebens mit seinen Chancen und Bedrohungen sind für viele Menschen eine bereichernde Herausforderung, für andere eine Angst auslösende Bedrohung und für wiederum andere eine unlösbare Aufgabe. »Man sieht sich von Komplexität überwältigt und verfällt darüber in eine Stimmung der Indifferenz. Die Verhältnisse haben sich gegen einen verschworen, wie auch immer es man angeht, es führt zu nichts.« Selbstsorge und Ressourcen Anhand eines Konzeptes zur Selbstsorge konzipieren Bude und Lantermann (2008) Vertrauen und Kompetenzen als wesentliche Ressourcen zum Umgang mit Unsicherheit. Vertrauen ist für sie eine wichtige Resilienzressource, die in drei Dimensionen aufgefächert wird: – als Systemvertrauen, das auf Institutionen der sozialen Sicherung und der ihnen innewohnenden Verfahren gerichtet ist, – als Sozialvertrauen, das auf soziale Netzwerke, auf solidarische Unterstützung durch Familie, Freunde und Bekannte gerichtet ist, und 22 – als Selbstvertrauen, das auf eigene Kraft, Probleme angemessen lösen zu können, gerichtet ist. Die drei Dimensionen des Vertrauens können gegebenenfalls gegenseitig kompensiert werden. Im Anschluss an Aaron Antonovski (1997) werden als individuelle Kompetenzen gesehen: – Ungewissheitsorientierung bzw. Ambiguitätstoleranz, d.h. das Vermögen, mit widersprüchlichen Lebenslagen und Situationen produktiv umgehen zu können; – Ziel- und Handlungsorientiertheit, also sein Leben bzw. einige Aspekte desselben bewusst angehen zu können; – Selbstregulation als Fähigkeit, sich selbst in einer gewissen Balance zu halten, verbunden mit einem »Sense of Coherence«, das ist die Fähigkeit, sich und die Welt als zusammenhängend und sinnvoll zu erleben; – kommunikative Kompetenz als Fähigkeit, sich selbst darstellen zu können, Beziehungen in sozialen Kontakten, auch in formeller Hinsicht, aufnehmen zu können, »sowie das Vermögen, sich trotz Niederlagen und Enttäuschungen als eine Person von Respekt und Achtung darzustellen«. Beide Arten (Dimensionen) von Ressourcen sind sehr wesentlich im Umgang mit prekären Lebenslagen. »Vertrauen und Kompetenzen sind Resilienzressourcen und schützen Menschen davor, sich hilflos und ausgeliefert zu erleben, sich selbst zu vernachlässigen und mangelnde Selbstsorge zu betreiben.« Aber das gelingt eben nicht allen Menschen. Denn: »Je prekärer die Lebenssituation ist und je länger diese anhält, desto stärker nehmen die Kompetenzen zur Selbststeuerung und Unbestimmtheitsregulation ab.« Ein allzu starkes Vertrauen in Institutionen verführt anscheinend zu einem Nachlassen von Eigeninitiative und Selbstsorge. Verbunden hiermit sind »fatalistische Bewältigungsstrategien« und ein Nachlassen von »selbstinitiierten Lernaktivitäten«, die mit zunehmendem Exklusionsempfinden und objektiver Exkludiertheit zunehmen. Wie alle anderen hier zitierten Autorinnen und Autoren betonen Bude und Lantermann (2010) auch ein möglicherweise unterstützendes Umfeld bei der Bewältigung von Exklusionserfahrungen. Sie fokussieren allerdings, wie auch Hirseland und Ramos Laboto, spezifische professionelle Unterstützungsangebote. »Auch eine Ausbildung individueller Kernkompetenzen für einen erfolgreichen, von Selbstsorge und Offenheit geleiteten Umgang mit prekären Lebenssituationen setzt nicht nur Wollen und Können des einzelnen Individuums voraus, sondern gleichfalls soziale und gesellschaftliche Lernangebote und Erfahrungsräume, in de- nen derartige Kompetenzen abverlangt und mit Erfolgt ausprobiert werden können.« Im besonderen Fokus stehen die Menschen, die sich selbst abgeschrieben haben. »Gerade diejenigen, die [nach unseren Befunden] einer gesellschaftlichen Wertschätzung und Einbindung am meisten bedürfen, sollten darin bestärkt und unterstützt werden, sich auch weiterhin als Mitglied der Gesellschaft zu sehen und ihren Platz in der Gesellschaft behaupten zu können.« Am Ende der Karriere steht die Selbstexklusion. Sozialwissenschaftler beschreiben Exklusion erst dann als »vollendet«, wenn ein Individuum sich selbst als exkludiert beschreibt, als isoliert und abgekoppelt von der Gesellschaft, ohne eine Chance, irgendwann je wieder einen Anschluss finden zu können. Der französische Psychoanalytiker Jean Furtos (2009) entwirft für diese Problematik ein »Selbstexklusionssyndrom«, welches körperliche Symptome verbindet mit psychoseähnlichen Wahrnehmungsstörungen, dem Abbrechen sozialer Beziehungen und entsprechendem Vermeidungsverhalten sowie dem Verlust des Schamgefühls und einer Selbstverneinung. Konsequenzen für die Sozialpsychiatrie Die hier kurz referierten Ergebnisse meist soziologischer Forschungen haben auf den ersten Blick nicht so richtig viel mit »Psychiatrie« zu tun, obwohl uns meines Erachtens eine Reihe von Befunden nicht unbekannt sind und – hoffentlich – Assoziationen wecken. Ich meine, dass die zitierten Forschungen für die Sozialpsychiatrie von großer Bedeutung sein können, und zwar in mehrerlei Hinsicht: zum einen – wissenschaftlich gesehen – hinsichtlich einer sozialepidemiologischen Ausrichtung sowie in einer theoretischen Fundierung einer »Sozialpsychiatrie« und zum anderen – praktisch gesehen – in der Ausrichtung von Strategien und Konzepten einer sich politisch sowie auf Rehabilitation und Teilhabe (Inklusion) verstehenden »Gemeindepsychiatrie«. Meines Erachtens hat sich die Sozialpsychiatrie in den vergangenen Jahren zunehmend von der Gesellschaft und ihren Entwicklungen verabschiedet. Sie kämpft zwar wacker gegen das Vordringen einer »biologischen« Psychiatrie an, jedoch hat sie einen eigenen Ansatz, vor allem im interdisziplinären Verbund mit anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen (insbesondere der Soziologie) stark vernachlässigt. Sie ist nicht sozialwissenschaftlich-empirisch fundiert. Zwar gibt es Ansätze, dass sich auch in Deutschland eine Sozialepidemiologie wieder entwickelt, doch erscheinen populationsökologische Ansätze nicht in jeden Fall hinreichend. soziale psychiatrie 04/2015 haltet oder auch Segregationsprozesse in Stadtgebieten verhindert. Für Menschen mit psychischen Störungen ist eine angemessene Gestaltung von Arbeit, Ausbildung, Rehabilitation von zentraler Bedeutung. ■ Politisch-konzeptionell erscheint eine sozialräumliche Orientierung der Gemeindepsychiatrie sinnvoll, da die Sozialraumperspektive eine differenzierte Weiterentwicklung dern auch Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein wiederzuerlangen. Benötigt man/frau hierzu bei derartigen Aktivitäten eine spezifische »Grundhaltung«? Ja und nein! Ich bin der Meinung, dass die Forderung zum Beispiel nach einer philosophisch begründeten Grundhaltung nicht verkehrt ist, aber in einer sich zunehmend auf »Diversity« der Gemeinde- und der Lebensweltorientierung darstellt. Sie sollte hierbei darauf ausgerichtet sein, dass Menschen im »Sozialraum« teilhaben und partizipieren können (aber nicht müssen), und hierzu unterstützend tätig sein. Hierdurch kann es möglich werden, dass Menschen wieder ein »Sozialvertrauen« und Selbstvertrauen über gegenseitige Anerkennung entwickeln können. ■ Neben ihrem therapeutischen Auftrag sollte die Gemeindepsychiatrie sich insbesondere bei langfristig kranken und exkludierten Menschen auf die gezielte Entwicklung von Lebenskompetenzen oder auch Arbeitskompetenzen (»soft skills«) konzentrieren. Dies ist zwar oft »Alltagsbegleitung« im betreuten Wohnen, es sind mittlerweile jedoch auch eine Reihe von Programmen und (manualisierten) Therapien verfügbar, die nicht nur erfolgreich, sondern auch evidenzbasiert sind. Hierzu gehören etwa Empowerment, Recovery, EX-IN, Social-Skill- und Kommunikationstrainings, aber auch emanzipatorische Formen von Psychoedukation. Auch sie dienen dazu, nicht nur Kompetenzen, son- entwickelnden Gesellschaft ins Leere läuft. Die Jahrestagung der DGSP 2014 zum Thema Grundhaltung war ein eindrucksvolles Beispiel dafür, dass es nicht eine Grundhaltung gibt, sondern viele Haltungen. Ein vernünftiges sozialpsychiatrisches und reflexives Verständnis der Arbeit und ein Handeln, das »auf dem Boden des Grundgesetzes« die Menschenrechte beachtet, reicht völlig aus. In der therapeutischen Beziehung steht nicht so sehr der »philosophische« Aspekt im Mittelpunkt, sondern – neben dem Menschenrechtsbezug – eher die praktischen Aspekte der »Verlässlichkeit« und des »Vertrauens«. ■ www.bob-born.de Ich glaube, dass sich eine »subjektorientierte« Forschung hinsichtlich der Genese, Beschreibung und Behandlung psychischer Störungen viel mehr der Interdisziplinarität mit Sozialwissenschaften bedienen muss, um beispielsweise herauszufinden, was bei Individuen eine »störungsspezifische« Verarbeitung der eigenen Lebensgeschichte ist oder was eine »lebensgeschichtliche« Verarbeitung gesellschaftlich bedingter Exklusionsprozesse ist. Wenn sie dies nicht leistet, gerät auch die wissenschaftliche Sozialpsychiatrie in das Dilemma, Prozesse und deren individuelle Aneignungsformen zu pathologisieren, die, angesichts der gegenwärtigen Entwicklungen, unter Umständen ganz »normal« sind bzw. – im Sinne einer »SocialShift-These« – eher mit Behinderung zu tun haben als mit Krankheit. Sie würde damit ihren gesellschaftskritischen Impetus verlieren. Deshalb ist es notwendig, dass sich die Sozialpsychiatrie wieder mit empirischen Sozialwissenschaften verbindet, um ihren gesellschaftlichen Ort selbstkritisch beschreiben zu können. Die eben genannten Aspekte gelten auch für die praktische Arbeit in der Gemeindepsychiatrie. Nicht nur in der deutschen, sondern auch in der internationalen Fachpresse wird eine stärkere politische Orientierung der Sozialpsychiatrie gefordert, die sich im Sinne von »Public Mental Health« entwickeln muss. Hierzu gehört eine stärkere gesundheitsbezogene Ausrichtung, eine präventive Orientierung sowie auch eine stärkere Integration unterschiedlicher, fragmentierter Hilfebereiche. Leitend hierbei muss eine Orientierung an Entstigmatisierung, Menschenrechten und Inklusion sein. Anhand der geschilderten Forschungen könnten sich meines Erachtens folgende Handlungsfelder ergeben: ■ Eine vor allem auf die Institutionen der sozialen Sicherung gerichtete Perspektive muss sich gegen den zunehmenden Ausschluss von (nicht nur) psychisch kranken und behinderten Menschen aus den sozialen und gesundheitlichen Sicherungs- und Hilfesystemen richten. Hinzukommen muss ein Ansatz, der sich auf die institutionelle Verankerung von vernetzten, mithin »integrierten« Versorgungs- und Hilfeformen richtet sowie auch an Gruppen, die bisher kaum versorgt sind (Arbeitslose, Wohnungslose). ■ Notwendig erscheint jedoch auch, dass weitere gesellschaftliche Bereiche thematisiert werden, die für eine »Ambulantisierung« der Hilfen und »Inklusion« von großer Bedeutung sind. So muss zum Beispiel die Arbeits- oder Wohnungspolitik so gestaltet werden, dass sie Möglichkeiten für Menschen mit seelischen Behinderungen bein- überleben in der psychosozialen arbeit Christian Reumschüssel-Wienert, Diplom-Sozialwirt, Diplom-Soziologe, ist Referent für Psychiatrie und Queere Lebensweisen im Paritätischen Wohlfahrtsverband Landesverband Berlin e.V. E-Mail: [email protected] Hinweis: Eine wesentlich erweiterte Fassung dieses Artikels mit umfassenden Literaturangaben ist beim Autor erhältlich. Anfragen unter oben stehender E-MailAdresse. 23
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