„Nüchterne Leidenschaft“ – der Redner Helmut Schmidt

Gert Ueding
„Nüchterne Leidenschaft“ – der Redner Helmut Schmidt
Wer die Erfahrung der Nazidiktatur, der Pervertierung der Rede zur
Massenverführung, zu Manipulation und Propaganda gemacht hat, wird zur
Rhetorik wohl immer ein ambivalentes Verhältnis behalten, gerade auch, wenn er
alle ihre Register beherrscht. Wo immer sich Helmut Schmidt über die Aufgaben
des Politikers und die Funktion der Rede in der Demokratie Gedanken macht,
bemerken wir zumindest eine Reserve, oft verbindet er damit auch eine
ausdrückliche Warnung. Gewiss, die Rhetorik habe im demokratisch verfassten
Athen als eine der wichtigsten Künste des Politikers „gegolten, doch“ – fügt er
sogleich hinzu – sie vermag auch „eine Wahrheit zu verschleiern.“ Er bewundert
die großen Redner von Perikles und Cicero bis de Gaulle und Kennedy, rühmt die
„programmatischen Reden der Bundespräsidenten Roman Herzog 1997 und Horst
Köhler 2005“, will auch das eigene Verdienst gewürdigt wissen: „Ich bilde mir
ein, durch viele Reden – auch im Bundestag – eine ganze Menge moralischer und
auch geistiger Pflöcke eingeschlagen zu haben. Einige von denen haben auch
Wirkung erzielt.“ Eine Wirkung, die aber nichts mit der Resonanz
„aufgepeitschter Massenstimmung“ zu tun haben darf. Die „Gewalt der Straße“
hat er zeitlebens vor Augen, aus ihrem Bild nährt sich die Weisung für eine ganz
andere politische Praxis. „Ein Politiker darf sich nicht allgemeinen Stimmungen
oder gar Massenpsychosen hingeben. Er muß auf seine Vernunft hören, und er
muß sich der moralischen Grundwerte bewusst sein…“ Die Verführbarkeit der
Masse hat er erlebt, hat schon als Jugendlicher darüber bei le Bon und Ortega y
Gasset gelesen. Deshalb erfüllen ihn die Massenmedien mit Misstrauen, deshalb
will er nichts von einer Verstärkung der plebiszitären Ansätze in der deutschen
Demokratie wissen und deshalb sieht er auch die öffentliche Meinung ständig in
der
Gefahr,
durch
Werbung,
Interessengruppen
und
multinationale
Medienkonzerne manipuliert zu werden.
In solcher Besorgnis werden auch die Motive vollends sichtbar, aus denen sich
seine öffentliche Imago speist. Der Pragmatiker, der sich zu Karl Popper bekennt
und dessen theoriekritischen Einsichten in eine Politik des probeweisen
vernünftigen Handelns und der Fehlerkorrektur übersetzt, der Bundeskanzler, der
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in seinen Regierungserklärungen „Realismus und Nüchternheit“ als Leitlinien
seiner Politik verkündet, an das Wertebewusstsein der Bürger appelliert,
„Mitmenschlichkeit,
Toleranz
und
Nächstenliebe“
zu
den
wichtigsten
bürgerlichen Tugenden erklärt; dieser Verfechter eines „ethos des politischen
Pragmatismus in moralischer Absicht“ spricht immer auch aus der schreckhaften
Erinnerung an das Zeitalter der Lüge, des Betrugs und des Völkermords. „Sie
reden nirgendwo von einer Perspektive, von einer Konzeption, vom Sinngehalt
der Einschränkungen und Opfer“ kritisierte Barzel in der Debatte über Schmidts
erste Regierungserklärung. Diese Enthaltsamkeit war programmatisch gemeint.
Fernziele, Utopien, gar Visionen hat sich Schmidt selber weitgehend verboten, sie
gehören für ihn ins Register jener „Übertreibungen“, zu denen sich Redner gerne
hinreißen lassen, die er aber – so bekräftigt er, auf seine rhetorischen Absichten
zurückblickend – stets habe vermeiden wollen. „Deswegen habe ich mich in
öffentlicher Rede mit der Verkündung moralischer Prinzipien generell
zurückgehalten. Die Bürger, so glaubte ich, würden auch ohne meine rhetorische
Nachhilfe erkennen, dass ich nach den Kriterien der Vernunft und Moral regierte.
Darin habe ich mich gründlich geirrt…“
Das sind nachdenkliche Bemerkungen, die konsequent weiter gedacht, rhetorische
Enthaltsamkeit als Fiktion enthüllen. Denn natürlich hat Schmidt die Prinzipien
seiner Politik stets rednerisch vertreten; dass sie, jedenfalls in seiner aktiven Zeit
als Abgeordneter, dann als Staatsmann, offenbar keine oder nur zurückhaltende
Resonanz gefunden haben, lag offenbar daran, dass Wirkungsintention des
Redners und Erwartungshaltung des Publikums auseinanderklafften. Wenn wir
seinen Hinweis lesen: „Demokratische Politiker führen nicht allein durch ihr
Handeln, sondern auch durch öffentliche Reden“, dann entdecken wir auch eine
tiefer liegende Quelle des Irrtums, von dem er gesprochen hat. Denn
demokratische Politiker handeln prinzipiell durch Reden und nur durch Reden, ob
am Verhandlungstisch oder am Rednerpult, in Fraktionsausschüssen oder vor dem
Parlament. Sie handeln im übertragenen Sinne, retten keinen Bürger handgreiflich
aus der Hochwassernot, stehen nicht selber am Fließband und stürmen auch nicht
an der Spitze einer Spezialeinheit entführte Flugzeuge oder besetzte Botschaften.
Sie sprechen darüber miteinander, begründen ihre in der Beratung gewachsenen
Entscheidungen, vertreten sie in Rede oder Gegenrede vor der Öffentlichkeit, sind
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Teil der öffentlichen Meinungsbildungsprozesse und beeinflussen sie. Der
praktische Status der politischen Rede ist ein Wesenszug der Demokratie, da sie
dem realen Handlungsvollzug Orientierung und Sinn gibt, ja zuerst einmal den
unmittelbaren Handlungszwang „herunterredet“, wie der Philosoph Blumenberg
diese Kulturleistung der Rhetorik beschrieb: „Wenn die Geschichte überhaupt
etwas lehrt, so dieses, daß ohne diese Fähigkeit, Handlungen (durch Reden) zu
ersetzen, von der Menschheit nicht mehr viel übrig wäre.“
Tatsachen und Zahlen
Unter diesem Gesichtspunkt verwundert es nicht, wenn der Sacherörterung in der
politischen Rede ein besonderes Gewicht zukommt, Schmidts Selbstverständnis
sich also mit den Erfordernissen der Redegattung (jedenfalls ihrer klassischen
Prägung nach) zunächst weitgehend deckt. Er hat sich einmal als den „leitenden
Angestellten der Bundesrepublik Deutschland“ bezeichnet und wenn er auch
später einen „Scherz“ daraus machen will – seine Reden beglaubigen das
Selbstporträt immer wieder. Da zieht einer die „Bilanz“ (ein Schlüsselwort
Schmidts) seines „Unternehmens“. In Regierungserklärungen liegt generell ein
solcher Zuschnitt der Rede nahe, Schmidt aber lässt gelegentlich kaum noch
Raum für ein anderes Überzeugungsmittel. Das ist in der 1. Regierungserklärung
als Kanzler 1974 besonders augenfällig und gewiss auch diktiert vom Willen, sich
gegen den Vorgänger, den „Ankündigungskanzler“ Brandt mit seinen allzu
euphorischen Prognosen, abzusetzen. „In einer Zeit weltweit wachsender
Probleme konzentrieren wir uns in Realismus und Nüchternheit auf das
Wesentliche, auf das, was jetzt notwendig ist, und lassen anderes beiseite.“ Das ist
deutlich und beschreibt auch in wenigen Worten prägnant Schmidts Vorgehen,
das er in seiner zweiten Regierungserklärung im Dezember 1976 dann trotz
gelegentlicher Lizenzen an das Auffassungsvermögen der Hörer sogar noch auf
die Spitze treibt. Nachdem er sich zwar in einleitenden Passagen dem RentenDesaster gewidmet und an Solidarität, Generationenvertrag und sozialen Frieden
appelliert hat, findet er schnell wieder zur Sache: „Ich wollte diese Bemerkungen
der
Regierungserklärung
gern
voranstellen,
um
nun
anschließend
zur
systematischen Darlegung überzugehen.“ Und diese Absicht exerziert er denn
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auch kompromisslos in 94 durchnummerierten Abschnitten vor, die meist noch in
Unterpunkten weiter gegliedert erscheinen.
Die Erfordernisse der Redegattung spiegeln sich in solch demonstrativem
Vorgehen nur teilweise, selbst Adenauers Regierungserklärungen wirken gegen
diese Askese des Bilanzierens (eine „Zwischenbilanz“ wollte er vorlegen, und
zwar als „Leistungsbilanz“ verstanden, so beschloss Schmidt seine 1.
Regierungserklärung
als
Kanzler)
geradezu
bildhaft
anschaulich.
Die
Verhandlung von Sachfragen stand auch in früheren Regierungserklärungen als
Verteidigungs- oder Finanzminister im Mittelpunkt, selbst manch kämpferische
Debattenrede wie diejenige von 1959 zur Abrüstung und atomwaffenfreien Zone
in Mitteleuropa setzt wesentlich auf argumentatives Überzeugen oder die Evidenz
der Sache selber. Es ist dabei nicht immer auszumachen, ob Schmidt sich auf die
gleichsam objektive Aussagekraft der Sachlage wirklich glaubt verlassen zu
können oder nur vorgibt, sie existiere unabhängig von seiner Sicht der Dinge. Er
beruft sich gerne auf die „Wahrheit“ seiner Aussagen, sei es als statistisch oder
augenscheinlich verbürgte Wahrheit („Ich meine, man soll sehr sorgfältig und
nüchtern die Tatsachen und die Wirklichkeiten ins Auge fassen und sie weder
durch eine rosarote noch durch eine schwarze Brille betrachten.“), sei es als
Geltungsanspruch seiner Meinung („In Wahrheit ist es eine Volksverdummung zu
sagen, die Parteien seien sich gleich.“), sei es als moralisch-politisches
Grundprinzip der Sozialdemokratie („Was also steht moralisch zur Wahl?… Vor
allem Wahrheit.“) oder sei es als historische Wahrheit („Die Wahrheit ist: 267
Synagogen wurden verbrannt oder zerstört…“). Auch Autoritäten zieht er gern
und oft herbei, von Ricardo und Adam Smith bis zu Keynes, von Otto Wels und
Kurt Schumacher bis zu Adolf Arndt und Willy Brandt, Henry Kissinger oder
Kennedy.
Hier mag eine allgemeine Bemerkung angebracht sein. Die Überzeugungskraft
der Argumente, ob sie auf der Sache oder der Person gründen, rührt nicht aus
ihnen selber, sondern resultiert aus Ansichten und Gewissheiten, von denen ein
Redner annehmen kann, dass sie allgemein geteilt werden oder wenigstens vor
seinem Auditorium auf keinen Widerspruch rechnen müssen. Die Berufung auf
solche Allgemeinüberzeugungen kristallisiert sich in der Rede in Begriffen oder
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begrifflich gewonnenen Metaphern, die die Rhetorik Topoi nennt und die so
etwas wie die „Substanz der herrschenden Meinung“ (L. Bornscheuer)
repräsentieren. Schmidt macht reichlich Gebrauch von ihnen, moralisch, wenn er
die Unzuverlässigkeit und den Verrat der FDP-Führer Genscher und Mischnick
für das Scheitern der Koalition verantwortlich macht oder die Pflicht des Amtes,
die unentrinnbare Verantwortung „im Bereich von Schuld und Versäumnis“
anführt. Das sind wie Friede, Toleranz, Freiheit oder Selbstbestimmung, wie
Menschenwürde
oder
Gerechtigkeit
in
der
Regel
überparteiliche,
verfassungsgarantierte Normen und Werte, die er sich nicht scheut, auch durch
religiöse Maximen (Nächstenliebe) immer wieder einmal zu ergänzen. Zudem
kommen ihm seine philosophische und literarische Bildung, bei der Bekräftigung
eigener Sichtweisen bestens zu Hilfe: „Man könnte aber mit Rudyard Kipling
erwidern: Auch schöne Gärten und also auch schöne Bäume werden nicht
dadurch erzielt, daß man sich in den Schatten setzt und singt: Wie schön ist dieser
Baum.“
Eine Besonderheit von Schmidts Argumentationsweise fällt aber noch auf:
Kritiker haben darin etwas „militärisch Schneidiges“ hören wollen, einen
„autoritären Zug, die Lust am Befehlen und die Überzeugung, es besser zu wissen
als jeder andere.“ Auch wenn man Einflüsse dieser Art nicht gleich leugnen will,
so liegt eine anders motivierte Absicht wohl doch näher. Zu den Idealen des
Redestils zählt ganz oben die Kürze, das Vermeiden alles Überflüssigen in
Gedanken und Worten, und gerade in der Beweisführung (darüber herrscht
Konsens seit Cicero) soll man nicht etwa alle Argumente bringen, die man
ausfindig gemacht hat, da sie Überdruss erzeugen und Glaubwürdigkeit
vermindern. Schmidt hat sich, wie schon erwähnt, daran oft nicht gehalten, in der
Formulierung dafür aber häufig ein Äquivalent für die Ausführlichkeit der
Sacherörterung gesucht. „Verabschiedet ist die Reform der Vermögenssteuer und
der Erbschaftssteuer.“ Oder: „Ohne Investitionen kein Wachstum; ohne
Investitionen keine Arbeitsplatzsicherheit, keine höheren Löhne und auch kein
sozialer Fortschritt.“ Oder: „Wer exportieren will, muß auch importieren.“ Oder:
„Wenn es für die wirtschaftliche Sicherheit des Westens eine zentrale Frage gibt,
dann ist es die Energiefrage.“ Das sind fast sententiöse Prägungen, daher schon
von der Form her autoritätshaltig wie Sprichwörter oder Geflügelte Worte, und
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durch den Verzicht auf weitschweifige Erläuterungen kommt ihnen noch eine
Qualität zu, die Schmidt selber einmal angesprochen hat: „Über das, was uns
bekümmert, werde ich sehr sorgfältig reden.“
Die Versicherung der Sorgfalt ist aber doppelter Auslegung fähig. Einmal
bedeutet sie, wie ernst der Redner die angesprochenen Befürchtungen nimmt und
dass er darauf nicht mit Beruhigungsgesten, sondern gewissenhaft, bedachtsam
und umsichtig reagiert. Zum zweiten aber auch, dass Redlichkeit solcher Art
Vertrauen verdient. Schmidt lässt daher noch den Satz folgen: „Es braucht keiner
zu befürchten, ich würde irgend etwas verschweigen.“
Schmidt steigt hier schon ein paar Stufen in jene „Unterwelt der Gefühle“, vor der
eine „protestantische Angst“ zu haben ihm der Parteikollege Peter Glotz einst
etwas vorschnell bescheinigte. Denn sicher prägt norddeutsch-reserviertes Wesen
auch den Politiker und Redner, doch verzichtet er deswegen keineswegs ganz auf
die anderen rhetorisch einschlägigen Überzeugungs- und Wirkungsmittel.
Spätestens seit Aristoteles wissen wir, dass nicht allein das vernünftige Argument,
der logos also, begründende Kraft besitzt, auch persönliche Glaubwürdigkeit und
Gefühlsgründe sind für die überzeugende Rede unentbehrlich. Wobei der Kenner
weiß – und das Publikum erfährt -, dass diese Überzeugungsdimensionen nicht
strikt voneinander zu trennen sind, sondern an den Rändern ineinander übergehen.
Sehen wir uns das am Beispiel der für Schmidt so charakteristischen
Sacherörterung an. Die Neigung zur Kürze, die Konzentration auf die
wesentlichen Probleme, prononcierte Nüchternheit und Verstandesklarheit, das
sind alles Merkmale von Offenheit, Vernünftigkeit und Deutlichkeit, die
keineswegs bloß den Verstand befriedigen – für jeden Cartesianesisch geprägten
Franzosen ein Allgemeinplatz. Sich einer Sache verständig, scharfsinnig und mit
aller zu Gebote stehenden Gründlichkeit bemächtigen, das (so unterstrich von
langher Aristoteles) bereite „nicht nur dem Philosophen das größte Vergnügen,
sondern in ähnlicher Weise auch den übrigen Menschen.“ Mit Urteilskraft ein
Problem durchdringen erzeugt eine gute Stimmung und die wiederum stimuliert
das Denken. Schmidt, von dessen Arbeitskapazität und Konzentrationsvermögen
Mitarbeiter und Freunde neidisch oder bewundernd berichten, ist tief in diese
Erfahrung eingetaucht und will sie auch rhetorisch fruchtbar machen. In einer
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Rede zur Mitbestimmung 1969 flicht er die Bemerkung ein: „Nun sind allerdings
psychologische Fakten im politischen Leben wichtige Fakten. Ich pflege
manchmal zu sagen, psychologische Fakten können härter sein als Zement.“
Wo immer es geht, inszeniert sich Schmidt daher als der Fachmann, dem man
vertrauen kann. „Bleiben wir bei den Tatsachen und bleiben wir bei den Zahlen.“
Transparenz ist das Ideal, zu dem solche Maximen führen, und er beherzigt sie,
wo immer sie ihm zu passen scheinen (was nicht heißt, dass sie immer passen).
Auf die Kritik von CDU/CSU an den Abrüstungsvorstellungen der SPD antwortet
er in einer von launiger bis bissiger Polemik unterbrochenen Rede am 5.
November 1959 mit einem sich steigernden Katalog von 7 Gegenargumenten, die
Punkt für Punkt das gegnerische Arsenal auffliegen lassen. Er berechnet Raumund Bevölkerungsverhältnisse der beteiligten Staaten, vergleicht sie einleuchtend
in Prozentzahlen miteinander, erörtert die strategischen Vor- und Nachteile der
Rand- und der Mittelstaaten. Dann folgen einige Autoritätsargumente, er zitiert
„Feldmarschall
Montgomery“,
„Professor
Kissinger“,
sogar
„den
Bundesverteidigungsminister Strauß“ und erreicht damit ein Doppeltes: Die
Unterstützung durch Gewährsleute und einen Zuwachs an Vertrauenswürdigkeit –
noch dazu, wenn der politische Gegner (Strauß) in Form eines argumentum ad
hominem sich herbeizitieren lassen muss.
Rednerethos
Das sind geschickte Schachzüge, die auf die Übereinstimmung in der Sache
ebenso zielen wie auf die Übereinstimmung mit der Person des Redners.
Befangen in der politischen Aktion mag der Abgeordnete, der Minister, der
Kanzler Schmidt bisweilen von der Resonanz seines persönlichen Auftretens
enttäuscht worden sein, man kam ihm selten mit Begeisterung, meist mit Respekt
und auf jeden Fall mit Zutrauen entgegen, wenn man ihn schätzte – doch solche
Wirkung kann intensiver und dauerhafter sein als enthusiastische Anhängerschaft,
wie es die ungebrochene und stetig auch im hohen Alter noch wachsende
Popularität und Wirkung dann auch bezeugen. Wenn man sich nicht durch die
pure Quantität und das reine Erscheinungsbild seiner Reden täuschen lässt, wenn
man rhetorische Überzeugungskraft nicht mit dem Lineal, sondern der Waage
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misst, dann kommt das Gewicht der aus der persönlichen Glaubwürdigkeit, dem
eigenen Ethos stammenden Überzeugungsgründe der logischen, pragmatischen
Dimension gleich. Schmidt spricht in seiner Lebensbilanz davon, dass im
Deutschen das Wort „Führer“ durch den nationalsozialistischen Führerkult zwar
desavouiert sei: „Aber ein Bundeskanzler muss Führer der Regierung und des
Staates sein…“ Damit ist auch (die folgenden Beispiele vom Kapitän eines
Schiffes – ein alter bis in die Antike zurückgehender Topos – und der
herausragenden Politiker der ersten Nachkriegsgeneration sprechen für sich)
persönliche Qualität, Charaktergröße gemeint. Den Wertekanon Schmidts
beherrschen die „unwandelbaren sittlichen Grundsätze“ und wenn er feststellen
muss, dass sie den Reden etwa Ludwig Erhards fehlen, so ist damit ein
vernichtendes Urteil gesprochen. Er selber hat es kaum verwinden können, der
Rentenlüge bezichtigt zu werden und noch einräumen zu müssen, dass er, der sich
auf
Berechenbarkeit
und
Zuverlässigkeit
eingeschworen
hatte,
einem
Rechenfehler zum Opfer gefallen war. Erwähnt werden soll in diesem Kontext
auch das religiöse Bekenntnis Helmut Schmidts. Es ist sparsam, tritt nirgendwo
penetrant hervor, wirkt aber darum auch so eindrücklich. Er scheut sich nicht, aus
der Bibel zu zitieren („Eines Tages wird die große geistige und seelische
Auseinandersetzung beginnen und an uns wird die Frage der Bibel gerichtet: ‚Wo
ist dein Bruder?’ Man wird in unser Haus sehen wollen – ob es in ihm gerecht und
frei zugeht.“) oder die Rede über die Terrorismusgefahr in Deutschland mit der
Bitte „Gott helfe uns!“ abzuschließen.
Wenn wir alles zusammennehmen, richtet sich Helmut Schmidt mehr oder
weniger bewusst nach einem Rednerideal, das die europäische Geschichte geprägt
hat und das wohl von dem Römer Cato zuerst formuliert wurde: Das Ideal des vir
bonus dicendi peritus, des Ehrenmannes, der reden kann. Das ist kein erbaulich,
gar kontemplatives Bild, Cato selbst war ein streitbarer Kämpfer für seine
moralischen Grundsätze. Die immer gefährdete Allianz von Gutsein und Gutreden
verlangt kämpferisches Engagement, die Auseinandersetzung, den Widerspruch.
Selbst Freunde und Bewunderer Schmidts haben zwischen dem leidenschaftlichen
Streitredner und dem besonnenen Staatsmann eine sie merkwürdig berührende
Diskrepanz entdecken wollen, doch äußert sich darin ein allzu schlichtes,
harmoniesüchtiges Verständnis von demokratischer Politik und der ihr
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angemessenen Rhetorik. Schmidts Hinweis auf die Athener Demokratie weist
auch an diesem Punkt die richtige Richtung. Demokratie bedeutet zwar das
Achten gleichberechtigter, konkurrierender Standpunkte, doch kann es wegen der
damit gegebenen Lebensorientierungen und Handlungskonsequenzen damit nicht
einfach sein Bewenden haben. Schmidt folgert: „Die Kontroverse ist ein
Wesenskern der Demokratie“ und als solche aus dem agonalen Redekampf
hervorgegangen, aus dem Wettstreit der Tüchtigen zum Wohle der Bürger.
„Schmidt Schnauze“ ist, um es pointiert zu sagen, nur der volkstümlich krasse
Ausdruck eines Redeverständnisses, wie es der so Apostrophierte oft genug mit
Bedacht und großer polemischer Meisterschaft praktiziert hat. Soweit ich sehe ist
es im Kontext der Atom-Debatte entstanden, deren Thema den heftigen,
kompromisslosen Widerstand legitimerweise herausforderte. Schließlich ist das
Parlament, er hat es selbst noch einmal in seiner Abschiedsrede ausgesprochen,
„Ausdruck erkämpfter Freiheitsrechte.“ Etwas von diesem Kampfgeist muß eine
Demokratie stets bewegen, soll der „Wettstreit der Meinungen“ nicht in
schwerfälliger Verlautbarungsrhetorik und Bürokratie ersticken. Der Widerspruch
aus dem Plenum ist daher oft der Treibstoff, der den Polemiker Schmidt erst zu
großer Form auflaufen lässt. Seine Rededuelle mit Erhard, mit Strauß, mit
Guttenberg und natürlich mit Helmut Kohl bereiten ob ihrer polemischen Verve,
ihrer ironischen Aperçus und immer treffenden Schlagfertigkeit Vergnügen noch
in der nachträglichen Lektüre.
Es ist schon so, und ich muß es hervorheben: Widerstand der sozial-humanen
Vernunft gegen ihre Verächter und Feinde darf den Kampf nicht fürchten. „Nur
sanft sein, heißt noch nicht gut sein“ (Ernst Bloch). Ein Helmut Schmidt in
manchem rhetorisch so verwandter Geist wie Joschka Fischer hat es seinen
parlamentarischen Kollegen noch einmal nachgerufen: „In Deutschland meint
man ja immer, im Parlament müsse man sich vor allem gut benehmen.
Pfeifendeckel! Da muß es krachen. Rhetorisch selbstverständlich nur!“ In der
Herabsetzung,
ja
Diffamierung
des
Redekampfes
haben
sich
Reste
obrigkeitsstaatlichen Bewusstseins hartnäckig und allzu umfänglich erhalten.
Denn zwischen Polemischem und Sachlichem gibt es keine Grenze, keinen
prinzipiellen Unterschied, beide zielen auf Zustimmung, wollen das Auditorium
auf Ihre Seite ziehen; wobei der Kunstcharakter der Polemik (die zugespitzte
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Pointe, die witzige Schmährede, Ironie und einfallsreiche Metaphorik) jenes
Vergnügen anstachelt, das die Ohren der Hörer öffnet. Mindestens die Ohren.
„Dann hat er (Guttenberg) den Popanz, den er sich zurecht gemacht hat, an die
Wand genagelt und darauf geschossen.“ Oder: „Es fällt mir schwer …, nicht zu
beklagen, daß die Deutschen niemals eine Revolution zustande gebracht haben,
die dieser Art von Großgrundbesitzern die materielle Grundlage entzogen hätte.“
Oder: „ Er (Ludwig Erhard) fing nach dem Kriege als Professor an, als Bekenner.
Geblieben ist uns ein selbstüberheblicher Plagiator…“ Oder, ein letztes Beispiel:
„ Die Psychologen nennen so etwas Überkompensation der eigenen Komplexe.
Die Leute bei uns zuhause in Hamburg sagen etwas schlichter: Er plustert sich auf
wie eine Henne.“
Gefühlsgründe
Wichtig ist der Hinweis auf den großen Polemiker Schmidt auch deshalb, weil der
kämpferische Redestreit die beinahe einzige, jedenfalls besonders ausgezeichnete
Gelegenheit darbietet, bei der er auch auf heftige Gefühlserregung, seines
Publikums setzt. Man weiß es, Pathos liebt er nicht, gestattet es sich (übrigens
ganz im Einklang mit der rhetorischen Regel) gelegentlich in der Schlussrede
oder zu herausragenden und ganz singulären Anlässen wie des Gedenkens an die
Judenverfolgung oder nach der Entführung und Ermordung Hans Martin
Schleyers. Solche Enthaltsamkeit hat auch charakterliche Motive, ist aber darüber
hinaus rhetorisches Merkmal der Politikergeneration, der Schmidt angehört: das
Pathos des Dritten Reiches hatte dieses heftigste und letzte Überzeugungsmittel,
in dem für Cicero die ganze Kraft des Redners kulminiert, gründlich in Verruf
gebracht. Gewiss nicht zum Nutzen der Sache, die der Redner zu vertreten hatte.
Denn das intellektualistische Vorurteil Platons, daß das Gute erkennen notwendig
das gute Tun nach sich ziehe, hat die Rhetorik mit ihrem realistischen
Menschenbild nie geteilt. Im Gegenteil, ihre Maxime: Das Denken will nicht und
der Wille denkt nicht, traut dem rein rationalen Streben für die praktische
Konsequenz nur eine eingeschränkte Bedeutung zu. Denken und Wollen müssen
also zusammen kommen, um Verhalten und Handeln zu beeinflussen. Schmidt hat
diese Wirkungsdimension, aufs Ganze gesehen, so weitgehend vernachlässigt,
daß die Überzeugungskraft seiner Reden sich nicht optimal entfalten konnte – der
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wohl wichtigste Grund dafür, daß es die eine große Rede, die im Gedächtnis der
Deutschen fortlebte, von ihm nicht gibt. Charakteristisches Beispiel: der
Redeschluss in der ersten Regierungserklärung als Bundeskanzler nach dem
unrühmlichen Ende der Brandt-Ära, einer wahrhaftig herausragenden rhetorischen
Situation: „Theodor Heuß hat gesagt: Demokratie ist Herrschaft auf Frist. Binnen
zweieinhalb Jahren wird sich das sozialliberale Bündnis der Entscheidung der
Bürger stellen. Bis dahin ist vieles zu tun.“
Kann man es kühler sagen, nüchterner die politischen Absichten resümieren? Die
zitierende Berufung auf Heuß, die lakonische Feststellung, wie wenig Zeit für die
vielen Aufgaben bleibt, knüpft zwar unmittelbar an Schmidts öffentliches, von
ihm immer wieder bekräftigtes Bild des handlungsmächtigen Politikers an,
verweist also auf das eigene Ethos, wirkt aber im knappen Redeschluss matt oder
sogar wie die kaum verhohlene Beschwichtigung der eigenen Zweifel. Derart
asketisch hat Schmidt sich allerdings doch selten verhalten. Immer aber merkt
man ihm beim pathetischen Aufschwung die Verlegenheit an, die das große, gar
erhabene Wort ihm bereitet. So kommt es, daß er dann in Allgemeinplätze
ausweicht, an Hoffnung, Mut, Vernunft appelliert und sogar zum erbaulichen
Klischee
greift:
„Selbstverständlich
braucht
der
Westen
Soldaten,
selbstverständlich braucht der Westen eine florierende und leistungsfähige
Wirtschaft, selbstverständlich braucht der Westen das Bewusstsein, in einer
Gesellschaft sozialer Gerechtigkeit zu leben. Vor allem aber … brauchen wir hier
im Westen ein unerschütterliches, in den Tiefen unserer Seelen wurzelndes
Bewusstsein von der sittlichen Überlegenheit des freien Geistes in einer
demokratischen Ordnung, wo einer den anderen achtet.“
Nein, ein Meister der bewegenden, der leidenschaftlich mitreißenden Rede ist
Helmut Schmidt nicht, eine gewisse Ausnahme macht vielleicht seine
Abschiedsrede vor dem deutschen Bundestag am 10. September 1986. Man hat
daraus sein politisches Testament lesen wollen und tatsächlich befassen sich
Zweidrittel der Rede mit politischen Vorerinnerungen, Anregungen und
Mahnungen. Im letzen Drittel aber haben persönliche Überlegungen das Wort,
Rückblick und der Dank an Lehrer und Weggefährten, das Bekenntnis zu einem
geistigen, kulturstarken Deutschland, zu einem pragmatischen Politikstil mit
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moralischer Absicht, und zum Schluss spricht er sogar das für ihn so schwierige
Überzeugungsmittel ausdrücklich an, deutet es aber gleichzeitig auf die ihm
eigenen Weise. „ Die Erreichung des moralischen Ziels verlangt pragmatisches,
vernunftgemäßes politisches Handeln, Schritt für Schritt. Und die Vernunft
erlaubt uns zugleich doch auf diesem Weg ein unvergleichliches Pathos. Denn
keine Begeisterung sollte größer sein als die nüchterne Leidenschaft zur
praktischen Vernunft“.
Staatsschauspieler und Menschendarsteller
Nach allen Zeugnissen, die ich angeführt habe, erstaunt aber die Breite der
rednerischen Rollenfächer, die Schmidt beherrscht und die Virtuosität, mit der er
sie ausspielt. Der kühle Analytiker, der belehrselige Anwalt der Vernunft, der
kämpferische Ankläger und Parteistratege, schließlich der gelassene, souveräne
Staatsmann - das sind die wichtigsten. „Unser Gewerbe ist doch wie das der
Schauspieler“, hat er einmal launig bemerkt, „ohne Zustimmung von draußen
gehen wir ein.“ Erwin Wickert hat die Selbstbezichtigung noch zugespitzt und ihn
als
„größter
Menschendarsteller
Deutschlands“
apostrophiert.
Eine
schaustellerische Begabung, die auch noch der hochbetagte Altkanzler virtuos
beherrscht und die man in Sandra Maischbergers Fernsehporträt bis in die
einzelne Geste, den mimischen Ausdruck hinein bewundern kann. Entgegen dem
üblichen
Vorurteil
ist
daran
nichts
Anstößiges,
Illusionistisches,
gar
Unwahrhaftiges. Daß Redner verschiedenen Rollenerwartungen gerecht werden
müssen, hat auch Cicero gewusst, der den Rollen-Begriff als erster aufgriff und
rhetorisch bedachte, wobei es zum Ethos des Redners gehört, durch alle Rollen
hindurch mit sich identisch zu bleiben. Die der jeweiligen Situationen und
Aufgabe angemessene Rolle zu finden, vor der Vollversammlung der Vereinten
Nationen
ebenso
wie
in
der
aufgeheizten
Atmosphäre
einer
Delegiertenversammlung der eigenen Partei in Wahlkampfzeiten, entscheidet über
Glaubwürdigkeit und Erfolg im politischen Alltag. Der Politiker, der aus der
Rolle fällt, wie man so zutreffend redensartlich sagt, enttäuscht die Erwartung,
mit der man ihn von Fall zu Fall unterschiedlich begegnet. Wenn Helmut Schmidt
auf diesem Felde jemals irrte, so allenfalls im Stil und Sprache, die er sich wählte.
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Man kann es vielfach schon aus den Redezitaten herauslesen, die ich brachte: eine
originale neue Sprache, stilistische Eleganz und Geschmeidigkeit blitzen zwar
hier und da auf, in ironischen Wendungen, polemischen Attacken, nachdenklichen
Parenthesen – generelle Merkmale seines Redstils sind sie nicht. Aus
Regierungserklärungen
und
Programmreden,
Sachdarstellungen
und
Argumentationen vernehmen wir einen Widerhall aus der Sprache der verwalteten
Welt. Nominalkonstruktionen herrschen vor, das Verb verschwindet oder
verwandelt sich in ein blasses Hilfsverb („Durch die Verabschiedung des
Betriebsverfassungsgesetzes ist die Position des einzelnen Arbeitnehmers …“
usw.), die Modi des Zeitworts schrumpfen zum Passiv. Den Sätzen fehlen oft
Vitalität, Bewegung, Anschaulichkeit und ihr statischer Charakter wird durch
Schmidts schon fort an eine Manie erinnernde Vorliebe für die enumeratio (so der
rhetorische Terminus für die Aufzählung) noch kräftig abgestützt. Warum das so
ist, dazu bei einem Manne, der publizistisch derart präsent ist und dessen
literarische Bildung die seiner meisten Kollegen weit übertrifft, das ist nicht
einfach zu sagen. Zuvörderst mag es auch an dem spröden Material liegen, das
dem Politiker für seine Reden von Regierungsbeamten, Fachreferenten und
anderen oft juristischen Spezialisten geliefert wird und das in eine treffende,
plastische und kraftvolle Sprache zu übersetzen, Mühe und Zeit kostet, die dem
aktiven Politiker fehlen. Beschäftigt er Redenschreiber, so ist deren stilistische
Begabung oder Ausbildung meist ungenügend. Zwei weitere Gründe wurden in
anderem Zusammenhang schon gestreift: Schmidts demonstrative Sachlichkeit
und sein, durch die Popper-Lektüre verstärktes Misstrauen gegen die
Einzelerfahrung, das Exempel, und damit seine Neigung zu logischem
Argumentieren. Hinzu kommt die herrschende Meinung in Deutschland, daß
Sprachkunst und Regierungskunst einander fremd sind.
Aber das ist nicht alles. Reden halten heißt schließlich situativ adressatenbewusst
sprechen, wozu auch die Anpassung des Stils an die Erwartungen der Hörer zählt.
In diesem Punkt mag Schmidt oft allzu nachgiebig gegenüber einem wenig
anspruchsvollen Publikum verfahren sein, doch muss man auch seine stilistische
Bandbreite, aufs ganze Rede- Œuvre geblickt, immer wieder und manchmal mit
großer Überraschung würdigen. Einhämmernde Wiederholungen, rhetorische
Fragen, Verdopplungen dominieren Streit- und Debattenreden, Antithese und
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Parallelismus arbeiten in Sacherörterungen den Konflikt, den springenden Punkt,
das Dilemma mit großer Schärfe heraus: „Es ist uns gelungen, die Passagiere und
die viel der fünf Besatzungsmitglieder der entführten Lufthansamaschine ... zu
befreien und ihre Leben zu retten. Es ist uns nicht gelungen, die Morde in
Karlsruhe, in Köln, den Mord an Bord des Lufthansaflugzeugs zu verhindern.“
Tatsächlich entfaltet Schmidt ein reiches Figurenarsenal, wenn die in der Sache
selber liegende Spannung etwa einer innenpolitischen Krise oder einer
wirtschaftlichen Notsituation das erfordern. In Sinnspruchartigen; sentenziös
verdichteten Sätzen lebt großer rhetorischer Ehrgeiz, der über den Tag hinaus
zielt. „Äußere Fettlebigkeit bei innerer Ungerechtigkeit ist auf die Dauer keine
Alternative zum Kommunismus.“ Man hört geradezu, welches Vergnügen dem
Redner diese Formulierung macht. Nicht selten gewinnt man so den Eindruck,
daß die selbstauferlegte Disziplin drückt und die Gleichgültigkeit gegen das
Gefühl in den Hintergrund tritt. Das nun schon geflügelte Wort, die Metapher
„Raubtierkapitalismus“, geht auf ihn zurück, die politischen Vorfahren Mendes
und von Hassels sieht er „noch vor Wilhelm dem Zweiten auf den Knien“ liegen,
erinnert daran, „daß (Wohlstands-) Speck noch kein festes moralisches
Knochengerüst
darstellt“,
wirbt
für
eine
„Entgiftung
der
politischen
Auseinandersetzung“, nennt Jimmy Charter „einen Schimmerlos vom Anfang bis
zum Ende“ - griffige Bilder und Metaphern, die immer wieder auch in GleichnisRede münden: „Wer sich versöhnen will, wer sich die Hand reichen, wer friedlich
mit seinem Nächsten leben will, der muß den Kopf heben und den anderen
anblicken.“
Ich habe das Gleichnis mit Bedacht an diese Stelle gesetzt: wie in einem
Brennglas konzentriert sich darin das Bild des politischen Redners Helmut
Schmidt. Auch wenn ich nicht unterschlagen will, daß er sich immer einmal
wieder als der Oberlehrer der Nation oder wenigstens seiner Kollegen in Szene
gesetzt hat, so zielen doch alle seine wesentlichen rhetorischen Bestrebungen
darauf, den Hörer, den Adressaten seiner Reden, als Partner eines gemeinsamen,
auch
im
heftigsten
Widerstreit
gemeinsamen
Dialogs
wahrzunehmen.
Nachprüfbare Rationalität, Rechenhaftigkeit, Genauigkeit und Konzentration auf
das Wesentliche, wollen die so fremd gewordene oder gebliebene Sphäre der
Politik dem Bürger weit öffnen, treten ihm aufrecht und ohne Hintergedanken
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entgegen, machen ihm das Vergnügen der Teilnahme gerade auch am schwierigen
Regierungsstoff. Es ist ein eigenes Pathos, zu dem sich Schmidts Rede dann
erhebt: in ihr spüren wir die klare Gebirgsluft der Gerechtigkeit.
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