Wie ein Song von Nina Simone Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete Vivien die muskulösen Beine des Joggers, der sie gerade überholt hatte. In wenigen Minuten würde er um die Ecke verschwinden. Sie tröstete sich damit, dass auch er irgendwann dahin kommen würde, wo sie jetzt war: zügiger, kräftiger Schritt, aber richtiges Joggen machten die Knie nicht mehr mit, hatte Dr. Melzer gesagt. Ansonsten nur weiter so, sie würde noch hundert Jahre alt werden. Scheiße, hatte sie gedacht, mir reicht’s jetzt schon. Wieder wurde sie überholt, diesmal von einer Frau. Noch vor ein paar Jahren war sie genauso schnell gewesen. Manchmal war Bernd mitgekommen, aber er hatte immer nach zwei Runden schlapp gemacht und sich auf eine Bank gesetzt, um auf sie zu warten. Und sie war weitergelaufen und hatte sich gefühlt, als könnten ihre Beine sie durch die ganze Stadt tragen. Die Joggerin war schon fast an der Ecke angelangt, als sie plötzlich stolperte und fiel. Vivien konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Sie würde es überleben. Schlimmstenfalls würde eine Narbe an den Sturz erinnern. Vivien schloss die Haustür auf. Heute musste sie nach der Post sehen. Das letzte Mal war zehn Tage her. Sie konnte nicht jedes Mal sagen, dass sie verreist gewesen war, außerdem guckten schon Briefe aus dem Schlitz heraus. Sie betrachtete den Stapel in ihren Händen – alle adressiert an Bernd Adamski – und konnte sich kaum beherrschen, ihn so wie er war in den Papiermüll zu werfen. Sie betrat die stille Wohnung. Alle haben mich verlassen, dachte sie. Zuerst Alexander, der zu seiner damaligen Freundin in die Schweiz ziehen musste, obwohl er sie erst ein paar Monate kannte. Dann Kristin, die noch eine Weile in einer WG in der Oranienstraße gewohnt hatte, bis sie in München Arbeit gefunden hatte, wo sie heute noch lebte, mit ihrem Mann und den beiden Kindern, die sich nur noch bei ihr meldeten, um sich für die Geschenke zu bedanken. 1 Vivien überflog die Rechnungen. Als letztes öffnete sie einen Brief, der von der Hausverwaltung gekommen war. Die Wohnungen sollten verkauft werden. Sie würden 434000 Euro zahlen müssen oder ausziehen. Sie wählte die Nummer ihrer Tochter und hörte sich deren Entschuldigungen an, warum sie es auch die nächsten Wochen nicht schaffen würden, nach Berlin zu kommen. Sie erwähnte den Brief der Hausverwaltung. „Wir kaufen die Wohnung natürlich“, sagte sie und legte auf, bevor Kristin antworten konnte. Sie zog ihre neuen Laufschuhe aus (der Verkäufer in der Sportabteilung bei Karstadt hatte sie skeptisch angesehen, als sie ihn um Rat gebeten hatte, weil sie sich nicht zwischen Asics und Adidas entscheiden konnte; am Ende hatte er auch noch die Frechheit besessen, sie zu fragen, ob sie wirklich für sie seien) und kontrollierte, ob das Licht des Anrufbeantworters aufblinkte. Sie hatte sich angewöhnt, das Handy bei ihren täglichen Spaziergängen Zuhause zu lassen. Diese zwei Stunden müsste sie abschalten, hatte Dr. Melzer geraten, das bräuchte sie unbedingt. „Wieso?“, hatte Vivien gefragt und damit gerechnet, dass er wieder mit seiner hundert-JahreTheorie anfangen würde, aber er hatte sie angelächelt und dann gesagt: „Weil ich es Ihnen befehle.“ Und Vivien war froh gewesen, dass es jemanden gab, der ihr Vorschriften machte. Dass es jemanden gab, der zumindest so tat, als würde es ihn interessieren, wie es ihr ging. Sie drehte den Wasserhahn auf und zog sich aus. Früher hatte sie sich zu dick gefühlt, jetzt bekam sie Angst, wenn sie sich im Spiegel sah. Sie stieg in die Badewanne. Sie ließ ihren Blick umherstreifen. Wenn Bernd zurückkam, würde alles wie immer sein. Sie hatte sein Rasierwasser stehen lassen und seine elektrische Zahnbürste. Sein Bademantel hing am Haken, frisch gewaschen. Sein Massageöl stand neben seinem Deostift, der längst eingetrocknet war. Sie ging in die Küche, um sich einen Tee zu machen. Bernd war der große Teekenner, ihr selbst reichten der Früchte- oder 2 Hagebuttentee in Beuteln für neunundsechzig Cent. Sie musste daran denken, wie er ihr am letzten Geburtstag die Augen verbunden hatte. Sie waren fast eine Stunde mit dem Auto unterwegs gewesen, dann öffnete er die Beifahrertür, nahm sie an die Hand und sagte: „Vorsicht, Straße“, oder: „Pass auf“, bezahlte für irgendetwas Eintritt, aber sie durfte immer noch nicht gucken. Sie spürte den Weg aus Kieselsteinen unter ihren Füßen, als er ihr endlich diese blöde Augenbinde abnahm. Sie waren in einem japanischen Garten gelandet, dann musste sie sich noch den koreanischen und den chinesischen Garten ansehen. Bernd hatte eine Teezeremonie in einem Teehäuschen arrangiert. Eine lächerlich kleine Asiatin, die ein mit Drachen besticktes Kleid trug, füllte heißes Wasser in winzige Tassen und sie musste immer wieder probieren und sagen, wie sich der Geschmack veränderte, dabei war es die ganze Zeit die gleiche Plörre. Ihre Füße schmerzten und sie war viel zu warm angezogen, aber als Bernd sie beim Ausgang fragte, ob es ihr gefallen habe und sie seinen Blick erwiderte, war ihr klar geworden, dass sie den kleinen braunen Fleck am Rand seiner rechten Iris viel zu lange nicht mehr bemerkt hatte. Vivien holte ein Stück Gouda aus dem Kühlschrank und bestrich eine labbrige Scheibe Brot mit Butter. Bernd würde sich vor Ekel schütteln. Er hatte sich, nachdem er in Rente gegangen war, angewöhnt selbst Brot zu backen. Sie sah ihn vor sich, wie er mit den Topflappen vor dem Ofen stand und auf die Uhr schaute; gleich würde er ihn öffnen, das Brot herausholen, es auf das Brett legen und nach dem Messer greifen, aber noch einen Moment innehalten, und sie würden beide zusehen, wie der Dampf nach oben stieg. Nach zwei Bissen schob sie den Teller beiseite und griff nach dem Buch, das sie seit Wochen zu lesen versuchte. Sie las eine Seite, blätterte um, blätterte wieder zurück, fing noch einmal von vorn an und legte das Buch weg. Sie blickte aus dem Fenster. Die Sonne schien mit voller Wucht auf die Blumentöpfe, die sie seit Bernds Unfall nicht mehr beachtet hatte. Jedes Jahr im März war sie mit den Samentütchen zurückgekommen. Bernd hatte den 20 Liter Beutel Erde hoch getragen und sie hatte den Tisch frei geräumt, die alte Erde in den Mülleimer geschüttet, die Blumentöpfe nebeneinander 3 gestellt und in jeden neue Erde gefüllt. Sie hatte die Samen drauf gestreut und mit den Fingern vorsichtig hinunter gedrückt. Wie jedes Jahr hatte Bernd gesagt, dass das bestimmt nicht so gemacht würde und wie jedes Jahr waren nach ein paar Wochen die ersten grünen Sprossen zu sehen gewesen. Auch in dem Jahr, als er sich in die Bibliothekarin verliebt hatte und sie verlassen wollte, und er hatte den 20 Liter Beutel Erde hoch getragen und sie hatte die Samen mit ihren Fingern heruntergedrückt und angefangen zu weinen, obwohl sie sich geschworen hatte, genau das nicht zu tun, weil ein von Tränen verschmiertes Gesicht bestimmt das letzte war, was einen Ehemann halten konnte. Beim Zähneputzen fiel ihr Blick auf die Schminke, die sie sich letzte Woche gekauft hatte. Das Make-up allein hatte fast fünfzig Euro gekostet. In der Kosmetikabteilung bei Karstadt hatte eine Verkäuferin ihr angeboten, sie zu schminken. Sie wollte ablehnen, aber dann dachte sie , dass es eine schöne Überraschung für Bernd sein könnte. Sie war selbst erstaunt, als sie das Ergebnis im Spiegel sah. Danach hatte sie wie im Rausch Make-up, Rouge, Wimperntusche und Lidschatten gekauft. Alles sauteuer. Alles von Helena Rubinstein. Warum hatte sie ihre Tochter nicht Helena genannt? Sie wäre bestimmt anders geworden. Eine Helena würde es niemals übers Herz bringen, ihre Mutter in solch einer Situation allein zu lassen. Vivien stellte sich vor, wie man sie fragen würde: „Und, wie geht es deiner Helena?“ und sie würde antworten: „Ich wüsste nicht, wie ich es ohne sie schaffen sollte.“ Sie war gerade dabei den Mantel anzuziehen, als es klingelte. Nach kurzem Zögern ging sie zur Tür und sprach in den Hörer der Sprechanlage: „Hallo?“ „Happy Birthday.“ Sie biss sich auf die Lippen. Seit das mit Bernd passiert war, kam Natascha alle paar Wochen ohne sich anzumelden vorbei, und das immer dann, wenn es Vivien am wenigsten passte. Wahrscheinlich hatte sie in irgendeinem Ratgeber gelesen, dass man in solchen Fällen die Unterstützung der Freunde brauchte, auch wenn man es nicht zeigte. „Willst du dein Geschenk nicht sehen?“ 4 Vivien drückte auf den Summer. Sie ließ die Wohnungstür offen und ging schon einmal in die Küche, um einer Umarmung aus dem Weg zu gehen. „Du bist dünn geworden, Vivi“, sagte Natascha. „Das Problem hast du ja nicht“, sagte Vivien. Sie sah ihrer Freundin dabei zu, wie sie ihren dicken Hintern schwerfällig auf die Küchenbank senkte. Es war ihr unverständlich, wie man sich so gehen lassen konnte. Als sie sich das erste Mal begegneten, hatte Vivien gedacht, Natascha sei Tänzerin, so schmal und beweglich war sie ihr damals vorgekommen. „Isst du auch regelmäßig?“ „Natürlich.“ Sie hatte nur noch selten Appetit. An manchen Tagen vergaß sie einfach zu essen. Außerdem wurde ihr oft schlecht, wenn sie aß, wie gestern, als sie auf dem Hermannplatz auf die dämliche Idee gekommen war, sich eine Rostbratwurst zu kaufen, obwohl Bernd und sie seit Jahrzehnten Vegetarier waren. Natascha sah sich um. Gleich würde sie wieder damit kommen, wie oft sie hier mit Freunden gesessen und gefeiert haben. Und dass sie das unbedingt bald wieder tun müssten. „Wie geht’s Bernd?“ „Jeden Tag besser.“ Vivien hatte Bernd von der Rostbratwurst erzählt, aber auch dann war ihm sein Grinsen nicht vergangen. Natascha berührte sie an der Schulter. „Ist dir nicht gut?“ Sie holte ein Päckchen aus ihrem Rucksack und schob es ihr über den Tisch zu. „Alles Gute“, sagte sie. Vivien betrachtete das Geschenkpapier. Sie war sicher, dass sie es bei Rossmann am Packtisch gesehen hatte. „Ich hatte völlig vergessen, dass ich Geburtstag habe“, sagte sie. Natürlich hatte sie ihn nicht vergessen. Natürlich hatten ihre Kinder ihn nicht vergessen. Kristin hätte bestimmt etwas gesagt, wenn sie die Gelegenheit gehabt hätte. Vielleicht hatte sie sogar etwas gesagt und Vivien hatte mal wieder nicht richtig zugehört. Sie seufzte. „Heute ist Post von der Hausverwaltung gekommen“, sagte sie und riss das Geschenkpapier auf. Sie holte ein Tuch heraus und hängte es über die Stuhllehne, neben das Geschirrhandtuch. „Wenn es dir nicht gefällt, kannst du es umtauschen.“ 5 „Sie wollen das Haus sanieren.“ Vivien hatte noch nie Tücher getragen und auch nicht vor, jetzt noch damit anzufangen. „Wir müssen kaufen oder ausziehen.“ Natascha zuckte mit den Schultern. „Was?“ Vivien spürte, wie ihr linkes Augenlid wieder zu zucken anfing. Früher dachte sie, dass man es nicht sehen konnte, aber sie hatte sich, als es das letzte Mal wieder losging, im Spiegel betrachtet und es war deutlich zu sehen gewesen. „Bei mir um die Ecke gibt es gemütliche Zweizimmerwohnungen“, sagte Natascha. „Mit Fahrstuhl und Balkon.“ Vivien und Bernd hatten früher oft davon gesprochen, dass sie sich eine Wohnung mit Balkon suchen würden, sobald die Kinder ausgezogen waren. „Nach Tegel? Bernd wird sich bedanken.“ Natascha lächelte sie an und dann legte sie plötzlich ihre Hand auf Viviens Hand. „Manchmal ist es besser loszulassen.“ Vivien zog ihre Hand weg. „Wir ziehen hier nicht aus, basta.“ „Fährst du immer noch jeden Tag zu ihm?“, fragte Natascha und sah sie dabei auf eine Art an, die Vivien misstrauisch machte. Sie müsste heute unbedingt die Schwester fragen. Das würde gut zu Natascha passen, Bernd heimlich zu besuchen. Sie stand auf und sagte: „Tee?“ Natascha nickte. „Ich habe eine nette Lesegruppe gefunden. Wir treffen uns einmal die Woche.“ Sie tippte auf Viviens Buch. „Das haben wir auch gelesen. Willst du nicht mal mitkommen?“ Vivien goss heißes Wasser auf den Teebeutel und holte ihn wieder heraus, bevor das Wasser richtig Farbe annehmen konnte. Sie stellte die heiße Tasse vor Natascha auf den Tisch und sagte: „Zucker ist alle.“ „Die sind alle total nett“, sagte Natascha. „Und du liest doch auch so viel.“ Vivien sagte: „Ich habe keine Zeit.“ Natascha umfasste mit ihren arthritischen Händen die Teetasse und sagte: „Was ist mit Dennis’ Beerdigung? Kommst du?“ „Ich gehe nicht auf Beerdigungen.“ „Willst du nicht wenigstens eine Karte schicken?“ 6 Vivien warf einen unauffälligen Blick auf ihre eigenen Hände, die bis auf die braunen Flecken noch ganz okay aussahen. Ich hasse es alt zu werden, dachte sie. „Wie geht’s den Kindern?“, fragte Natascha. „Kristin will am Wochenende kommen“, sagte Vivien. „Und Alexander ist vor zehn Tagen Vater geworden.“ „Willst du nicht hinfahren und das Baby ansehen?“ „Ich kann Bernd nicht allein lassen.“ Vivien erzählte ihr nicht, dass ihr Sohn aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen war und sie keine Ahnung hatte, wo er sich gerade aufhielt. Sie hatte ihm angeboten, erstmal für eine Weile nach Hause zu kommen, aber er hatte gesagt, dass er nicht einfach so weg konnte. Sie hoffte, dass es mit seiner neuen Stelle zu tun hatte. Sie hoffte, dass er nicht schon wieder arbeitslos war. „Und wenn ich in der Zeit nach ihm sehe?“ Vivien nahm ihr die Tasse weg und sagte: „Ich muss los.“ Sie atmete auf, als sie die Tür hinter Natascha geschlossen hatte. Sie rief ihren Sohn an und sprach auf die Mailbox. Auch wenn er sein Jurastudium abgebrochen hatte, er würde wissen, was sie tun könnte. Sie wohnten schon so lange hier. Sie hatten die Wohnung selbst renoviert und eine Zentralheizung eingebaut, als alle noch mit Kohle heizten. Peter hatte geholfen. Der schöne Peter, der mit noch nicht einmal fünfzig an Prostatakrebs gestorben war, obwohl es schon damals hieß, dass es so gute Heilungschancen gab. Die beiden hatten auch das Bad gefliest, als Vivien mit Kristin schwanger war und sie damit gedroht hatte, in den erstbesten Neubau zu ziehen, denn mit zwei Kleinkindern hatte sie endlich eine anständige Wohnung haben wollen. „Wir werden auf keinen Fall ausziehen“, sagte sie, bevor sie auflegte. Sie öffnete die Wohnungstür. Auf der untersten Treppenstufe saß das Mädchen, das vor ein paar Jahren noch im Kinderwagen geschoben worden war. Sie sah auf. Vivien wurde klar, dass ein paar Jahre mindestens dreizehn sein mussten. Sie verkniff sich ein „Bist du groß geworden“ und sagte stattdessen: „Alles okay mit dir?“ Das Mädchen zuckte mit den Schultern. Es hatte geweint; die Wimperntusche war verschmiert. 7 Vivien seufzte und setzte sich neben sie. „Kann ich dir helfen?“ „Mir kann keiner helfen.“ Vivien musste grinsen. So weit war sie schon. Auf derselben Wellenlänge mit Pubertierenden. Sie legte ihre Hand auf den dünnen Unterarm des Mädchens (Magersüchtig? Aber heute sahen sie alle so aus). „Ich sollte dir jetzt wahrscheinlich sagen, dass du bald wieder lachen wirst und dass du das Leben noch vor dir hast.“ „Erwachsene sagen so was immer.“ „Das tun sie, weil sie nicht zugeben wollen, dass sie selbst frustriert sind.“ Vivien dachte an ihre eigene Enkelin, die vor ein paar Wochen vierzehn geworden war. Wenn sie sie ans Telefon bekam, sagte sie immer, dass es ihr gut ging. Wahrscheinlich log sie. Das Mädchen betrachtete ihre kurzen Nägel, an denen der grüne Lack abblätterte. „Sind Sie traurig, weil Ihr Mann gestorben ist?“ „Er ist nicht gestorben.“ „Ich dachte“, sagte das Mädchen und wandte ihr das Gesicht zu. „Weil Sie in letzter Zeit immer allein sind.“ „Er hatte einen Unfall“, sagte Vivien und stand auf. „Aber bald kommt er wieder nach Hause.“ Als angekündigt wurde, dass die nächste S-Bahn erst in zwanzig Minuten kommen würde, holte Vivien ihr Handy aus der Tasche und rief Toms Sohn an, der seit ein paar Jahren ein Maklerbüro leitete. Sie sagte, dass sie hunderttausend Euro sofort aufbringen konnten, für den Rest würden sie einen Kredit brauchen. Er sagte ihr, dass sich keine Bank darauf einlassen würde. Sie dachte daran, wie er damals mit ihren Kindern gespielt hatte. Sie dachte daran, wie sie auf ihn aufgepasst hatte, als seine Mutter im Krankenhaus war. „Ich habe Kristin in unserer Wohnung zur Welt gebracht. Ich kann dir zeigen, an welcher Stelle“, sagte sie. „Man kann uns nicht einfach vor die Tür setzen.“ Als er fragte, wie es Bernd gehe, antwortete sie: „Gut. Bald kommt er wieder nach Hause.“ 8 Sie betrat das Foyer. Wenn man sie fragen würde, was ihr hier am meisten auf die Nerven ging, würde sie vermutlich den Geruch nennen, aber die Drucke an den Wänden kamen gleich danach. Sie stellte sich vor, wie die Innenarchitekten die Motive ausgesucht hatten, mit der festen Überzeugung, dass Monets und Manets das Alter erträglicher machten. Die Krankenschwester mit dem Hennagefärbten Kraushaar kam ihr mit einem Tablett in den Händen entgegen. Wenn all diese Menschen wenigstens damit aufhören würden, sie ständig anzulächeln. „Sie bringen ja den Frühling mit, Frau Adamski“, sagte die Schwester. „Wie geht’s ihm?“ „Wir haben eine unruhige Nacht hinter uns.“ „Haben Sie es schon mal mit Baldrian versucht?“ Vivien betrachtete die gelben und rosa Schnabeltassen, die auf dem Tablett standen. „Und wie geht es meinem Mann?“ „Der Oberarzt möchte Sie sprechen“, sagte die Schwester, ohne ihr Lächeln abzulegen. „Er erwartet Sie in seinem Büro.“ Vivien öffnete die Tür zu Bernds Zimmer. Das zweite Bett war noch immer nicht neu belegt. Der Mann war vor drei Tagen gestorben. Vivien hatte manchmal mit seiner Frau in der Cafeteria gesessen, um sich stundenlang anzuhören, was für tolle Kinder und Enkel sie hatte, die sie natürlich jedes Wochenende besuchten und sie unterstützten, wo sie konnten, aber beim letzten Mal hatte die Frau plötzlich gesagt: „Wenn ich hier liegen müsste, würde ich mich erschießen lassen.“ Sie hatte sich vorgebeugt und geflüstert: „Ich habe gehört, dass man Leute findet, die das für 500 Euro tun.“ Vivien stellte den Stuhl neben Bernds Bett. Anfangs hatte sie sich noch die Mühe gemacht, ihn zusammen mit der Schwester in einen der Rollstühle zu hieven. Sie hatte ihn in den Park geschoben, zu der Bank unter der großen Kastanie, und sie hatte den iPod angestellt und ihm den Kopfhörer aufgesetzt. Sie hatte gehofft, dass er bei Let It Bleed eine Reaktion zeigen würde. Sie hatte sein Gesicht genau beobachtet und endlich, beim letzten Lied, als der Kinderchor zu singen anfing, dachte sie, dass seine Pupillen kleiner wurden, aber als sie wieder Zuhause war, hatte sie im Internet die Erklärung 9 gefunden, dass der Lichteinfall sich verändert haben musste oder die Wirkung der Medikamente nachgelassen hatte. Sie küsste Bernd auf die Stirn. „Ich habe gehört, du hast nicht gut geschlafen?“ Sie zog ihren Mantel aus und öffnete das Fenster. Es war immer schrecklich stickig hier. Draußen wanderten ein paar gebückte Gestalten im Schneckentempo herum, mit Stöcken und Gehhilfen. Auf der Terrasse standen Rollstühle und die, die drinsaßen, blickten apathisch in die Gegend. Alle trugen diese geschmacklosen, schlabbrigen Klamotten, meistens in beige oder hellgelb. Alle sahen aus, als würden sie morgen ins Gras beißen. Vivien legte ihren Kopf auf seine Schulter. Früher war er so kräftig gewesen. Jetzt spürte sie nur noch Knochen. Sie kam wieder hoch und sagte: „Heute ist Post von der Hausverwaltung gekommen. Sie wollen, dass wir die Wohnung kaufen.“ Sie presste seine kalte Hand an ihre Wange und sagte: „Sonst müssen wir ausziehen.“ Die Sonne durchflutete das Zimmer. Früher war der Frühling ihre liebste Jahreszeit gewesen. Jetzt könnte er ihretwegen nie kommen. Sie fürchtete sich schon vor den lachenden Leuten in den Cafés und den jungen Mädchen in ihren Sommerkleidern und den Männern in ihren aufgeknöpften Hemden. „Deiner Enkelin geht es super“, sagte Vivien und holte das Massageöl aus ihrer Tasche. „Sie hat schon ein Kilo zugenommen.“ Sie massierte jeden seiner Finger einzeln, danach die Handflächen. „Alexander hat Fotos geschickt. Sie sieht genauso aus wie er als Baby.“ Einmal hatte sie Bernds Rücken massieren wollen, die Schwester hatte geholfen, ihn auf den Bauch zu drehen, aber als er da gelegen hatte, wie eine Leiche aus einem dieser düsteren Schwedenkrimis, war ihr schlecht geworden. Sie musste sich hinsetzen und die Schwester hatte Bernd währenddessen wieder umgedreht. Es hatte so mühelos ausgesehen und es hatte Vivien klargemacht, dass nicht mehr sie es war, die wusste, was ihr Mann brauchte. Sie beugte sich vor und flüsterte ihm ins Ohr: „Es ist so einsam ohne dich.“ Sie nahm sich seine andere Hand vor und sagte: „Hab ich dir schon erzählt, dass ich in Kristins Geigenlehrer verknallt war?“ Seine Augen blickten weiter an die Decke, auch als sie mit 10 ihrem Gesicht genau vor seins kam. Er schien glatt durch sie hindurch zu sehen. „Der Russe. Gestern ist mir wieder eingefallen, wie er hieß.“ Bernd blieb dabei, sie dämlich anzugrinsen. Er war immer sehr ernst gewesen, manchmal sogar leicht depressiv, und jetzt lag er hier und grinste wie ein Vorschüler, der heimlich an den Süßigkeitsvorräten seiner Eltern gewesen war. Vivien legte ihren Finger an seinen rechten Mundwinkel und zog ihn runter. „Roman hieß er.“ Sie zog den Finger zurück und der Mundwinkel ging wieder nach oben. „Macht es dir wirklich nichts aus?“ Diesmal zog sie beide Mundwinkel nach unten. „Ich wollte dich verlassen, so verliebt war ich. Jetzt bist du traurig, oder?“ Sie ließ los und Bernd grinste sie wieder an. „Schon gut“, sagte Vivien und stand auf. „Das war gelogen.“ Sie holte ihren iPod aus der Tasche. „Jetzt ist Schluss mit den Wunschkonzerten“, sagte sie und suchte Tammy Wynette in der Liste. Bernd hasste Countrymusik, vor allem, wenn sie von Frauen gesungen wurde. „Morgen ist Dolly Parton dran.“ Sie beobachtete seine Augen. Sie wartete darauf, dass irgendetwas in seinem Körper sich regte. Sie betrachtete seinen Mund und sagte: „Mit allem lässt du mich allein.“ „Frau Adamski“, sagte der Arzt, als sie die Tür öffnete. „Nehmen Sie Platz.“ Vivien ging zum Schreibtisch und setzte sich. Als sie ihre Tasche auf den Boden stellte, fiel ihr Blick auf die Turnschuhe des Arztes. Es waren die gleichen, die sie gekauft hatte, nur viel größer. Sie dachte daran, wie der Verkäufer ihr eine 42 aufschwatzen wollte, dabei hatte sie ihr ganzes Leben Größe 39 getragen. Sie hatte sich wie ein Clown gefühlt, als sie ein paar Schritte damit gegangen war. Als der Verkäufer von einem anderen Kunden angesprochen wurde, hatte sie die kleineren genommen und war zur Kasse gegangen. Sie musste grinsen. Wahrscheinlich hatte der Arzt auf den Verkäufer gehört. Sie sagte: „Wann kann ich meinen Mann endlich nach Hause holen?“ Der Arzt deutete auf die Röntgenaufnahmen, die er vor sich liegen hatte und sagte: „Ich habe leider keine guten Nachrichten.“ 11 Vivien hatte plötzlich das Gefühl, als würde ihre Zunge am Gaumen festkleben. Sie sagte: „Könnte ich ein Glas Wasser haben?“ Der Arzt stand auf und griff nach der Selterflasche auf der Fensterbank. Er drehte das Glas um, das daneben gestanden hatte, und goss Selter hinein. Vivien konnte sehen, wie die Gasblasen umherwirbelten. „Ihr Mann hat ein Geschwür im Darm“, sagte der Arzt und reichte ihr das Glas. Vivien setzte es an ihre Lippen. Sie ließ das Wasser in ihren Mund laufen. Sie spürte die Luftblasen auf ihrer Zunge. Sie trank aus und sagte: „Kann ich noch mehr haben?“ Der Arzt holte die Flasche von der Fensterbank und goss das Glas wieder voll. „Wir können natürlich operieren.“ Vivien setzte das Glas wieder an. Sie dachte an die Seltermaschine, die in ihrer Küche neben der Spüle stand, und die sie nicht mehr benutzt hatte, seit Bernd hier lag. Wahrscheinlich musste sie nur die Kartusche austauschen. Gleich morgen würde sie zu Rossmann gehen. „So ein Eingriff wäre allerdings ein Risiko.“ Der Arzt betrachtete die Röntgenaufnahmen und sagte: „In seinem Zustand würde ich davon abraten.“ Vivien stellte das Glas auf den Tisch und sagte: „Er hat Krebs?“ Der Arzt nickte. Vivien starrte auf seinen Kittel. Neben der Knopfleiste, zwischen dem zweiten und dem dritten Knopf, war ein winziger, brauner Fleck. Er sah aus wie der Fleck in Bernds rechtem Auge. Vielleicht war es nur ein Fussel. Vielleicht würde der Arzt ihn entdecken, wenn er an sich heruntersah, und ihn mit dem Daumen und dem Zeigefinger wegschnippen. Aber was, wenn er beim Essen gekleckert hatte? Zog er dann gleich einen neuen Kittel an oder würde er versuchen, den Fleck auszuwaschen? Es war ein winzigkleiner Fleck, es lohnte sich nicht, deswegen den ganzen Kittel zu waschen. „Das Gute ist, dass er nichts spürt“, sagte der Arzt. Sie stand auf. „Was meinen Sie damit?“ „Es tut nicht weh.“ Er zuckte mit den Schultern. „Eine Operation würde er vielleicht nicht überleben.“ „Und wenn er nicht operiert wird?“ 12 „Es ist natürlich Ihre Entscheidung.“ Er reichte ihr die Hand und sagte: „Schlafen Sie eine Nacht drüber.“ Als Vivien wieder nach Hause kam, blinkte das grüne Licht des Anrufbeantworters. Sie ging durch die Zimmer. Sie betrachtete die eingerahmten Fotos an den Wänden. Sie dachte an die Kisten, in denen weitere tausend lagen. Sie stellte sich vor, wie ihre Kinder kurz reingucken würden, ein paar Bilder herausnehmen würden mit den Worten: „Kannst du dich noch erinnern?“ und dann zum Räumungsdienst sagen würden: „Weg damit.“ Sie öffnete den teuren Wein, den Bernd zu seiner Abschiedsfeier im Institut bekommen hatte und den sie sich immer für einen besonderen Tag aufheben wollten. Sie ging ins Wohnzimmer und setzte sich aufs Sofa. Sie füllte das Glas. Sie sagte: „Scheiße.“ Das letzte Mal hatte sie Alkohol getrunken, um mit Bernd darauf anzustoßen, dass sie erneut Großeltern wurden. Drei Tage später hatte sie bei Kaiser’s an der Käsetheke gestanden, während er den Saft holen wollte und dann hatte sie gehört, wie eine Flasche auf den Boden fiel, als die Verkäuferin gerade das Stück Pecorino für sie auf die Waage legte, und sie hatte sich gesagt, dass es einfach nur eine Flasche gewesen war, die jetzt in Scherben auf dem Boden lag und eine Verkäuferin würde kommen, um alles wieder wegzuwischen, aber Viviens Beine bewegten sich auf die Getränkeabteilung zu, als wäre sie eine Marionette, und sie erinnerte sich, wie sie damals gedacht hatte: „Nicht so schnell, deine Knie.“ Sie schloss die Augen. Sie hörte die Geräusche aus der Wohnung über ihr. Sie hörte, wie die schnellen Kinderschritte über den Flur liefen. Sie hörte die Stimmen aus dem Fernseher. Sie hörte, wie etwas Schweres zu Boden fiel. Vivien betrachtete die Beine des Joggers, der sie gerade überholt hatte. Er hatte einen guten Rhythmus. Der Abstand wurde größer. Gleich würde er um die Ecke verschwinden. Vivien ging schneller. Dr. Melzer würde mit ihr schimpfen. Sie fing an zu laufen. Denken Sie an Ihre Knie, Frau Adamski. Sie spürte, wie ihre Füße vom Boden abhoben und wieder 13 aufsetzten. Es war ein guter Rhythmus. Wie ein Song von Nina Simone. 14
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