4.3 Der Ahnen-Faktor in der Therapie

4 Der Ahnen-Faktor: Auftrag und Chance
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epigenetischen Mechanismen, die ja die Menschheitsgeschichte von allem Anfang an begleiten, uns vertrauter und begreiflicher werden und wir die Verbindung zu längst vergangenen Urururahnen noch besser beschreiben und belegen
können. Vielleicht können wir dann akzeptieren, dass es auch einen Widerhall
aus diesen Äonen zurückliegenden Zeiten in uns gibt und dass in diesem Echo
möglicherweise Destillate der menschlichen Erfahrung an unser seelisches Ohr
dringen. Dann wäre die mystische Begegnung mit einem Archetypus tatsächlich etwas uralt und tief Vertrautes, das wir nicht auf rationalem Wege begreifen
können, sondern staunend und ergriffen erspüren dürfen.
4.3
Der Ahnen-Faktor in der Therapie
Auch wenn die Annäherung an die transgenerationale Thematik auf dem eben
beschriebenen Weg für jedermann möglich ist, so wird der Ahnen-Faktor doch
häufig Gegenstand des uralten Gespräches zwischen zwei Menschen zum Wohle eines der beiden sein, in dessen Tradition die Psychotherapie steht. Zumindest sollte er das häufiger sein als bisher. Eine intensive Beschäftigung mit
transgenerationalen Themen kann ich in der Ausbildung von Psychotherapeuten bisher nicht erkennen. Auch in von mir selbst durchgeführten therapeutischen Behandlungen und in denen anderer Therapeuten, von denen ich Tag für
Tag durch meine Patienten erfahre, kommt das Thema zu kurz. Das liegt in der
Natur der Sache einer „neuen“ Thematik und ist prinzipiell niemandem anzulasten. Bewährte therapeutische Strategien beruhen auf zugrunde liegenden
theoretischen Modellen und diese mussten bisher weitgehend ohne transgenerationalen Input auskommen. Die Landschaft hat sich allerdings bereits gewandelt. Vor allem durch die Fülle von Veröffentlichungen zum Thema der transgenerationalen Traumatisierung hat sich der Ahnen-Faktor Zugang ins
Therapiezimmer verschafft. Gleichwohl sind viele Therapeuten skeptische Naturen. Manche werden fürchten, durch zu viel Ahnen-Thematik könnte eine
Ablenkung von den individuellen Themen des Patienten entstehen. Hier wäre
die Aufgabe, den Ahnen-Faktor eben nicht als etwas vom persönlichen Schicksal des Einzelnen Abgetrenntes zu betrachten, sondern als Bestandteil seiner
Psyche. Dann würden wir in der Therapie durch die Hereinnahme von AhnenThemen nicht „fremdgehen“, sondern nur unsere Arbeit etwas umfassender
und moderner erledigen als bisher. Natürlich wurden und werden jeden Tag
Therapien mit gutem Erfolg zum Wohle des Patienten beendet, in denen der
Ahnen-Faktor keine Rolle gespielt hat. Aber es ist eine Binsenweisheit, dass ich
immer mit der momentan zur Verfügung stehenden Behandlungstechnik auch
Erfolge haben werde. Als Arzt und als Therapeut muss ich aber immer offen
bleiben für Fortschritte, neue Sichtweisen und Erkenntnisse, um noch besser
behandeln zu können.
Teuschel: Der Ahnen-Faktor. ISBN: 978-3-7945-3106-6. © Schattauer GmbH
4.3 Der Ahnen-Faktor in der Therapie
Was kann ich als Therapeut tun, um den Ahnen-Faktor in meine Behandlung
zu integrieren? Auch in der Beantwortung dieser Frage sind die Ausgangspunkte Akzeptanz, Aufmerksamkeit und Offenheit. Bringe ich all dies ins Behandlungszimmer mit, ist schon viel erreicht. Dann ist es letztlich unerheblich, auf
welche Weise ich das Thema mit ins Boot hole. Es kann Sinn machen, die biografische Anamnese um familiäre Themen zu erweitern, die weiter zurückliegen als die erinnerbare Kindheit des Patienten. Allein die Frage nach den Berufen der Urgroßeltern wird im Patienten, ob er sie nun beantworten kann oder
nicht, eine Bewusstheit entstehen lassen, dass diese weit zurückliegenden Themen wichtig sein könnten: „Warum interessiert sich meine Therapeutin oder
mein Therapeut für meine Urgroßeltern?“ Stößt man bei diesen „Testballon“Fragen bereits auf etwas Spannendes, sollte man durchaus hartnäckig sein und
nachbohren. Kann der Patient nichts Konkretes an Informationen liefern, was
weiterhelfen könnte, sollte man ihn dazu ermuntern, sich außerhalb der Therapie mit diesen Dingen zu beschäftigen. An diesem Punkt hat man als Therapeut
bereits viel unternommen, um den Ahnen-Themen zu ihrem Recht zu verhelfen.
Auch wenn auf die ersten Fragen in Richtung des Ahnen-Faktors nichts Verwertbares kommt, sollte man wachsam bleiben. Leider haben wir meist nicht
die umfangreichen zeitlichen Möglichkeiten wie beispielsweise Anne Ancelin
Schützenberger, die uns im Rahmen ihrer Forschung zeigt, wie viel verborgenes
„Material“ man zutage fördern kann, wenn man beim Ahnen-Thema nicht locker lässt (siehe S. 46 ff.). Als Therapeut tut man gut daran, die Tatsache im Hinterkopf zu behalten, dass wesentliche und bedeutsame Ahnen-Themen ebenso
verdrängt sein können wie belastende emotionale Inhalte der individuellen
Ebene.
Es gibt keinen sicheren Hinweis darauf, dass der Ahnen-Faktor bei diesem
oder jenem Patienten eine Rolle in der Therapie spielen könnte, zumindest
könnte ich keinen benennen. Ich meine aber gesehen zu haben, dass gerade
Themen des Selbstwertes oftmals transgenerational tief verankert waren. Eine
Beschämung durch meine Existenz steht nicht selten vor dem Hintergrund einer familiär über mehrere Generationen fixierten unbewussten Vorstellung,
wie ein Mitglied dieser Familie zu sein habe. Sein eigenes Leben vor dem Hintergrund der vielleicht in prinzipiellen Punkten ganz anders gelagerten Existenzen einer ganzen Ahnenreihe zu sehen, hilft dem Patienten dabei zu erkennen, worin sein Problem möglicherweise besteht. Eine über die eigenen Eltern
hinausreichende Phalanx meine Entscheidungen höchstwahrscheinlich missbilligender Ahnen macht mir deutlich klar, warum ich leide.
Auch wenn etwas Fremdes, Unpassendes, Eigentümliches in der Symptomatik oder im Erleben des Patienten auftaucht, kann man etwas im Ahnen-Thema
stochern. Nicht dass die Fremdheit ein sicheres Anzeichen für transgenerational übermitteltes Erleben wäre, so schematisch und simpel funktioniert der
Ahnen-Faktor nicht. Aber manchmal ist es eben doch so, dass wir gemeinsam
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mit dem Patienten auf ein Thema stoßen, das mehr das Thema seiner Familie
als sein eigenes ist und das sich auch genau so „anfühlt“. Subjektiv Befremdliches und Bedrohliches finden wir natürlich oft schon in der Psychopathologie
unserer Patienten, sei es bei Zwangsgedanken oder im Wahn sowie in den
Wahrnehmungs- oder Ich-Störungen des Psychotikers. Liegen solche Krankheitsbilder vor, wird man natürlich mit Ahnen-Themen sehr vorsichtig und zurückhaltend sein, um die Symptomatik beispielsweise bei einem Schizophrenen
nicht noch mit transpersonalen Themen zu befeuern. Je instabiler das psychische Gebilde unseres Patienten ist, desto mehr ist es unsere Aufgabe, so lange an
der Festigung und Resilienzsteigerung zu arbeiten, bis wir uns gefahrlos anderen Themen widmen können. Dies ist die wohl wichtigste Einschränkung für
die Hereinnahme des Ahnen-Faktors in die Psychotherapie. Wir dürfen natürlich nichts heraufbeschwören, von dem wir annehmen können, dass es den Patienten überfordert. Damit soll nicht gesagt sein, dass nicht im Zwang und
Wahn transgenerationale Aspekte eine Rolle spielen können; in Kapitel 3 des
Buches habe ich für beide Fälle ja auch jeweils ein Beispiel genannt (siehe S. 103,
132). Ganz im Gegenteil: Ich denke, dass vor allem die aus dem Leim geratene
und nicht mehr durch gesunde Ich-Strukturen zusammengehaltene seelische
Welt des Schizophrenen ein offenes Tor für alle transpersonalen Aspekte der
Seele darstellt; folglich können hier auch alle mehr oder minder bedeutsamen
Ahnen-Themen wüten wie Raubtiere, die aus dem Käfig ausgebrochen sind.
Umso mehr ist es in diesem Fall die Aufgabe, an der Wiederherstellung verloren
gegangener Strukturen zu arbeiten und charmant erscheinende Deutungen als
für den Moment unpassend zu erkennen. Die Stärkung der Ich-Grenzen ist hier
in jedem Fall wichtiger als die Berücksichtigung von Ahnen-Themen. Ansonsten sollten wir bei diesen fremd und unpassend erscheinenden Manifestationen
psychischer Teilbereiche und Symptome, sofern sie vor dem Hintergrund einer
gefestigten und nicht psychotischen Psyche auftreten, vielleicht noch etwas
stärker als sonst nach Ahnen-Themen sondieren.
Auch bei der Besprechung von Träumen sollten wir den Ahnen-Faktor im Hinterkopf behalten. Hier können nicht nur Elemente aus der überblickbaren Ahnenreihe auftauchen, sondern auch aus dem „kollektiven Unbewussten“. Wie
immer bei der Erörterung von Ahnen-Themen mit dem Patienten ist es gut,
darauf hinzuweisen, dass zwischen dem nachvollziehbaren Einfluss der direkten verwandtschaftlichen Linie und dem darüber hinausgehenden Thema
transpersonaler Inhalte eine Trennlinie verläuft. Mit dieser einschränkenden
Sichtweise ist es einfacher, auch einen eher mystisch zu nennenden Ahnen-Faktor im Gespräch zumindest anzudenken. Dabei würde ich in jedem Fall die
unkritische Haltung mancher Esoteriker vermeiden und auf die nach wie vor
spekulative Grundlage dieser Thematik hinweisen.
Möchte ich als Patient in meiner eigenen Psychotherapie über Ahnen-Themen
sprechen, sollte ich das offen äußern. Ich werde schnell merken, wie meine The-
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