Neues Leben hinter alten Mauern

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Beobachter 11/2015
Architektur
Neues Leben
hinter alten Mauern
Das Bündner Dorf Valendas erneuert sich von innen heraus. Zeugen dafür sind
zwei historische Gebäude, die von lokalen Architekten wiederbelebt wurden.
Und eine Wassernixe, die stoisch zum Rechten schaut.
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Beobachter 11/2015
Text: Daniel Benz und Birthe Homann
Fotos: Stephan Rappo
S
ie lässt sich nichts anmerken, obschon auf ihre Kosten ein zotiges
Männerwitzchen gemacht wurde.
Blickt mit ihren weit aufgerissenen Augen
auf den Brunnen unter sich, wie sie das
seit 255 Jahren tut. Mit frostigem Lächeln,
den nackten Oberkörper nur beiläufig
­bedeckt. Weiss Gott keine Schönheit sei
sie, die Wassernixe, mokiert sich der
Mann im dunklen Blazer und mit den
zerzausten grauen Haaren. «Aber diese
Unterhosen!»
Das Rostrot der Nixenwäsche hat der
Architekt Gion A. Caminada auf eine
Säule beim neuen Saalbau des Gasthauses am Brunnen in Valendas übertragen.
Das Projekt im Ort am Bündner Vorderrhein stellte er im letzten Sommer fertig.
Es umfasste zum einen die Renovierung
des geschichtsträch­
t igen Engihus, vor
dem der Dorfplatz mit dem grössten
Holzbrunnen Europas liegt. Ergänzt
w urde das fast 500-jährige Gebäude
­
durch einen Anbau mit Saal, für den ein
Stall weichen musste.
Auf die Spielerei mit der Säulenfarbe
achtet man erst auf den zweiten Blick.
Überhaupt: Dass es sich beim Saaltrakt,
der sich im Rücken der gleichmütigen
Wasserjungfrau in den Dorfkern zwängt,
um einen Neubau handelt, merkt der
schnelle Betrachter nicht auf Anhieb.
­Damit würde man manchen Architekten
beleidigen – bei Gion Caminada, ETH-­
Professor und ein Arrivierter der Gilde,
ist das Gegenteil der Fall: «Wenn jemand
fragt, wann dieser Hausteil eigentlich gebaut wurde, ist das für mich das grösste
Kompliment.»
Der Dorfplatz:
­grösster Holz­brunnen
Europas mit Nixe,
das Gasthaus zum
­Brunnen und ­das
­Türalihus (rechts)
«Das interessiert mich nicht»
Gion Caminada ist in seinem nicht ganz
taufrischen Volvo mit Verspätung beim
Treffpunkt vorgefahren, hat im Vorbei­
gehen ein paar Hände geschüttelt, als
wärs ein Auftritt auf der Bühne. Das Zeitbudget ist knapp, und so rauscht der
58-Jährige im Eiltempo durch sein neuestes Vorzeigeprojekt. «Mich hat interessiert …»: So beginnt beinahe jeder Satz,
wenn er das ­
a rchitektonische Konzept
für die Wiederbelebung des Engihus darlegt. Oder dann enden seine Ausführungen mit dem Gegenteil davon. Die neuen
Teile von den hergebrachten abgrenzen?
Bewusst den Kontrast suchen? «Das interessiert mich nicht.» Angestrebt hat der
A rchitekt vielmehr «eine Ganzheit aus
­
Altem und Neuem».
Äusserlich betont der weisse Kalkputz
die Einheit von Gasthaus und Saal. Im
­Innern greifen die Elemente früherer und
jetziger Nutzungen ineinander. Sichtbar
wird das in den acht Gästezimmern im
alten Gebäudeteil. Nur schon die niedrigen Türen zeigen: In den Räumen bleibt
die Vergangenheit spürbar. Dazu hat
­Caminada punktuell moderne Akzente
gesetzt – Designsessel, stylische Lampen,
in der Dusche bunte Keramikkacheln.
Kleine Details, die im Grossen für die
Leitfrage stehen, die den Meister bei der
Belebung von historischer Bausubstanz
am meisten interessiert: «Was kann das
Neue im Wechselspiel mit dem Alten?»
Verbindungen schaffen: zwischen
Zeit­epochen, Innen- und Aussenräumen,
Figuren- und Säulenfarben – das ist das
zentrale Thema beim Caminada-Projekt
in Valendas. Aber nicht nur in architektonischer Hinsicht. «Ich wollte nicht bloss
einen ä­ sthetischen Ort schaffen», sagt der
preisgekrönte Architekt, «sondern einen,
Ferien im Baudenkmal
Dass im Türalihus seit kurzem wieder
­gewohnt werden kann, verdankt Valendas
der Stiftung Ferien im Baudenkmal. Das
vor zehn Jahren vom Schweizer Heimat­
schutz lancierte Konzept strebt die
­Verknüpfung von Denkmalschutz und
Tourismus an: Die Stiftung übernimmt
leerstehende historische Liegenschaften,
renoviert sie sanft und vermietet sie dann
als Ferienwohnungen. Damit können
­wertvolle Baudenkmäler vor dem Verfall
gerettet werden. Gleichzeitig wird eine
Sensibilisierung für die re­gional geprägte
Baukultur angestrebt. Seit dem Start
des Programms im Jahr 2008 wächst
das Angebot kontinuierlich. Zurzeit stehen
28 Wohnungen in 22 Objekten in ver­
schiedenen Regionen der Deutschschweiz
zur Auswahl; das nächste Ziel ist, in der
Romandie Fuss zu fassen. Auch bei der
Nachfrage wird ein jährliches Wachstum
von rund zehn Prozent verzeichnet. Die
Eckwerte für 2014: rund 1700 Per­sonen
haben in den Ferienwohnungen der
­Stiftung insgesamt 11 800 Logier­nächte
gebucht. Gemäss Kerstin Camenisch,
­Geschäftsführerin der Stiftung, sind
die Gäste vom Profil her «eher urban,
­kultur- und geschichtsaffin». Häufig
­kämen sie aus der Architektur- und
­Designerszene.
Informationen
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Beobachter 11/2015
an dem sich verlorener Gemeinschaftssinn zurückgewinnen lässt.» Einheimische und Gäste sollen sich im «Haus am
Brunnen» begegnen. Dort soll – gesellschaftlich wie kulturell – der Puls des
abgelegenen Dorfs wieder schlagen.
­Eines Dorfs, das so gar nichts mit der
Aufgeregtheit der touristischen Hotspots Flims und Laax auf der anderen
Talseite zu tun hat – obwohl es bis dort
bloss wenige Kilometer sind.
«Es sollte nicht bloss ein ­ästhetischer Ort sein»: Gästezimmer am Dorfplatz
«Wechselspiel von Alt und Neu»: Verbindung vom Saaltrakt zum Dorfplatz
Die Dorfretter sanieren seit zehn Jahren
Das Bauvorhaben hat rund vier Millionen Franken gekostet. Dahinter steht
die Stiftung Valendas Impuls, die sich
für eine nachhaltige Dorfentwicklung
einsetzt. Die Initiative zur Renaissance
kam vor rund zehn Jahren aus dem Dorf
selber – für Gion Caminada der entscheidende Punkt: «Die Erneuerung
­gelingt nur aus eigener Kraft.»
Diese Erfahrung machte der Architekt in seiner Heimatgemeinde Vrin, ein
paar Ecken von Valendas entfernt im
Lugnez. Seit den 1990er Jahren gilt Vrin
als Modell, wie sich ein ressourcenschwaches Bergdorf von innen heraus
stärken kann. Caminada verwirklichte
in diesem Prozess eine Reihe von Gebäuden, die die örtliche Baukultur weiterentwickelten. Das Engagement hat
ihm weitherum Renommee eingetragen
– und Vrin den Wakkerpreis.
Räucherkammern und Designermöbel
Seine gehobene Klasse als Architekt
­u ntermauert Gion Caminada aber nicht
durch Extravaganzen. Und wenn, dann
zurückhaltend. Im Gasthaus am Brunnen führt eine Zimmertür unvermittelt
in eine verrusste Räucherkammer, ein
Überbleibsel aus dem ältesten Hausteil
von 1517. Was sollen die Besucher dort?
«Nichts. Nur wahrnehmen und empfinden, wie die Zeit sich verändert hat.»
Dann hat der Mann im dunklen Blazer
und mit den zerzausten Haaren genug
erklärt, der nächste Termin wartet.
Würde die Brunnennixe dem davonbrausenden Volvo nachschauen, bliebe
ihr kühler Blick am Türalihus hängen.
Das Haus mit dem Türmchen prägt den
Platz mit dem grossen Brunnen, auch
wenn es etwas abseitssteht. Bestimmt
ist es der missmutigen Wasserjungfrau
schon einmal aufgefallen, denn seit
kurzem steht es in seiner ganzen Pracht
da: frisch gekalkt und mit neuen Vorfenstern. Vier Jahre hatte der Umbau
des Baudenkmals gedauert. Neues
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­ eben hinter alte Mauern zu bringen
L
war hier genauso das Ziel wie beim
Gasthaus am Brunnen. Aber der Umgang mit der historischen Substanz
wurde anders gehandhabt.
«Re­parieren statt rekonstruieren», so
beschreibt Architekt Ramun Capaul,
der mit Gordian Blumenthal für die Erneuerung zuständig war, das Motto. In
seinem Kern geht das Türalihus ins 15.
Jahrhundert zurück und ist in fünf Bauphasen bis 1775 zu einem der markanten Patrizierhäuser gewachsen, die bis
heute das Dorfbild von Valendas kennzeichnen (siehe «Historischer Dorfrundgang», Seite 58). Ein herrschaftliches Bürgerhaus mit Aufstockungen
und Anbauten, mit verzierten Fenstern
und einer Sonnenuhr.
Ramun Capaul steht davor, schiebt
sich die Ärmel seiner braunen Cord­
jacke hoch und erklärt in schönstem
Bündner Dialekt: «Wir wollten die Bausubstanz aus den fünf Epochen, die das
«Ich wollte einen Ort
schaffen, an dem sich
der Gemeinschaftssinn
­zurückgewinnen lässt.»
Gion Caminada, Architekt
Haus geprägt haben, so weit instand
setzen, dass eine Neunutzung möglich
war. Aber nicht museal auf einen einzigen Zeitraum fixiert, sondern als Nebeneinander der verschiedenen Fassungen.» Der Architekt aus Lumbrein, also
ein Lugnezer wie Gion Caminada, zeigt
fast schon liebevoll auf «sein» Haus und
erklärt ausführlich die verschiedenen
Entstehungsphasen anhand der Fassade. Seit Kollege Caminada die gemeinsame Dorfbegehung beenden musste,
ist er deutlich gesprächiger geworden.
70 Jahre stand das Haus leer, dann
nahm sich der Schweizer Heimatschutz
des Türalihus an. Seit 2007 gehört es der
Stiftung Ferien im Baudenkmal, die gefährdete Baudenkmäler rettet, um da­
rin Ferienwohnungen anzubieten (siehe
«Ferien im Baudenkmal», Seite 55). Das
Büro Capaul & Blumenthal sanierte das
Haus mit dem Ziel, «aus einem denkmalpflegerischen Ansatz die architek­
tonischen Qualitäten herauszuschälen
und zu verstärken, ohne es auf den
Standard eines Neubaus zu bringen».
Der 46-Jährige öffnet die schwere
Holztür, die ins enge Treppenhaus zu
Nur kein Museum: das für Feriengäste umgebaute Türalihus
«Es sieht ja noch gar nicht richtig neu aus»: russige Küchenwände als Zeitzeugen
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Beobachter 11/2015
den zwei neuen Wohnungen führt.
­Ramun Capaul zupft an seinem grau­
melierten Bart und führt aus, dass der
­Erhalt der ursprünglichen Materialien
wie auch der geschichtlichen Authen­
tizität Massstab ihrer Arbeit gewesen
sei. So gibt es unterschiedliche Tem­
peraturbereiche im Haus: Die Er­
schliessungsräume sind unbeheizt,
die Schlafräume nur leicht temperiert.
Wer es warm haben möchte, muss die
restaurierten Holzöfen einheizen.
Uralter Russ an den Wänden
Russgeschwärzte Wände in der Küche
zeugen von der früheren Nutzung –
doch dem Komfort wurde nicht ganz
abgeschworen. Heute kocht man auf
einem Glaskeramikherd. Auch das
Bad wurde sanft renoviert. Man
duscht unter bemalten Holzdecken in
freigestellten Duschschalen. «Wir ha­
ben die Einrichtung bewusst neu ge­
staltet und alles von einheimischen
Handwerkern fertigen lassen», erklärt
Ramun Capaul. Mit Liebe zum Detail:
So sind die Waschtröge aus Verru­
cano-Stein aus der Region. Den ur­
sprünglichen Geist spürt der Besucher
Fachsimpeln: Gion Caminada (links)
und Ramun Capaul
«Die Jungen aus dem Ort
nutzten das leerstehende
Haus als eigene Welt.»
Ramun Capaul, Architekt
sofort: Die Türen sind niedrig, die
Räume dunkel, die Wände einen hal­
ben Meter dick. Auf der Tour durchs
Haus entdeckt man immer wieder
Neues. Zuoberst im Turmzimmer sind
die Kritzeleien nicht entfernt worden.
«Werner verliebt», steht in den Verputz
geritzt. Capaul sagt: «Erst wollten wir
alles übermalen. Aber auch diese
Kritze­leien gehören zu diesem Gebäu­
de. Die Dorfjugend hat das leerstehen­
de Haus als ihre eigene Welt genutzt.»
Nicht alle verstehen diese sanfte,
manchmal fast ironische Version der
Renovation. Eine Frau aus dem Dorf
habe bei der ersten Besichtigung nach
der Wiederinstandstellung des Türali­
hus gesagt, das sei doch wohl nicht
­fertig: «Es sieht ja alles noch gar nicht
richtig neu aus.» Ramun Capaul lacht:
«Ein schönes Lob.» Wäre doch der Flo­
rentiner Wassernixe bei ihrer letzten
Renova­tion im Jahr 2011 ein lächeln­
der Mund ins Gesicht gepinselt wor­
den – dann strahlten sie jetzt alle um
die Wette: das neue Gasthaus am
Brunnen, das Türalihus und sie selber.
Aber so ist der Glanz eindeutig beim
alten Gemäuer.
Historischer Dorfrundgang
das Geschlecht der Marchion, bis ins
18. Jahrhundert durch Söldnerdienste zu
einem guten Einkommen. Dieses inves­
tierten sie nicht zuletzt in die Erweiterung
ihrer Residenzen. In einem Rundgang
durch Valendas lassen sich diese Zeit­
zeugen und weitere historische Bauten
entdecken. Die Route mit Start und Ziel
beim Dorfplatz führt über 14 Stationen
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Informationen
www.safiental.ch
www.valendasimpuls.ch
Auf den Spuren des Verfalls
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(siehe Plan). Heute leben in Valendas
und in den umliegenden Weilern rund
300 Einwohner. Seit 2013 gehört das
auf einem ­Plateau über der Rheinschlucht
gelegene Dorf zur Fusionsgemeinde
­Safiental.
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Dorfbrunnen mit Wassernixe (erbaut um 1760)
Bungerthus (vor 1500)
Grauhus (um 1708)
Engihus (1517) mit heutigem Gasthaus am Brunnen
Altes Schulhaus/Wirtschaft am Brunnen (1830)
Türalihus (Kernbau 1485)
Rothus (vor 1782)
Unteres Marchionhus (vor 1681)
Bachhus/Pfisteri (um 1660)
Oberes Marchionhus/Winkelhus (1710)
Evangelische Kirche (1384 erstmals urkundlich erwähnt)
Klösterli (vor 1526)
Jenalhus/Jooshus (Kernbau aus dem 13./14. Jahrhundert)
Taverne/Bandlihus (vor 1610)
© Alle Rechte vorbehalten - Axel Springer Schweiz SE, - Jede Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.as-infopool.de/lizenzierung BEOBACHTER-2015-05-29-tui- e27d9eed0d79000041493c210405e17c
Karte: Beobachter/AS
Valendas im Vorderrheintal verfügt über
ein Ortsbild von nationaler Bedeutung.
Es ist geprägt von einer erstaunlichen
Anzahl stattlicher Patrizierhäuser.
­Entstanden sind sie in der Zeit, als das
nahe am Schnittpunkt von internatio­
nalen Alpenrouten gelegene Bauerndorf
vom Transitverkehr lebte. Daneben
­kamen die adligen Bewohner, namentlich