54 Beobachter 11/2015 Architektur Neues Leben hinter alten Mauern Das Bündner Dorf Valendas erneuert sich von innen heraus. Zeugen dafür sind zwei historische Gebäude, die von lokalen Architekten wiederbelebt wurden. Und eine Wassernixe, die stoisch zum Rechten schaut. © Alle Rechte vorbehalten - Axel Springer Schweiz SE, - Jede Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.as-infopool.de/lizenzierung BEOBACHTER-2015-05-29-tui- e27d9eed0d7900004e01ddc20f08c170 55 Beobachter 11/2015 Text: Daniel Benz und Birthe Homann Fotos: Stephan Rappo S ie lässt sich nichts anmerken, obschon auf ihre Kosten ein zotiges Männerwitzchen gemacht wurde. Blickt mit ihren weit aufgerissenen Augen auf den Brunnen unter sich, wie sie das seit 255 Jahren tut. Mit frostigem Lächeln, den nackten Oberkörper nur beiläufig bedeckt. Weiss Gott keine Schönheit sei sie, die Wassernixe, mokiert sich der Mann im dunklen Blazer und mit den zerzausten grauen Haaren. «Aber diese Unterhosen!» Das Rostrot der Nixenwäsche hat der Architekt Gion A. Caminada auf eine Säule beim neuen Saalbau des Gasthauses am Brunnen in Valendas übertragen. Das Projekt im Ort am Bündner Vorderrhein stellte er im letzten Sommer fertig. Es umfasste zum einen die Renovierung des geschichtsträch t igen Engihus, vor dem der Dorfplatz mit dem grössten Holzbrunnen Europas liegt. Ergänzt w urde das fast 500-jährige Gebäude durch einen Anbau mit Saal, für den ein Stall weichen musste. Auf die Spielerei mit der Säulenfarbe achtet man erst auf den zweiten Blick. Überhaupt: Dass es sich beim Saaltrakt, der sich im Rücken der gleichmütigen Wasserjungfrau in den Dorfkern zwängt, um einen Neubau handelt, merkt der schnelle Betrachter nicht auf Anhieb. Damit würde man manchen Architekten beleidigen – bei Gion Caminada, ETH- Professor und ein Arrivierter der Gilde, ist das Gegenteil der Fall: «Wenn jemand fragt, wann dieser Hausteil eigentlich gebaut wurde, ist das für mich das grösste Kompliment.» Der Dorfplatz: grösster Holzbrunnen Europas mit Nixe, das Gasthaus zum Brunnen und das Türalihus (rechts) «Das interessiert mich nicht» Gion Caminada ist in seinem nicht ganz taufrischen Volvo mit Verspätung beim Treffpunkt vorgefahren, hat im Vorbei gehen ein paar Hände geschüttelt, als wärs ein Auftritt auf der Bühne. Das Zeitbudget ist knapp, und so rauscht der 58-Jährige im Eiltempo durch sein neuestes Vorzeigeprojekt. «Mich hat interessiert …»: So beginnt beinahe jeder Satz, wenn er das a rchitektonische Konzept für die Wiederbelebung des Engihus darlegt. Oder dann enden seine Ausführungen mit dem Gegenteil davon. Die neuen Teile von den hergebrachten abgrenzen? Bewusst den Kontrast suchen? «Das interessiert mich nicht.» Angestrebt hat der A rchitekt vielmehr «eine Ganzheit aus Altem und Neuem». Äusserlich betont der weisse Kalkputz die Einheit von Gasthaus und Saal. Im Innern greifen die Elemente früherer und jetziger Nutzungen ineinander. Sichtbar wird das in den acht Gästezimmern im alten Gebäudeteil. Nur schon die niedrigen Türen zeigen: In den Räumen bleibt die Vergangenheit spürbar. Dazu hat Caminada punktuell moderne Akzente gesetzt – Designsessel, stylische Lampen, in der Dusche bunte Keramikkacheln. Kleine Details, die im Grossen für die Leitfrage stehen, die den Meister bei der Belebung von historischer Bausubstanz am meisten interessiert: «Was kann das Neue im Wechselspiel mit dem Alten?» Verbindungen schaffen: zwischen Zeitepochen, Innen- und Aussenräumen, Figuren- und Säulenfarben – das ist das zentrale Thema beim Caminada-Projekt in Valendas. Aber nicht nur in architektonischer Hinsicht. «Ich wollte nicht bloss einen ä sthetischen Ort schaffen», sagt der preisgekrönte Architekt, «sondern einen, Ferien im Baudenkmal Dass im Türalihus seit kurzem wieder gewohnt werden kann, verdankt Valendas der Stiftung Ferien im Baudenkmal. Das vor zehn Jahren vom Schweizer Heimat schutz lancierte Konzept strebt die Verknüpfung von Denkmalschutz und Tourismus an: Die Stiftung übernimmt leerstehende historische Liegenschaften, renoviert sie sanft und vermietet sie dann als Ferienwohnungen. Damit können wertvolle Baudenkmäler vor dem Verfall gerettet werden. Gleichzeitig wird eine Sensibilisierung für die regional geprägte Baukultur angestrebt. Seit dem Start des Programms im Jahr 2008 wächst das Angebot kontinuierlich. Zurzeit stehen 28 Wohnungen in 22 Objekten in ver schiedenen Regionen der Deutschschweiz zur Auswahl; das nächste Ziel ist, in der Romandie Fuss zu fassen. Auch bei der Nachfrage wird ein jährliches Wachstum von rund zehn Prozent verzeichnet. Die Eckwerte für 2014: rund 1700 Personen haben in den Ferienwohnungen der Stiftung insgesamt 11 800 Logiernächte gebucht. Gemäss Kerstin Camenisch, Geschäftsführerin der Stiftung, sind die Gäste vom Profil her «eher urban, kultur- und geschichtsaffin». Häufig kämen sie aus der Architektur- und Designerszene. Informationen www.magnificasa.ch © Alle Rechte vorbehalten - Axel Springer Schweiz SE, - Jede Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.as-infopool.de/lizenzierung BEOBACHTER-2015-05-29-tui- e27d9eed0d790000400fc34b0947585b Beobachter 11/2015 an dem sich verlorener Gemeinschaftssinn zurückgewinnen lässt.» Einheimische und Gäste sollen sich im «Haus am Brunnen» begegnen. Dort soll – gesellschaftlich wie kulturell – der Puls des abgelegenen Dorfs wieder schlagen. Eines Dorfs, das so gar nichts mit der Aufgeregtheit der touristischen Hotspots Flims und Laax auf der anderen Talseite zu tun hat – obwohl es bis dort bloss wenige Kilometer sind. «Es sollte nicht bloss ein ästhetischer Ort sein»: Gästezimmer am Dorfplatz «Wechselspiel von Alt und Neu»: Verbindung vom Saaltrakt zum Dorfplatz Die Dorfretter sanieren seit zehn Jahren Das Bauvorhaben hat rund vier Millionen Franken gekostet. Dahinter steht die Stiftung Valendas Impuls, die sich für eine nachhaltige Dorfentwicklung einsetzt. Die Initiative zur Renaissance kam vor rund zehn Jahren aus dem Dorf selber – für Gion Caminada der entscheidende Punkt: «Die Erneuerung gelingt nur aus eigener Kraft.» Diese Erfahrung machte der Architekt in seiner Heimatgemeinde Vrin, ein paar Ecken von Valendas entfernt im Lugnez. Seit den 1990er Jahren gilt Vrin als Modell, wie sich ein ressourcenschwaches Bergdorf von innen heraus stärken kann. Caminada verwirklichte in diesem Prozess eine Reihe von Gebäuden, die die örtliche Baukultur weiterentwickelten. Das Engagement hat ihm weitherum Renommee eingetragen – und Vrin den Wakkerpreis. Räucherkammern und Designermöbel Seine gehobene Klasse als Architekt u ntermauert Gion Caminada aber nicht durch Extravaganzen. Und wenn, dann zurückhaltend. Im Gasthaus am Brunnen führt eine Zimmertür unvermittelt in eine verrusste Räucherkammer, ein Überbleibsel aus dem ältesten Hausteil von 1517. Was sollen die Besucher dort? «Nichts. Nur wahrnehmen und empfinden, wie die Zeit sich verändert hat.» Dann hat der Mann im dunklen Blazer und mit den zerzausten Haaren genug erklärt, der nächste Termin wartet. Würde die Brunnennixe dem davonbrausenden Volvo nachschauen, bliebe ihr kühler Blick am Türalihus hängen. Das Haus mit dem Türmchen prägt den Platz mit dem grossen Brunnen, auch wenn es etwas abseitssteht. Bestimmt ist es der missmutigen Wasserjungfrau schon einmal aufgefallen, denn seit kurzem steht es in seiner ganzen Pracht da: frisch gekalkt und mit neuen Vorfenstern. Vier Jahre hatte der Umbau des Baudenkmals gedauert. Neues © Alle Rechte vorbehalten - Axel Springer Schweiz SE, - Jede Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.as-infopool.de/lizenzierung BEOBACHTER-2015-05-29-tui- e27d9eed0d790000437b0f14628b0f88 eben hinter alte Mauern zu bringen L war hier genauso das Ziel wie beim Gasthaus am Brunnen. Aber der Umgang mit der historischen Substanz wurde anders gehandhabt. «Reparieren statt rekonstruieren», so beschreibt Architekt Ramun Capaul, der mit Gordian Blumenthal für die Erneuerung zuständig war, das Motto. In seinem Kern geht das Türalihus ins 15. Jahrhundert zurück und ist in fünf Bauphasen bis 1775 zu einem der markanten Patrizierhäuser gewachsen, die bis heute das Dorfbild von Valendas kennzeichnen (siehe «Historischer Dorfrundgang», Seite 58). Ein herrschaftliches Bürgerhaus mit Aufstockungen und Anbauten, mit verzierten Fenstern und einer Sonnenuhr. Ramun Capaul steht davor, schiebt sich die Ärmel seiner braunen Cord jacke hoch und erklärt in schönstem Bündner Dialekt: «Wir wollten die Bausubstanz aus den fünf Epochen, die das «Ich wollte einen Ort schaffen, an dem sich der Gemeinschaftssinn zurückgewinnen lässt.» Gion Caminada, Architekt Haus geprägt haben, so weit instand setzen, dass eine Neunutzung möglich war. Aber nicht museal auf einen einzigen Zeitraum fixiert, sondern als Nebeneinander der verschiedenen Fassungen.» Der Architekt aus Lumbrein, also ein Lugnezer wie Gion Caminada, zeigt fast schon liebevoll auf «sein» Haus und erklärt ausführlich die verschiedenen Entstehungsphasen anhand der Fassade. Seit Kollege Caminada die gemeinsame Dorfbegehung beenden musste, ist er deutlich gesprächiger geworden. 70 Jahre stand das Haus leer, dann nahm sich der Schweizer Heimatschutz des Türalihus an. Seit 2007 gehört es der Stiftung Ferien im Baudenkmal, die gefährdete Baudenkmäler rettet, um da rin Ferienwohnungen anzubieten (siehe «Ferien im Baudenkmal», Seite 55). Das Büro Capaul & Blumenthal sanierte das Haus mit dem Ziel, «aus einem denkmalpflegerischen Ansatz die architek tonischen Qualitäten herauszuschälen und zu verstärken, ohne es auf den Standard eines Neubaus zu bringen». Der 46-Jährige öffnet die schwere Holztür, die ins enge Treppenhaus zu Nur kein Museum: das für Feriengäste umgebaute Türalihus «Es sieht ja noch gar nicht richtig neu aus»: russige Küchenwände als Zeitzeugen © Alle Rechte vorbehalten - Axel Springer Schweiz SE, - Jede Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.as-infopool.de/lizenzierung BEOBACHTER-2015-05-29-tui- e27d9eed0d7900004c66d5b8ab43ae99 58 Beobachter 11/2015 den zwei neuen Wohnungen führt. Ramun Capaul zupft an seinem grau melierten Bart und führt aus, dass der Erhalt der ursprünglichen Materialien wie auch der geschichtlichen Authen tizität Massstab ihrer Arbeit gewesen sei. So gibt es unterschiedliche Tem peraturbereiche im Haus: Die Er schliessungsräume sind unbeheizt, die Schlafräume nur leicht temperiert. Wer es warm haben möchte, muss die restaurierten Holzöfen einheizen. Uralter Russ an den Wänden Russgeschwärzte Wände in der Küche zeugen von der früheren Nutzung – doch dem Komfort wurde nicht ganz abgeschworen. Heute kocht man auf einem Glaskeramikherd. Auch das Bad wurde sanft renoviert. Man duscht unter bemalten Holzdecken in freigestellten Duschschalen. «Wir ha ben die Einrichtung bewusst neu ge staltet und alles von einheimischen Handwerkern fertigen lassen», erklärt Ramun Capaul. Mit Liebe zum Detail: So sind die Waschtröge aus Verru cano-Stein aus der Region. Den ur sprünglichen Geist spürt der Besucher Fachsimpeln: Gion Caminada (links) und Ramun Capaul «Die Jungen aus dem Ort nutzten das leerstehende Haus als eigene Welt.» Ramun Capaul, Architekt sofort: Die Türen sind niedrig, die Räume dunkel, die Wände einen hal ben Meter dick. Auf der Tour durchs Haus entdeckt man immer wieder Neues. Zuoberst im Turmzimmer sind die Kritzeleien nicht entfernt worden. «Werner verliebt», steht in den Verputz geritzt. Capaul sagt: «Erst wollten wir alles übermalen. Aber auch diese Kritzeleien gehören zu diesem Gebäu de. Die Dorfjugend hat das leerstehen de Haus als ihre eigene Welt genutzt.» Nicht alle verstehen diese sanfte, manchmal fast ironische Version der Renovation. Eine Frau aus dem Dorf habe bei der ersten Besichtigung nach der Wiederinstandstellung des Türali hus gesagt, das sei doch wohl nicht fertig: «Es sieht ja alles noch gar nicht richtig neu aus.» Ramun Capaul lacht: «Ein schönes Lob.» Wäre doch der Flo rentiner Wassernixe bei ihrer letzten Renovation im Jahr 2011 ein lächeln der Mund ins Gesicht gepinselt wor den – dann strahlten sie jetzt alle um die Wette: das neue Gasthaus am Brunnen, das Türalihus und sie selber. Aber so ist der Glanz eindeutig beim alten Gemäuer. Historischer Dorfrundgang das Geschlecht der Marchion, bis ins 18. Jahrhundert durch Söldnerdienste zu einem guten Einkommen. Dieses inves tierten sie nicht zuletzt in die Erweiterung ihrer Residenzen. In einem Rundgang durch Valendas lassen sich diese Zeit zeugen und weitere historische Bauten entdecken. Die Route mit Start und Ziel beim Dorfplatz führt über 14 Stationen 11 9 8 6 13 4 3 2 1 5 14 7 Informationen www.safiental.ch www.valendasimpuls.ch Auf den Spuren des Verfalls 10 12 (siehe Plan). Heute leben in Valendas und in den umliegenden Weilern rund 300 Einwohner. Seit 2013 gehört das auf einem Plateau über der Rheinschlucht gelegene Dorf zur Fusionsgemeinde Safiental. 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 Dorfbrunnen mit Wassernixe (erbaut um 1760) Bungerthus (vor 1500) Grauhus (um 1708) Engihus (1517) mit heutigem Gasthaus am Brunnen Altes Schulhaus/Wirtschaft am Brunnen (1830) Türalihus (Kernbau 1485) Rothus (vor 1782) Unteres Marchionhus (vor 1681) Bachhus/Pfisteri (um 1660) Oberes Marchionhus/Winkelhus (1710) Evangelische Kirche (1384 erstmals urkundlich erwähnt) Klösterli (vor 1526) Jenalhus/Jooshus (Kernbau aus dem 13./14. Jahrhundert) Taverne/Bandlihus (vor 1610) © Alle Rechte vorbehalten - Axel Springer Schweiz SE, - Jede Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.as-infopool.de/lizenzierung BEOBACHTER-2015-05-29-tui- e27d9eed0d79000041493c210405e17c Karte: Beobachter/AS Valendas im Vorderrheintal verfügt über ein Ortsbild von nationaler Bedeutung. Es ist geprägt von einer erstaunlichen Anzahl stattlicher Patrizierhäuser. Entstanden sind sie in der Zeit, als das nahe am Schnittpunkt von internatio nalen Alpenrouten gelegene Bauerndorf vom Transitverkehr lebte. Daneben kamen die adligen Bewohner, namentlich
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