Zwei Moskau

I n memoriam
Rita Schober
Zwei Moskau-Besuche
April-Mai 1964, also noch in der ‚Tauwetterperiode‘, kam ich nach Moskau zu einem Studienaufenthalt von drei Wochen und begleitet von zwei Assistenten,
Christa Bevernis und Hans-Jürgen Hartmann. Es ging darum zu prüfen, ob es
machbar wäre, die vom Gorki-Institut für Weltliteratur bei der sowjetischen Akademie der Wissenschaften unter der Leitung von Akademiemitglied Anissimow
herausgegebenen, sehr umfangreichen zwei Bände der französischen Literatur
des 19. Jahrhunderts,1 die unserem Institut als Manuskript in einer deutschen Rohübersetzung vorlagen, nach entsprechender Bearbeitung entweder in Auszügen
oder in gekürzter Form als Handbuch für Studienzwecke zu veröffentlichen, da
eine marxistische Darstellung für dieses Jahrhundert – und als solche galten natürlich die beiden Akademiebände – in deutscher Sprache nicht vorlag, dem 19. Jahrhundert aber nach den gültigen Studienplänen zentrale Bedeutung zukam.
Dieses Vorhaben erwies sich am Ende insgesamt als nicht realisierbar, so dass
wir uns statt dessen, um überhaupt wenigstens eine literaturgeschichtliche Überblicksdarstellung zu haben, für die Bearbeitung der von Jan Ottokar Fischer 1964
in tschechischer Sprache veröffentlichten Geschichte der französischen Literatur
entschieden – trotz aller Bedenken gegen ihre als marxistisch gedachten, oft aber
nur schematischen gesellschaftlichen Etikettierungen.2
Nach der Wende bin ich von einer Reihe Kollegen gefragt worden, warum wir
angesichts dieser offensichtlichen Mängel nicht eine eigene Arbeit in Angriff
genommen hätten. Ich möchte mir zu dieser Frage einen kleinen Exkurs erlauben.
Wie wichtig es ist, für das Studium einer Nationalliteratur wenigstens einen relativ kurz gefassten Überblick über die ganze Geschichte zur Verfügung zu haben,
wusste ich aus eigener Erfahrung. Wir mussten in Prag nach den ersten zwei Semestern Französischstudium eine Prüfung zur Literaturgeschichte mit Erfolg ablegen, um im dritten Semester an dem Proseminar überhaupt teilnehmen zu dürfen.
Bei dieser Prüfung ging es vor allen Dingen um die Kenntnis der wichtigsten Autorennamen, Werktitel, Lebens- und Erscheinungsdaten und damit um ein Gerüst
chronologisch geordneter Fakten. Als Grundlage dafür diente die nach jedem Abschnitt ein dementsprechendes Résumé enthaltende Histoire de la littérature
française des Akademiemitglieds René Doumic, die, wie auf dem Einband
ausdrücklich stand, „à l’enseigne de la Sorbonne“ bestimmt war.3 Nun kann man ja
eine solche ‚Paukerei‘ als unsinnig verteufeln, aber ich bin auch heute noch – trotz
aller pädagogischen und sonstigen modernen Einwände – der Ansicht, dass die
Kenntnis eines solchen historischen Gerüsts die Voraussetzung für jedes tiefere
Verständnis größerer Zusammenhänge und damit letztlich auch der spezifischen
Details literarischer Werke ist. Ganz abgesehen davon, dass man eine solche
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Überblicksdarstellung auch als Nachschlagewerk braucht. Also, eine Überblicksdarstellung war auf jeden Fall nötig, mit oder ohne die Übernahme des 19. Jahrhunderts aus dem Moskauer Akademieband.
Dass bei unseren Studenten angesichts der damaligen Situation auf dem Gebiet
der einschlägigen Sekundärliteratur tatsächlich ein Bedarf für ein solches Buch vorhanden war, zeigt die vom Verlag 1977 trotz aller Mängel des ‚Fischer‘ – allerdings
ohne meine Kenntnis und Zustimmung – herausgebrachte Nachauflage. Eine
eigene Überblicksdarstellung hätten wir mit dem bescheidenen Mitarbeiterstab
unseres Instituts zu jenem Zeitpunkt gar nicht erarbeiten können und die Leipziger
Kollegen waren voll in die Aufklärungsforschung von Werner Krauss integriert.
Ein bescheidener Versuch jedoch, wenigstens eine Art Überblick über einige
Vertreter des ‚Höhenkammkanons‘ des 19. Jahrhunderts, einschließlich des Übergangs zum 20., mit Hilfe gezielt angesetzter Dissertationen zu erarbeiten, war
schon in den fünfziger Jahren von mir ins Auge gefasst worden, aber zumindest
teilweise gescheitert. Zum einen war die Zahl der möglichen Doktoranden durch
die geringen Studentenkontingente sowieso eingeschränkt (Lehramtskandidaten
20 pro Jahr, Diplomanden 5, später alle zwei Jahre je 3). Zum anderen kam gerade in jenen Jahren der nicht vorhersehbare Verlust von Studierenden hinzu, die
aus individuell unterschiedlichen, oft politischen Gründen die DDR verließen.4 Und
dass mich theoretische Probleme der Literaturgeschichtsdarstellung seit Ende der
fünfziger Jahre beschäftigten, zeigen zwei Beiträge auf internationalen Konferenzen, an denen ich gemeinsam mit Werner Krauss teilgenommen habe: mein
Diskussionsbeitrag zu den vor allem von Giuseppe Petronio vorgetragenen Thesen auf dem internationalen Kolloquium 1959 in Bukarest und 1962 meine Bemerkungen „Zur Frage kunsthistorischer Termini“ auf der internationalen Konferenz
zur Komparatistik in Budapest.5 Die einschlägige Gesamtproblematik habe ich
schließlich ausführlich in der Rezension zur Literaturgeschichte des Gorki-Instituts
für Weltliteratur 1964 in unserer Zeitschrift behandelt.6
Nun könnte man natürlich noch fragen, ob es angesichts des Scheiterns unseres Plans, die vom Gorki-Institut für Weltliteratur erarbeitete Darstellung des 19.
Jahrhunderts als Studienbuch zu übernehmen, nicht möglich war, die seit 1956
vorliegenden beiden Bände Klemperers zum 18. und 19. Jahrhundert als Lehrbuch
einzusetzen.
Diese Frage berührt u.a. das Verhältnis der beiden führenden Romanisten der
DDR in den fünfziger Jahren. Die von Klemperer anfangs der 1920er Jahre
geschriebene, noch heute mit Gewinn und auch Vergnügen lesbare Darstellung
des 19. Jahrhunderts – die wegen der Behandlung der modernsten Literatur zu ihrer Zeit geradezu ein (oft als Journalismus verschriener) Tabubruch (!) war – entsprach natürlich nicht der Forderung nach einem marxistischen Lehrbuch. Zwar
hatte Klemperer sich redlich bemüht, bei der Neuausgabe, soweit es ihm vertretbar schien, Korrekturen vorzunehmen – es empfiehlt sich dazu seine einschlägigen Tagebucheintragungen aus dieser Zeit, seine Vorworte zu den Wiederauflagen und unseren Briefwechsel zu lesen7 – aber die Grundanlage, mit Hilfe von
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Trägerfiguren die Charakteristika der verschiedenen historischen Perioden zu erfassen, war geblieben und wurde vor allem von Werner Krauss, dem führenden
marxistischen Romanisten, prinzipiell abgelehnt und als idealistisch kritisiert.
Auslöser dieser prinzipiellen Kritik an dem theoretischen Konzept war bereits
der 1954 von Klemperer zur französischen Literatur des 18. Jahrhunderts
veröffentlichte 1. Band Das Jahrhundert Voltaires, der mit seiner voll auf Voltaire
bezogenen Gliederung viel konsequenter als das schon vorher erarbeitete 19.
Jahrhundert dieses Prinzip durchhielt und damit dem Verdikt der Unwissenschaftlichkeit anheimfiel.
Klemperers Trägerprinzip kollidierte zudem mit der in der Geschichtswissenschaft fast gleichzeitig geführten Diskussion um die Rolle der Persönlichkeit in der
Geschichte, deren Überbetonung wiederum vor allem einer schematischen Auffassung autonom abrollender, ökonomisch bedingter historischer Prozesse zuwiderlief.
Gegen Klemperers 19. Jahrhundert konnte man auf Grund der aktuellen literaturwissenschaftlichen Diskussion auch noch eine Reihe anderer Einwände ins
Feld führen. So fasste er z.B. die erste Jahrhunderthälfte insgesamt unter dem
literarischen Schulenbegriff „Romantik“ zusammen und subsumierte in dem Kapitel
„Romantik im Umbau“ sowohl Historiker (wie Thiers und Michelet), utopische Sozialisten (!) (Saint-Simon, Lamennais, Fourier), den Philosophen Auguste Comte,
so wie die nach der marxistischen Auffassung als kritische Realisten einzustufenden Prosaautoren Balzac und Stendhal, und pêle-mêle mit ihnen George Sand,
Mérimée und den Trivialautor Eugène Sue und hängte auch noch Baudelaire an,
dessen Bedeutung nicht auf einem Umbau der Romantik, sondern auf der Begründung der zukunftweisenden neuen Richtung beruhte.
Den geforderten Neuansatz für die literaturgeschichtliche Lehre konnte Klemperers Darstellung des 18. und 19. Jahrhunderts nicht erfüllen. Sein bleibendes Verdienst lag auf einem anderen Gebiet, in dem Aufspüren des ideologischen Gehalts
der politischen „Sprache des Dritten Reiches“.8 Durch deren Reinigung von dem
Unrat des Faschismus wollte er wie Krauss, der dieses Ziel mit einer marxistisch
fundierten Aufklärungsforschung verfolgte, zu einem kulturellen, geistigen Neuanfang beitragen, in anderer Weise, aber von demselben politischen Willen erfüllt.
Dass deshalb gerade um die Aufklärungsforschung der Dissens zwischen beiden Gelehrten aufbrach, war ein mehr als bedauerliches Missverständnis.
Klemperer sah in dem Insistieren von Werner Krauss auf dem Beitrag der Aufklärung zur „Entstehung des geschichtlichen Weltbildes“9 und der damit verbundenen
Betonung der philosophischen Schriften der Aufklärer10 eine Vernachlässigung des
poetischen Gehalts dieser Literatur. Aber gerade dessen Herausarbeitung lag
Klemperer am Herzen. Er wollte der in der deutschen Romanistik vorherrschenden
Verunglimpfung des dix-huitième als „unpoetisches“, folglich vom ästhetischen
Standpunkt aus zu vernachlässigendes Jahrhundert als Literarhistoriker entgegentreten. Für Krauss verbarg sich hinter dieser Vernachlässigung vor allem der von
der geistesgeschichtlich depravierten deutschen Literaturgeschichte geführte
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Kampf gegen ihren aufbrechenden Materialismus, weshalb er, in der Anfangsphase
seiner Forschungen, das philosophische Schrifttum in den Vordergrund rückte.
Dass sich in den literarischen Werken ‚inhaltlich‘ gesehen – um diesen z.Zt.
obsoleten Ausdruck zu gebrauchen – die Geschichte eines Volkes niederschlägt,
stand jedoch für beide Wissenschaftler fest.
1924 – als es, kurz nach dem Ersten Weltkrieg, zur Versöhnung der Nationen
um ein gegenseitiges geschichtliches Verständnis ging – verteidigte Klemperer
seine moderne Literaturgeschichte in einem offenen Brief an Voßler mit eben diesem Argument. „Literatur als Ganzes [ist] ein Korrelat, eine übergeordnete Ergänzung der Geschichte [] In seiner Dichtung spricht ein Volk aus, was es in jedem
Augenblick sein möchte [], was es zu sein glaubt [] und was es nicht sein
möchte []. Damit ist mir als Ordnungs- und Inhaltsprinzip der Literaturgeschichte
das gleiche vorgeschrieben, was für die Geschichte gilt: [] den Ablauf nationaler
Entwicklungen im dichterischen Ideal zu verfolgen.“11
Und bei Krauss heißt es 1952 gegen Schluss seiner Einführung in das Lesebuch der französischen Literatur zu Aufklärung und Revolution: „In der Literatur ist
die unverfälschte Erfahrung einer nationalen Gesellschaft gespeichert.“12
Schon 1950 hatte Krauss seinen Grundsatzartikel „Literaturgeschichte als geschichtlicher Auftrag“13 nach der Diagnose der Krise der Literaturgeschichte mit der
Feststellung begonnen, dass „[d]as Problem, wie Dichtung in die Zeit gesenkt ist,
[] daher im Zentrum aller ernsten literaturwissenschaftlichen Diskussionen“ steht
und zunächst einmal alle gegenteiligen Positionen in einem gründlichen Verriss ad
acta gelegt, um dann den eigenen marxistischen, gesellschaftswissenschaftlichen
Standpunkt den idealistischen geisteswissenschaftlichen Absurditäten – Croce,
Walzel, Dilthey (!) als besonderen Sündenböcken – entgegenzusetzen. Hier, im
Geschichtskonzept selbst, liegt aber auch der eigentliche Dissens zwischen Krauss
und Klemperer. Für Krauss ist Geschichte ein gesellschaftlicher Entwicklungsprozess, ausgelöst durch Interessenwidersprüche von Klassen, angelegt auf Progress,
mit dem Telos der Freiheit des Individuums in der Gemeinschaft und durch sie.14
Für Klemperer ist Geschichte Wandel, Wechsel und Wiederholung in der Dauer
der Zeit, die sich im Werk in Inhalt und Form niederschlagen und auch in Typologien, psychologischen oder ästhetischen, fassbar sind (wie Barock oder Rokoko in
Walzels für das Ganze einer Kunstperiode verwandten Terminologie).
Vor allem aber war für Klemperer die Spezifik der Literatur ihre Verfasstheit als
Sprach-Kunst-Werk und der Weg zu ihrer Entschlüsselung begann mit der Analyse
der Sprache. Auf der Sprache eines literarischen Werkes, gefasst als das Gesamt
seiner Formstruktur, beruhte sein ästhetischer Wert. In ihr galt es daher für ihn in
erster Linie die geschichtliche Position des Autors aufzudecken.
Klemperers Betonung des literarisch-ästhetischen Aspekts der Literatur war in
einer geschichtlichen Periode, in der die Gefahr bestand, Literatur in falsch
verstandenem „Marxismus“ nur noch als Belegmaterial der Ideologiegeschichte
misszuverstehen, zumindest eine heilsame, an seine Schüler gerichtete Warnung.
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Das Nichtbeachten dieser Warnung konnte in Examensarbeiten bei ihm zu vernichtender Kritik führen.15
Dass Werner Krauss mit seinen Schülern eine völlig neue Aufklärungsforschung
auf einem theoretisch hohen marxistischen, nicht dogmatischen Niveau begründet
hat, ist eine international längst anerkannte Tatsache. Unter diesem Aspekt ist der
Dissens zwischen den beiden Positionen längst Geschichte... Für die Zusammenarbeit der Romanistik in der DDR jedoch war er, mehr oder weniger unterschwellig,
zumindest im Hinblick auf beider Schüler, eine gewisse Belastung.
Doch zurück zu unserem Studienaufenthalt in Moskau 1964, der zwar nicht den
erwünschten Erfolg brachte, aber insgesamt sehr interessant war.
Vor allem ging es darum, mit den Kollegen ins Gespräch zu kommen, deren Abschnitte uns für die Auswahl, auf die wir uns konzentrieren wollten, am wichtigsten
waren. Das betraf natürlich die Entwicklungslinie des kritischen Realismus, die Samarin verantwortete, die Entwicklungslinie der Arbeiterdichtung bis zur Commune,
für die Danilin als zuständig zeichnete, und die Einzelstudie Balaschows über Baudelaire, dessen Bewertung in marxistischer Sicht umstritten war.
Da ich Samarin schon kannte, schien es sinnvoll, als erstes mit ihm zu sprechen. Nach diesem Gespräch war klar, dass die geplante Übernahme des zweiten
Bandes nicht durchgeführt werden konnte, erstens weil zu umfangreiche Kürzungen gemacht werden mussten und zweitens weil zu befürchten stand, dass
auch die anderen Kollegen Schwierigkeiten haben würden, ihre Zitate exakt zu
belegen. Im russischen Text waren die französischen Zitate in russischer Übersetzung wiedergegeben. Wir brauchten aber für eine Publikation bei uns die Zitate
unbedingt nach dem zugrunde gelegten französischen Originaltext. Bei dem Gespräch mit Samarin stellte sich heraus, dass er z.T. nach Übersetzungen, z.T.
nach französischen Texten in russischer Ausgabe gearbeitet hatte und es eines
großen Aufwandes bedurft hätte, diese Belegstellen, wenn sie vorhanden wären,
ihrerseits aus den nunmehr gültigen französischen Originalausgaben herauszusuchen. In jedem Fall waren sie ad hoc nicht zu ermitteln. Zudem war Samarin mit
seinen Zitaten ziemlich großzügig umgegangen. Mehrfach hatte er Stellen aus
ganz verschiedenen Passagen zu einem langen Zitatsatz zusammengefügt.
Um keine unerfreuliche Verstimmung zu riskieren, blieb nur die Möglichkeit ihm
vorzuschlagen, nach ruhiger Durchsicht der einschlägigen Unterlagen auf die
ganze Frage zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal zurückzukommen. Auf jeden Fall schien Samarin zu einer Zusammenarbeit bereit und aufgeschlossener
als bei einem früheren ersten Besuch.
Unerfreulicher war, dass wir Danilin, den Verantwortlichen für die Arbeiter- und
Communedichtung, überhaupt nicht erreichen konnten. An der Übernahme dieser
Kapitel war uns aber offengestanden mehr gelegen als an Samarins Balzac, denn
sie hätte einen echten Informationsgewinn bedeutet. Zur Communedichtung z.B.
gab es ebensowenig Textausgaben wie Sekundärliteratur, weder bei uns noch in
den westdeutschen oder französischen Verlagen. Lediglich von Eugène Pottier,
dem Dichter der „Internationale“, diesem weltumspannenden Lied der Arbeiter116
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bewegung (1871), war 1937 in Frankreich ein Gedichtband Chants révolutionnaires erschienen.
Sicher ging es bei diesen Gedichten und Liedern nicht um große Dichtung, ihr
Interesse war mehr politischer Natur. Aber sie brachten eine neue Weitsicht in die
Lyrik ein, die im 20. Jahrhundert z.B. in der Dichtung eines Aragon oder in den Gesängen Pablo Nerudas weltliterarische Bedeutung erlangte. Warum die Begegnung mit Danilin nicht stattfinden konnte, weiß ich nicht mehr zu sagen. Dafür entdeckten wir auf der Suche nach einschlägigem Material zu Danilins Kapiteln die
Schätze der Leninbibliothek. Mit ihren reichen Beständen ist sie nach Größe und
Bedeutung für das ganze Land der Bibliothèque Nationale vergleichbar. Mit Hilfe
dieser Recherchen gelang es, wenigstens Danilins Studie zu Hégésippe Moreau
für eine Publikation der ZRPh fertig zu stellen.16
Überraschend angenehm verlief dagegen die Unterhaltung mit Balaschow. Er
lud mich nicht nur, als einziger von allen Kollegen, zu einem Essen nach Hause
ein, nach dem wir in zügiger Arbeit den Artikel durchgingen. Er hatte auch alle Unterlagen dafür bereit gelegt, darunter die gültige Gallimard-Ausgabe von Baudelaires Gedichten, nach der er selbstverständlich in seinem Text zitiert hatte.
Dass er mir bei diesem Besuch auch seine kleine Gemäldesammlung zeigen
konnte, machte ihm sichtlich Freude, denn er betonte bei einigen Bildern immer
wieder, dass die Tretjakowgalerie über ihren Besitz sehr stolz sein würde. Ganz
nebenbei kam zu Tage, dass er selbst aus einer alten Adelsfamilie stammte und
die Bilder folglich Erbstücke waren. Balaschow entsprach in seinem Habitus den
Wissenschaftlern, die ich bisher auf meinen Auslandsreisen kennen gelernt hatte
und das Gespräch mit ihm war ausgesprochen kollegial und anregend. Wir haben
uns später mehrfach auf internationalen Kongressen der Association internationale
de littérature comparée getroffen und uns immer über dieses Wiedersehen gefreut.
Die zweite und noch viel größere wissenschaftliche Überraschung war das völlig
unerwartete Auftauchen von Efim Etkind aus Leningrad in unserem Hotel. Ohne
die ‚Tauwetterperiode‘ wäre Etkins Eskapade nicht möglich gewesen. Das galt
übrigens auch für Balaschows Privateinladung. Was unseren Kontakt ursprünglich
ausgelöst hat, weiß ich nicht mehr. Auf jeden Fall beschäftigte er sich, wie ich, mit
Übersetzungsproblemen, so dass meine Zola-Ausgabe der Grund gewesen sein
kann. Offensichtlich kam es mit ihm zu einem interessanten Gespräch, sonst hätte
ich den Kontakt nicht weiter gepflegt und ihn bei meinem dritten Moskaubesuch
nicht meinerseits in Leningrad aufgesucht. In diesem Zusammenhang werde ich
ausführlicher auf ihn zu sprechen kommen.
Die Vorbereitung der offiziellen Gespräche mit den Kollegen wegen des
Literaturgeschichtsprojekts, insbesondere die Kürzungs- und Veränderungsvorschläge sowie die Nachbereitung und notwendigen Recherchen in der Leninbibliothek, für deren Organisation der auch in Berlin für unsere Institutsbibliothek
zuständige Hans-Jürgen-Hartmann verantwortlich war, nahmen ziemlich viel Zeit
in Anspruch, so dass ich in der ersten Woche meine beiden Assistenten durch
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Nachtschichten – für mich seit langem gewohnheitsgemäß ganz selbstverständlich
– ziemlich überforderte und bei ihnen einen kleinen Streik auslöste.
[]
Ein Höhepunkt unseres Studienaufenthaltes war ganz besonderer Art: unsere
Teilnahme an den Feierlichkeiten zum 1. Mai.
Nun war die Teilnahme an Aufmärschen und Umzügen nie so recht meine Sache. Sicher, in den ersten Jahren nach dem Krieg bin ich mit meinem Mann aus
voller Überzeugung zum Umzug am 1. Mai gegangen. Wir wollten für ein Ziel demonstrieren, ein friedliches, besseres Leben für alle. Aber als die Maidemonstrationen immer mehr zur Legitimationsveranstaltung für die eingeschlagene Politik
und damit zur Pflichtübung und Routine wurden, ließ auch die innere Beteiligung
nach. Doch 1964 in Moskau und dann noch in der ‚Tauwetterperiode‘ – das war etwas ganz anderes. In Moskau durfte nicht jeder, wie er gerade Lust hatte, an der
Maidemonstration teilnehmen, sondern nur im Rahmen einer Delegation von einem Betrieb oder einer Institution, wie wir als Gäste des Gorki-Instituts in dessen
Delegation. Eine solche Begrenzung war notwendig, weil in Moskau die zentrale
Veranstaltung für die ganze Sowjetunion stattfand und Delegationen aus allen
Landesteilen nach Moskau kamen. Es war schon ein eigentümliches Erlebnis, in
der Hauptstadt des führenden Landes des Sozialismus an diesem internationalen
Feiertag der Arbeiterklasse an der Demonstration teilzunehmen, wenn ich es im
perfekten Parteistil formuliere. Doch zum damaligen Zeitpunkt habe ich es sicher
auch so empfunden. Im Prinzip natürlich ähnelte dieser Umzug allen Veranstaltungen dieser Art, außer dass man ihn nicht irgendwann und -wo verlassen konnte,
denn das hätte bei diesen Massen ein Chaos ergeben. Ich weiß auch nicht mehr,
an welchem Ort wir uns nach dem Durchzug über den Roten Platz aufgelöst haben. Nur dass wir auf diese Weise nicht die immer übliche Militärparade sehen
konnten, die nach Größe und auch propagandistischer Bedeutung mit unserer in
Berlin nicht zu vergleichen war. Ein persönliches Erlebnis ganz anderer Art war die
Festveranstaltung des Instituts am Nachmittag. Außer sehr gekonnten musikalischen Darbietungen gab es vor allem den Vortrag von Teilen aus Puschkins Eugen Onegin. Ich kann Dichtung in russischer Sprache nicht lesen und schon gar
nicht beim Hören inhaltlich verstehen, wohl aber ihren Klang genießen. Bei dieser
Veranstaltung kam als Erlebnis aber noch etwas völlig anderes hinzu. Egal welches Stück vorgetragen wurde, sofort nach den ersten Worten rezitierte der ganze
Saal den Text voller Begeisterung auswendig mit. So etwas hatte ich noch nie erlebt und ich stellte mir vor, wie es wohl sein würde, wenn in einer Universitätsveranstaltung bei uns Teile aus Goethes Faust rezitiert würden... Diese Liebe
zur eigenen Sprache und Dichtung, welch ein Kulturbewusstsein! Es hat mich immer wieder bei meinen russischen Kollegen überrascht und auch bei meinen Studenten, als ich 1970 ein Gastsemester in Moskau verbrachte, zu dem ich von der
Lomonossow-Universität, mit der die Humboldt-Universität einen Freundschaftsvertrag hatte, eingeladen worden war.
[]
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Zu diesem Zeitpunkt [1970] befanden sich die Universitäten der DDR in dem
Umbruch der so genannten III. Hochschulreform. Es scheint, dass bei der Ankündigung von Reformen zu allen Zeiten hinsichtlich ihrer zu erwartenden positiven
Ergebnisse eine gewisse Skepsis nicht unangebracht ist. Jedenfalls wollte ich
angesichts der sich vollziehenden grundlegenden Veränderungen nicht ein ganzes
Semester abwesend sein. Deshalb beantragte ich die Verkürzung dieses Gastsemesters auf zwei Monate, d.h. auf die Zeit vom 28. September bis zum 30.
November. Zugleich erbat ich die Genehmigung, dass mein Sohn Hans-Robert,
der am 4. Juli sein Abitur abgelegt hatte und erst zum 3. November seinen
Wehrdienst antreten musste, mich bis zu diesem Zeitpunkt zur Verbesserung seiner Russischkenntnisse nach Moskau begleiten dürfe.
Bisher hatte ich für Reisen in die russische Metropole immer die schnelle
Flugverbindung genutzt, ganz gleich, ob es sich um einen Gastvortrag oder um
eine Urlaubsreise handelte, zu der grundsätzlich stets auch ein bis zwei Tage
Moskau-Aufenthalt gehörten. Diesmal aber musste ich den Zug nehmen, einfach
schon wegen des notwendigen Gepäcks, und das hieß: Kleidung für Spätherbst
und russischen Winter, alle Unterlagen für die Vorlesungen und das Seminar nebst
Büchern, Schreibmaschine und entsprechendem Arbeitsmaterial, sowie die dringlichsten Utensilien für Küche und Haushalt, da Gastprofessoren für die Zeit ihres
Aufenthaltes von der Universität in einem Gästehaus eine Zwei-Zimmer-Wohnung
mit Küche zur Verfügung gestellt wurde. Zusammen mit dem – gemessen am Einkommensdurchschnitt der Bevölkerung – hohen Gehalt von 400 Rubel pro Monat,
wie es sonst nur Mitglieder der Russischen Akademie der Wissenschaften erhielten, waren diese offiziellen Bedingungen sehr großzügig.
So machten wir uns mit sieben Koffern, die aufgegeben wurden, und weiteren
fünf, die die notwendigsten Dinge für den Anfang enthielten und deshalb zu unserem Glück – wie sich herausstellen sollte – in unserem Schlafwagenabteil untergebracht werden konnten, auf die Reise.
Die Eisenbahnstrecke Berlin–Warschau–Brest–Moskau betrug ca. 2000 km und
die Fahrt mit dem D-Zug dauerte rund 30 Stunden. Wir fuhren um 8:45 mit dem
„Ost-West-Express“ vom Ostbahnhof ab und erreichten nach den entsprechenden
Grenzübergängen, die ohne besondere Aufregungen verliefen, um 0:53 die Station
Brest Central, wo die Wagen auf die Breite der russischen Gleisspur umgestellt
werden mussten. Dass es demgemäß hier einen längeren Aufenthalt geben
würde, wussten wir.
Die Beamten, die unser Abteil betraten, kontrollierten zunächst unsere Ausweispapiere und Fahrkarten und fragten, wie viel Rubel und wie viele Koffer wir mitführten. Wahrheitsgemäß gab ich an, ich hätte 1000 Rubel bei mir – ich hatte sie wegen des mitreisenden Sohnes auf meinen Antrag hin in Berlin eintauschen können
– und es befänden sich außer den fünf kleineren Koffern hier im Abteil unser
eigentliches Gepäck, also weitere sieben Koffer, im Gepäckwagen. Diese Mitteilung hatte unerwartete Folgen. Ein nicht gerade freundliches „Aufstehen!“ war die
erste Reaktion. Hans-Robert kletterte im Schlafanzug, wie er war, herunter, ich
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stand auf und fuhr in die Hausschuhe. Die kurze Kofferdurchsicht im Abteil förderte
offensichtlich nichts Verdächtiges zutage. Nur eine Tasche mit Äpfeln erregte Anstoß. „Alles sofort wegwerfen.“
‚Maltschik‘ – damit war Hans-Robert gemeint, so der Chef der drei Mann umfassenden Truppe – könne sich wieder hinlegen, ich aber müsse sofort mitkommen,
um die auf dem Gepäckwagen befindlichen Koffer zu identifizieren. Von langem
Um- und Anziehen konnte keine Rede sein.
Das Bahnhofsgelände, das wir nun betraten, habe ich als relativ wenig beleuchtet in Erinnerung. Auf jeden Fall ging es aber nicht, wie ich erwartete, schnurstracks zu dem Güterwagen, sondern erst in einen hellen Raum – ob es der
normale Aufenthaltsraum war, kann ich nicht sagen – wo man mir bedeutete zu
warten. Und so wartete ich. Als ich nach einer Stunde vergeblichen Wartens anfing
zu frieren – schließlich trug ich in jenem Moment nur einen Morgenrock und war
außerdem einfach müde und wollte mich wieder in meinem Abteil hinlegen –, versuchte ich mit dem in der Sowjetunion wie eine Zauberformel wirkenden Satz „Ja,
akademik“ den Diensttuenden zu beeindrucken und meine Warterei zu beenden.
Allerdings ohne jeglichen Erfolg. Diese Frau sollte ein Akademiemitglied sein und
dann noch dazu in diesem Alter! – ich war gerade zweiundfünfzig – das sollte glauben, wer wollte. Der in der Sowjetunion mit höchstem sozialen Prestige versehene
wissenschaftliche Status eines „akademik“ verband sich unabweisbar mit der Vorstellung von einem würdevollen Herrn in höherem Alter. Selbst wenn ich der russischen Sprache genügend mächtig gewesen wäre, um eine Diskussion zu beginnen, es hätte keinen Zweck gehabt und das Mahlen der amtlichen Mühlen auch
nicht beschleunigt Nach einer reichlichen weiteren Stunde Warten erschien ein
anderer Beamter und teilte mir mit, der Gepäckwagen wäre nicht zu finden, die
Kontrolle der Koffer könne deshalb erst in Moskau nach meiner Ankunft durchgeführt werden, ich dürfe nunmehr in mein Abteil zurückgehen. Um 3:51 fuhren wir
ab. Die restliche Fahrt verlief ohne Zwischenfälle
Auf dem bjelorussischen Bahnhof in Moskau, wo wir fahrplanmäßig um 16:00
ankamen, erwarteten uns ein Mitarbeiter der Botschaft der DDR, Hans Große, der
Mann einer mir befreundeten Kollegin und eine von der Universität mir zugeteilte
Betreuerin namens Svetlana – eine Germanistin, wie sich herausstellte, und offensichtlich aus ‚gutem Hause‘, wie man in meiner Jugend sagte.
Meine erste Frage nach der Begrüßung war natürlich die nach den Koffern auf
dem Gepäckwagen. Trotz aller nun einsetzenden Bemühungen unseres ‚Empfangskomitees‘ – sie waren nicht zu finden. Aber meine Betreuerin beruhigte mich,
wir würden sie sicher am nächsten Tag abholen können. Also fuhren wir erst
einmal mit dem Gott sei Dank vorhandenen ‚Handgepäck‘ in das Gästehaus, in
dem wir untergebracht werden sollten. Unsere Wohnung in der Schabulowka
sorok schest (46) lag in der Nähe der gleichnamigen U-Bahn-Station der Linie, die
in südlicher Richtung weiter zur Station Leninprospekt führte, von wo aus die
Lomonossow-Universität auf den Leninbergen mit Straßenbahn und Bus leicht zu
erreichen war. Die Gastwohnung war für Moskauer Wohnverhältnisse großzügig:
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ein kleiner Vorraum, Toilette, Bad, eine kleine Küche und auf der gegenüberliegenden Seite zwei helle, saubere, mit neuen Möbeln eingerichtete Zimmer, Zentralheizung, kaltes und warmes Wasser und Telefon.
So weit, so gut. Nun mussten wir erst einmal auspacken, uns ausruhen und
versuchen, auch innerlich anzukommen. Mit Svetlana wurden kurz noch die
notwendigen nächsten dienstlichen Schritte verabredet, von Hans Große ließ ich
mir die Vorwahlnummer für Berlin geben, damit ich gleich meinem Mann unsere
Ankunft und vor allem die offene Kofferfrage mitteilen konnte. Er beruhigte mich in
dem Telefongespräch. Spätestens in einer Woche, wenn er für zehn Tage zur Arbeit ins Parteiarchiv käme, würde er sich selbst darum kümmern, falls die Koffer
bis dahin noch immer nicht aufgetaucht wären. Und so war es auch. Erst nach seiner Intervention klärte sich die Lage. Die eigentliche Arbeit konnte beginnen.
Am meisten Freude bei diesem Aufenthalt an der Universität machten mir die
Studenten, mit ihrer Wissbegierde und ihrer erstaunlichen Beherrschung der
französischen Sprache. Schließlich lief ja das gesamte Programm in der Fremdsprache. Ich hatte ein Zola-Seminar, eine Einführung in die Nouvelle Critique und
eine Vorlesung zur Entwicklung der Poetik von der Renaissance zur Frühaufklärung angeboten, immerhin kein ganz leichtes Brot. Die Studenten nahmen
an den Veranstaltungen nicht nur pünktlich teil, sie konnten offensichtlich auch
folgen. Ihre Aufmerksamkeit in den Vorlesungen, ihre lebhafte Mitarbeit im Seminar, die sich in Fragen und, wenn sie etwas nicht verstanden hatten, auch in
Nachfragen äußerte, zeugte von wirklichem Interesse am Gegenstand. Und wenn
einmal Zeit zu einem zusätzlichen Gespräch war, wunderte mich vor allem, wie
wach sie das kulturelle Leben in der Stadt verfolgten. Diese kulturelle Interessiertheit war mir bei meinen früheren Besuchen schon bei den Kollegen aufgefallen. In
den Gesprächen mit ihnen herrschte auch diesmal ein aufgeschlossenes,
intellektuelles Klima. Vielleicht waren es noch die Nachwirkungen des ‚Tauwetters‘. Die größte Überraschung für mich als Kollegin war jedoch die von Roman Michailovitsch Samarin, dem Leiter des Gorki-Instituts für Weltliteratur an der Russischen Akademie der Wissenschaften, ausgesprochene Einladung, auch vor diesem Gremium über die Nouvelle Critique zu sprechen. Die mit diesen vier Sitzungen verbundenen Diskussionen mit den Herren, die von Alter und Äußerem wirklich dem Vorstellungsbild eines russischen Akademiemitglieds entsprachen, waren
in vielerlei Hinsicht aufschlussreich.
Samarins freundliche Worte: „Wir haben Ihnen mit großem Interesse zugehört
wie aufmerksame Schüler“ deuteten allerdings nicht unbedingt darauf hin, dass die
Theorien des Moskauer linguistisch orientierten Kreises des Russischen Formalismus aus den 1920er Jahren, mit Roman Jakobson an der Spitze, die ja zu den
Grundlagen der Nouvelle Critique gehörten, im literaturtheoretischen Bewusstsein
der Anwesenden noch eine Rolle spielten. Ganz anders dagegen die Situation bei
meinen Gesprächen mit Efim Grigorevitch Etkind17 in Leningrad, von wo der
Russische Formalismus18 1915 mit der Gründung der „Gesellschaft zur Erforschung der poetischen Sprache“ (opojaz) durch eine Gruppe junger Philologen
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und Literarhistoriker eigentlich ausgegangen war und wo in gewissen Kreisen, wie
in den Arbeiten Etkinds oder in der Systemtheorie Kagans, dieses Erbe noch zu
erkennen war. Mit Etkind verband mich unmittelbar das gemeinsame Interesse an
strukturell-stilistischen Fragen und an Problemen der Übersetzungstheorie. Er
wurde später durch seine einschlägigen Arbeiten auf diesem Gebiet vor allem in
Frankreich und auch bei den deutschen Slavisten bekannt.
Bei der ersten Studienreise 1964 war Etkind eigens angereist, um mich persönlich kennen zu lernen. Ein ziemlich ungewöhnlicher Schritt für einen dortigen Kollegen. Also wollte ich ihm unbedingt einen Gegenbesuch abstatten. Von den organisatorischen Mühen, die die Vorbereitung dieser Reise Svetlana zusätzlich bereitete, hatte ich allerdings keine Ahnung.
Die mit so vielen Erlebnissen ausgefüllte Zeit verlief viel zu schnell. Früher als
mir lieb war, rückte der Abreisetermin näher, es war nötig, an die Modalitäten zu
denken. Nach der Erfahrung mit den nicht auffindbaren Koffern auf der Herfahrt
riet Hans Große mir für die Rückfahrt zwei Fahrkarten erster Klasse zu kaufen, um
so ein ganzes Schlafwagenabteil für mich allein zu haben und darin alle Koffer –
einen Teil hatte ja schon mein Sohn auf dem Rückflug am 1. November mitgenommen – unterbringen zu können. Das schien praktikabel und wurde vorbereitet.
Zwei oder drei Tage vor dem endgültigen Termin jedoch kam Hans Große von der
DDR-Botschaft mit einer anderen, nicht gerade beruhigenden Nachricht. Ein Kollege aus Leipzig – er hatte an der Lomonossow einige Gastvorlesungen gehalten
– war auf der Rückfahrt seinerseits an dem Grenzübergang Brest über einen Tag
festgehalten worden „wegen unerlaubter Ausfuhr von Rubeln“, d.h. nach sowjetischem Gesetz wegen eines „Währungsdelikts“. Der Tatbestand: Besagtem Leipziger Kollegen war auf dem Bahnhof in Moskau kurz vor der Abreise von einer Zeitschrift, in der er Artikel veröffentlicht hatte, das dafür fällige Honorar überreicht
worden, das er offensichtlich, ohne weiter zu überlegen, mitgenommen hatte.
Im Grunde musste ich mich darüber nicht beunruhigen. Ich hatte keine Honorare zu erwarten, mein eigenes Geld war aufgebraucht, ‚unerlaubtes Kulturgut‘
wollte ich nicht ausführen, aber Vorsicht, oder besser gesagt, Vorsorge schien mir
dennoch geboten. Also setzte ich auf den bei Auslandsgesprächen als sicher
anzunehmenden Abhördienst. In einem ausführlichen Ferngespräch teilte ich meinem Mann zuerst die Geschichte von dem Leipziger Kollegen mit und dann den
Tag meiner Abfahrt mit der genauen Abfahrtszeit in Moskau und der dementsprechenden Ankunftszeit in Berlin und fügte laut, langsam und deutlich hinzu: „Sollte
ich zu besagtem Zeitpunkt nicht in Berlin eintreffen, dann verständige bitte sofort
das Ministerium für das Hoch- und Fachschulwesen, die Abteilung Wissenschaft
im ZK und alle anderen in Frage kommenden Dienststellen. Denn dann kann ich
nur widerrechtlich an dem Grenzübergang Brest zurückgehalten worden sein.“
Zur Abreise mit dem Moskwa-Express am Nachmittag um 16:30 begleiteten
mich nicht nur die Italienisch-Kollegin Potapova, der ich erst diesmal begegnet
war, Hans Große und die mir seit unserem gemeinsamen Ausflug nach Leningrad
viel vertrauter gewordene Svetlana auf den bjelorussischen Bahnhof, sondern
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auch Professor Samarin war höchstpersönlich zu meiner Verabschiedung erschienen. Er sorgte sich vor allem darum, dass ich ja gut untergebracht würde. Tatsächlich ließ sich das gesamte Gepäck mit einiger Anstrengung von den eiligst herbeigerufenen hilfreichen Geistern in dem Abteil unterbringen. Etwas Reiseproviant
hatte ich vorsichtshalber für die lange Strecke auch diesmal mitgenommen, und einen heißen Tee konnte man in solchen Fernzügen bei den diensttuenden Zugbegleitern immer bekommen. Eigentlich waren sämtliche Voraussetzungen für eine
gute Fahrt gegeben. Die Zurückbleibenden verabschiedeten mich mit allen guten
Wünschen aufs herzlichste, im Grunde hätte ich ganz beruhigt abfahren müssen.
Aber mir war eher seltsam zumute, als sich die Räder in Bewegung setzten. Zum
Teil war es der Gedanke, dass wieder eine Lebensstrecke mit neuen Erfahrungen,
Eindrücken, menschlichen Begegnungen zu Ende gegangen war – tatsächlich
habe ich keinen der Moskauer Kollegen aus diesen Tagen später noch einmal wiedergesehen –, zum Teil war ich trotz aller Vorkehrungen wegen der Unwägbarkeiten der langen Reise, diesmal allein, mit mehreren Grenzübergängen, vor allem in
Brest, etwas nervös.
Die drei Beamten, die in den frühen Morgenstunden, um 5:15, in Brest zur
Grenzkontrolle mein Abteil betraten, waren jedoch vom ersten Augenblick an sichtlich bemüht, mich mit größter, fast übertriebener Höflichkeit und Rücksichtnahme
zu behandeln. „Nicht aufregen, ganz ruhig bleiben, nicht aufstehen, ruhig liegen
bleiben“, waren ihre Worte. Die Koffer interessierten sie überhaupt nicht. Nach einem kurzen Blick in meinen Pass und auf die Fahrscheine wünschten sie mir eine
gute Weiterreise und verschwanden ebenso geräuschlos, wie sie gekommen waren. Das Telefongespräch mit meinem Mann hatte sichtlich gewirkt. Doch was sollten die russischen Zugbegleiter, die mich, offensichtlich ebenfalls wohlinstruiert,
auch wie eine very important person behandelt hatten, denken, wenn ich nun an
unserer Grenze aus unerfindlichen Gründen vielleicht Ärger mit dem Zoll bekäme?
Man konnte nie wissen. Auf dem Flugplatz in Schönefeld hatte ich bei der Einreise
schon manchmal Unerfreuliches erlebt. Der deutsche Zollbeamte, der in Frankfurt/Oder in mein Abteil kam, war jedoch ein gemütlicher Sachse, der mich im
lupenreinen Dialekt nach Besichtigung meines Passes mit den Worten begrüßte:
„Des is aber schen, Frau Professor, dass Se wieder da sind, mer ham Se schon
vermisst im Professorenkollegium19.“
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Cf. zu diesen insgesamt vier Bänden Rita Schober, „Gedanken zur Problematik einer
‚Geschichte der französischen Literatur‘“, ZRPh 11/1964, 126-140.
Jan Ottokar Fischer, Francouská literatura (Struċý nástin vývoje), druhé, rozŝířené
vydání, Praha, Orbis, 1964; Rita Schober et al. (ed.), Französische Literatur im Überblick, Leipzig, Reclam, 1970, 2. Aufl. 1977; cf. die Kritik dieser Literaturgeschichte und
meine Stellungnahme dazu in: Dorothee Röseberg (ed.), Frankreich und das andere
Deutschland. Analysen und Zeitzeugnisse, Tübingen, Stauffenburg, 1999, 495-541.
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Das „Avertissement de la Première Edition“ beginnt mit dem Satz: „Ce livre a été écrit
pour l’enseignement“ (René Doumic, Histoire de la littérature française, Paris, Librairie
Classique Delaplane, 1900, V).
Promoviert haben: Christa Bevernis (Balzac; Habilitation Flaubert), Gerhard Schewe
(Romain Rolland), Horst Müller (Henri Barbusse), Jürgen Papenbrock (Paul Eluard);
selbst beteiligt war ich mit den Arbeiten zu George Sand, den Romanen Maupassants,
der Habilschrift zu Zola, und zu Aragons Karwoche. Die DDR verließen aus mir im Detail
nicht bekannten Gründen Annemarie Pohle (Chateaubriand), Gertraude Cholière und
Helmut Keßler (Novellen Maupassants; die Arbeit wurde unter der Leitung von Prof.
Maurer in der BRD zu Ende geführt und publiziert).
Rita Schober, „Zur Problematik literarhistorischer Perioden (franz.)“, in: Actes du Colloque international de Civilisations et Langues Romanes, Bucarest 1959, 102-107; id.,
„Zur Frage kunsthistorischer Termini“, in: Acta litterari, Budapest 1962, 93-94.
vgl. Anm. 1.
Cf. Briefwechsel zwischen Rita Schober, Victor Klemperer und Werner Krauss, in:
lendemains, 33/2008, Heft 130/131, dort Klemperers Brief vom 19.7.54, 231.
Cf. Victor Klemperer, LTI: Notizbuch eines Philologen, Leipzig, Reclam, 1947. Mit dieser
Arbeit hatte Klemperer anhand der gesprochenen Sprache des Dritten Reiches, gewissermaßen am ‚lebenden Objekt‘, die Richtigkeit des Satzes von Marx in den Grundrissen: „Die Sprache selbst ist ebenso das Produkt eines Gemeinwesens, wie sie in andrer
Hinsicht selbst das Dasein des Gemeinwesens und das selbstredende Dasein desselben“ bewiesen. (Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Marx-Engels-Werkausgabe, Band 43, Berlin 1983, 398; Hervorhebung R.Sch.)
Diese Formulierung gebraucht Werner Krauss im Titel eines 1968 veröffentlichten Essays „Der Streit der Altertumsfreunde mit den Anhängern der Moderne und die Entstehung des geschichtlichen Weltbildes“, in: Werner Krauss, Essays zur französischen Literatur, Berlin/Weimar, Aufbau-Verlag, 1968, 130. Der Band beginnt mit einem Essay zu
den literarischen Gattungen, dem ein Essay zur französischen Novellistik des 18. Jahrhunderts, zur französischen Romantheorie des 18. Jahrhunderts und zum nouveau roman, der modernsten Romanentwicklung, folgt, ein dezidiert literarhistorisch angelegter
Band.
Cf. Werner Krauss, Lesebuch der französischen Literatur, Teil I: Aufklärung und Revolution, hg. v. Werner Krauss unter Mitarbeit v. Manfred Naumann, Berlin, Volk und Wissen, volkseigener Verlag, 1952. Natürlich betonte dieses als Auftakt einer neuen Aufklärungsforschung gedachte Studienbuch die philosophisch-ideologischen Schriften.
Victor Klemperer, „Positivismus und Idealismus des Literaturhistorikers. Offener Brief an
Karl Voßler [sic]“, in: Jahrbuch für Philologie 1/1925, 245-268, 257.
Werner Krauss, loc. cit., 25.
Cf. Werner Krauss, „Literaturgeschichte als geschichtlicher Auftrag“, in: Sinn und Form,
2/1950, Heft 4, 65-126. Dass Krauss diesen Artikel selbst in einem teils ironischen, teils
pathetischen, fast an Nietzsche erinnernden, aber nicht in einem dürren Gelehrten-Stil
geschrieben hat, mag wohl Ausdruck der inneren Bewegtheit und Dringlichkeit des persönlichen Anliegens gewesen sein.
Cf. ibid., 121, 125, 126.
Cf. unseren Briefwechsel, loc. cit.
Die Studie von J. I. Danilin erschien in den Beiheften des Jahrgangs 4/1965, 53-62, in
der Übersetzung von R.Sch. [Anm. Wolfgang Asholt]
Etkind war Professor an der Universität in Leningrad und emigrierte 1974 nach Frankreich, wo er Professor für Russische Literatur an der Universität Paris-Nanterre wurde.
Cf. Victor Ehrlich, Russischer Formalismus, München, Hanser, 1964.
Das „Professorenkollegium“ war eine Livesendung im DDR-Fernsehen, die seit 1964
einmal im Monat ausgestrahlt wurde und auf schriftlich eingegangene Hörerfragen antwortete. An dieser Sendung hatte ich seit Beginn fast regelmäßig teilgenommen.