Zwischen religiösem Pluralismus und postnationaler europäischer Demokratie. Überlegungen zum Westfälischen Frieden und zur jüdischen Frage Von José Casanova, Berkley Center for Religion, Peace, and World Affairs, Georgetown University Laudatio anlässlich der Verleihung des Abraham-Geiger-Preises an Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland, im Jüdischen Museum Berlin am 2. Dezember 2015 Es ist mir eine große Ehre, die Laudatio anlässlich der Verleihung des Abraham-GeigerPreises an Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland, zu halten. Übertroffen wird meine tiefe Dankbarkeit nur von dem Bewusstsein der Verantwortung für diese unverdiente Ehre. Ich wollte gerade beginnen, diese Rede niederzuschreiben, als mich die schockierenden Nachrichten von den ruchlosen Pariser Verbrechen des 13. November mit lähmendem Entsetzen erfüllten. Dies war nicht nur ein Kriegsakt gegen das französische Volk, sondern ein ungeheuerlicher Angriff auf die Freiheiten und Werte aller Europäer. Ja, diese barbarische und böse Tat zielte in Wirklichkeit auf den Frieden der gesamten Menschheit. Es ist offensichtlich, dass die Geißel des globalen Terrorismus eine absolut energische und abgestimmte Reaktion im Rahmen des Völkerrechts erfordert. Kann man es dennoch angesichts eines solchen unmenschlichen Massenmordes, der einmal mehr im Namen Gottes begangen wurde, wagen, über die Tugenden des religiösen Pluralismus zu sprechen? Und kann man diese Tugenden als notwendige Grundlage für den Aufbau postnationaler europäischer Demokratien auszeichnen? Meines Erachtens unterstreicht die Tragödie nur die Notwendigkeit, über die gewaltige Herausforderung nachzudenken, vor der wir in Europa stehen: nämlich postnationale Demokratien auf der Grundlage religiösen Pluralismus zu schaffen. Denken wir nur an die vielen schwerwiegenden Probleme, mit denen die Europäische Union in jüngster Zeit konfrontiert ist: die aktuelle Flüchtlingskrise; die anhaltenden Schwierigkeiten bei der Integration neuer Generationen von Immigranten, darunter vielen Muslimen, in die europäischen Gesellschaften; die Annexion der Krim und der Krieg in der Ukraine mit ihrer flagranten Verletzung der europäischen internationalen Rechtsordnung; die Schwächung der europäischen Solidarität infolge der Wirtschaftskrise in Griechenland und anderen südeuropäischen Ländern. Angesichts all dieser Herausforderungen sollten wir uns tunlichst vor zwei potentiellen Versuchungen hüten, die zweifellos das Gegenteil des Gewünschten bewirken würden – einer außenpolitischen und einer innenpolitischen. Nach außen müssen wir uns von dem unrealistischen Traum verabschieden, wir könnten eine Festung Europa bauen, um uns vor den Bedrohungen und Problemen zu schützen und zu isolieren, die von Europas östlichen Grenzen oder seiner südlichen Flanke in Afrika und dem Nahen Osten ausgehen. In unserem globalen Zeitalter wäre eine solche Politik geopolitisch nicht durchzuhalten und moralisch selbstzerstörerisch. Innerhalb der EU können wir es uns nicht leisten, zu einem Europa wechselseitig misstrauischer und unsolidarischer Völker und Nationen zurückzukehren, die von neuen Grenzen, Mauern oder Stacheldrahtzäunen getrennt werden. Mein eigenes Land, Spanien, bietet ein trauriges Beispiel dafür, wie leicht eine Dynamik gegenseitiger Schuldzuweisungen außer Kontrolle geraten kann, wenn der Wille fehlt, auf dem Wege des politischen Dialogs Lösungen im Rahmen der Verfassungsordnung zu finden. Wir alle in Europa könnten unversehens wieder größere Anstrengungen darauf verwenden, die nationalen Grenzen zu ziehen, die »uns« von »denen« trennen, als darauf, die zivilgesellschaftliche Verbundenheit zu kultivieren, die uns als Europäer eint. Wir sollten unsere Aufmerksamkeit deshalb auf die großen Errungenschaften der Europäischen Union richten. Ihr ist es gelungen, die tragischen Vermächtnisse zweier europäischer Weltkriege zu überwinden. Sie hat die verfassungsmäßigen Voraussetzungen dafür geschaffen, dass sich die »Bloodlands« und Völkermorde der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die durch inhumane rassistische, ethnisch-religiöse und nationalistische Ideologien verursacht wurden, nie wiederholen. Wir sollten daher unser Bekenntnis bekräftigen, dass wir unverändert an einem friedlichen, erfolgreichen, demokratischen und solidarischen gemeinsamen Haus für alle Europäer bauen, die friedlich innerhalb der europäischen Verfassungs- und Rechtsordnung leben und arbeiten wollen, unabhängig davon, woher sie stammen und welche religiöse oder säkularen Überzeugungen und Weltanschauungen sie haben. Dies schulden wir den Abermillionen Opfern der brudermörderischen europäischen Konflikte. Und wir schulden es, erst recht im Rahmen dieses Festakts im Jüdischen Museum Berlin, bei dem wir das Andenken des großen europäischen Rabbiners Abraham Geiger ehren, den Millionen Opfern der Schoah. Sie wurden einfach deshalb ermordet, weil man sie nicht als europäische Mitbürger anerkannte, obwohl sie seit Jahrhunderten und Generationen friedlich auf europäischem Boden gelebt hatten. Wir Europäer haben eine schwerwiegende moralische Verpflichtung, darüber nachzudenken, was die »jüdische Frage« in der modernen europäischen Geschichte bedeutet und wie unauflösbar sie mit der Dynamik der europäischen Staaten- und Nationenbildung verflochten ist. Dies ist der Hintergrund, vor dem ich über den Westfälischen Frieden von 1648 nachdenken will. Dieser Frieden beendete einerseits die Religionskriege in Europa, erwies sich andererseits aber als problematische Lösung für die Herausforderung des religiösen Pluralismus. Wir alle kennen die gerne wiederholte säkulare europäische Erzählung, die üblicherweise als genealogische Erklärung und normative Rechtfertigung für den säkularen Charakter der europäischen Demokratie angeboten wird. Sie geht in groben Zügen so: Vor langer Zeit, im Europa des Mittelalters, waren Religion und Politik in einer für vormoderne Gesellschaften typischen Weise miteinander verschmolzen. Diese Verschmelzung aber führte unter den neuen Bedingungen religiöser Vielfalt, extremen Sektierertums und scharfer Konflikte im Gefolge der Reformation zu den schlimmen, brutalen und langwierigen Religionskriegen der frühen Neuzeit, die die europäischen Gesellschaften in Trümmer legten. Die Säkularisierung des Staates war die gelungene Reaktion auf diese Katastrophenerfahrung. Die Aufklärung tat ein Übriges. Die modernen Europäer lernten, Religion und Politik voneinander zu trennen. Vor allem aber lernten sie, ihre religiösen Leidenschaften zu zügeln und ihren obskurantistischen Fanatismus zu überwinden, indem sie die Religion in eine geschützte Privatsphäre verbannten. Gleichzeitig schufen sie eine offene, liberale, säkulare Öffentlichkeit, in der freie Meinungsäußerung und öffentliche Vernunft herrschen. Dies, so die Moral von der Geschicht’, seien die positiven säkularen Grundlagen, auf denen die Demokratie wächst und gedeiht. Eine Erzählung dieser Art wird man als einen der Gründungsmythen der Europäischen Union bezeichnen dürfen. Es sticht in der Tat ins Auge, wie weitverbreitet in ganz Europa die Auffassung ist, Religion sei »intolerant« und »schüre Konflikte«. Beide Ansichten teilt eine Mehrheit der Bevölkerung in praktisch jedem Land Europas, wenn man dem International Social Survey Programme von 1998 folgt. Dies war also schon vor dem 11. September 2001 und vor jedem anderen größeren Terroranschlag von Muslimen in Europa der Fall. Besonders erstaunlich ist die Vorstellung, ein Abstraktum namens »Religion« bilde die Hauptursache für gewalttätige Konflikte, wenn man die tatsächliche historische Erfahrung der meisten europäischen Gesellschaften in der jüngeren Vergangenheit bedenkt. Die gewaltsamen Konflikte und Massaker in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren ja viel eher das Produkt moderner säkularer Ideologien als eine Folge von religiösem Fanatismus und Intoleranz. Die heutigen Europäer aber scheinen die unbequemeren Erinnerungen an die säkularen ideologischen und nationalistischen Konflikte der jüngeren Vergangenheit lieber gezielt vergessen zu wollen. Stattdessen holen sie die längst vergessene Erfahrung der Religionskriege im Europa der Frühen Neuzeit wieder hervor, um sich einen Reim auf die religiösen Konflikte zu machen, die rund um die Welt um sich greifen und von denen sie sich zunehmend selbst bedroht sehen. Ich nenne die besagte Erzählung einen »Mythos«, weil sie eine ziemlich unzutreffende Beschreibung der historischen Entwicklungen in Europa darstellt und nicht einmal die »real existierenden Demokratien« von heute angemessen charakterisiert. Die europäischen Religionskriege der Frühen Neuzeit mündeten nicht, zumindest nicht unmittelbar, in den säkularen, sondern in den konfessionellen Staat. Der zuerst mit dem Augsburger Religionsfrieden eingeführte Grundsatz Cuius regio, eius religio begründet nicht den modernen säkularen demokratischen Staat, sondern den modernen konfessionellen absolutistischen Staat. Nirgendwo in Europa führten religiöse Konflikte zu einer Säkularisierung. Sie führten vielmehr zur Konfessionalisierung des Staates und zur Territorialisierung von Religionen und Völkern. Die Folge waren ein homogen protestantisches Nordeuropa, ein homogen katholisches Südeuropa sowie drei bikonfessionelle Staaten dazwischen, nämlich Holland, Deutschland und die Schweiz, die über ihre eigenen konfessionellen Trennungen in »Säulen« (zuilen), Länder beziehungsweise Kantone verfügten. Dieses frühneuzeitliche doppelte Muster von Konfessionalisierung und Territorialisierung war im Übrigen bereits vor der Reformation durch die Errichtung des spanischen katholischen Staats unter den katholischen Königen im späten 15. Jahrhundert etabliert worden. Die Vertreibung der spanischen Juden und Muslime war die logische Konsequenz einer solchen Dynamik der Staatsbildung. Sie beendete eine lange Periode der convivencia zwischen Christen, Muslimen und Juden im mittelalterlichen Spanien sowohl in christlichen als auch in muslimischen Königreichen. Ethnisch-religiöse Säuberungen stehen insofern unmittelbar am Beginn des frühneuzeitlichen europäischen Staates. In diesem Licht könnte man die sogenannten »Religionskriege« treffender als Kriege der frühmodernen europäischen Staatenbildung bezeichnen. Religiösen Minderheiten, die sich auf dem falschen konfessionellen Territorium wiederfanden, wurde nicht säkulare Tolerierung, geschweige denn Religionsfreiheit gewährt, sondern das »Recht« auszuwandern. Dies war die Zeit, in der religiöse Minderheiten und Juden aus ganz Europa vorübergehend Zuflucht in der Polnisch-Litauischen Union suchten, in jenen Gebieten, die später zum »Ansiedlungsrayon« werden sollten, bevor sie eine sicherere Heimat in den religiös pluralistischeren Gesellschaften Nord- und Südamerikas fanden. Was die Religionskriege nahezu unausweichlich machte, war nicht so sehr die Intoleranz, die angeblich »der Religion« innewohnt. Es war vielmehr die seit der Konstantinischen Wende überlieferte eingefleischte Überzeugung, dass es in ein und demselben Territorium unmöglich mehr als eine christliche Kirche geben konnte. Selbst die Christen, die sich ehrlich um Frieden und Eintracht zwischen den kriegführenden Gemeinschaften bemühten, konnten sich die Möglichkeit eines solchen religiösen Pluralismus nicht vorstellen. Nur die Glaubensgemeinschaften, die sich dem kirchlichen Modell einer konfessionellen Staatskirche verweigerten, wiesen auch das politische Modell der absolutistischen staatlichen Kontrolle der Religion zurück, das in der Formel Cuius regio, eius religio steckt. Sie wiederum mussten Europa verlassen. Der in ganz Kontinentaleuropa umgesetzte Westfälische Frieden löste das Problem des religiösen Konflikts durch die Beseitigung des religiösen Pluralismus, indem er eine religiöse Homogenisierung erzwang. Die Säkularisierung und Demokratisierung des Staates erfolgte erst viel später. Doch fällt auf, dass der Übergang der Souveränität vom Monarchen auf die Nation oder das Volk nirgendwo in Europa von der Herausbildung eines religiösen Pluralismus begleitet war. Vielmehr wurde das Modell der religiösen Einförmigkeit auf die moderne säkulare Nation übertragen. Der moderne europäische Nationalismus gründet in derselben Logik uniformer Homogenisierung, als sei die vorgestellte Gemeinschaft der Nation eine säkulare Übersetzung der vorgestellten Gemeinschaft der nationalen christlichen Kirche. Es verwundert daher nicht, dass die jüdische Frage in ganz Kontinentaleuropa mit jeder Transformation der Souveränität und jeder modernen nationalistischen Mobilisierung von Neuem auf die Tagesordnung kam. Wir kennen die napoleonische Formel für die Emanzipation der Juden nach der berühmten Losung Clermont-Tonnerres: »Den Juden als Nation ist alles zu verweigern, den Juden als Menschen aber ist alles zu gewähren.« Aus der Perspektive der Bewahrung einer gewissen Form von jüdischer ethnischer Gemeinschaft war dieses französische säkulare Nationalmodell einer individuellen egalitären Assimilation zweifellos problematisch. Es war aber wohlmeinender als die antisemitischen Formeln des ethnischen Nationalismus, die die bloße Möglichkeit einer jüdischen Assimilation an die nationale Gemeinschaft verwarfen, ob auf individueller Ebene oder als Gemeinschaft. Am tragischsten zeigte sich dies nicht nur in Deutschland, sondern auch in den »Bloodlands« der früheren Polnisch-Litauischen Union. Wohl waren diese Regionen den konfessionellen Religionskriegen der Frühen Neuzeit entgangen. Nun aber hatten sie die brutalsten Formen ethnisch-religiöser Säuberungen zu erleiden, als die Konfessionalisierung sie in den 1930er und 1940er Jahren in Form moderner nationalistischer Konflikte zwischen Polen, Ukrainern, Litauern und Weißrussen erreichte. Einmal mehr gerieten die Juden zwischen die Mühlsteine. In Westeuropa kam die Frage der Transformation postnationaler europäischer Demokratien unter den Bedingungen eines neuen religiösen Pluralismus wieder auf die Tagesordnung, als dort »Gastarbeiter« aus Südeuropa, der Türkei und Nordafrika eintrafen. Wir Europäer müssen aus unserer bisherigen Unfähigkeit, religiös pluralistischen Gesellschaften Rechnung zu tragen, die richtigen Lehren ziehen. Die Lösung kann nicht mehr auf dem westfälischen Modell eines homogenen religiösen oder säkularen Nationalstaats beruhen. Sie wird auf irgendeiner Form von postnationalem und postsäkularem demokratischem Staat aufbauen müssen, der allen Bürgern, säkularen wie religiösen, die gleichen Rechte und Freiheiten einräumt. Sie wird ein Modell für heterogene und pluralistische Gesellschaften beinhalten müssen, in denen sich alle religiösen Gemeinschaften, ob christlich, jüdisch, muslimisch oder andersgläubig, frei und gleichberechtigt zur Geltung bringen können. Mit diesen Überlegungen wollte ich beides ehren. Zum einen die mutige politische Führung der heutigen Preisträgerin, Bundeskanzlerin Angela Merkel, in dieser für Europa so entscheidenden Frage. Und zum anderen das Andenken Rabbi Abraham Geigers, der so viel dazu beigetragen hat, dass wir unsere Augen für die gemeinsamen Wurzeln der drei europäischen Religionen öffnen, des Christentums, des Judentums und des Islams. Hoffen und beten wir, dass die drei Glaubensgemeinschaften der Christen, Juden und Muslime lernen werden, eng zusammenzuarbeiten, um ein gemeinsames und solidarisches europäisches Haus zu bauen, eines, das als Modell für den Rest der Welt dienen könnte. Aus dem Englischen von Michael Adrian
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