DFR - BGE 13 I 1 - servat.unibe.ch

A.
STAATSRECHTLICHE ENTSCHEIDUNGEN
DES CONTESTATIONS DE DROIT PUBLIC
Erster Abschnitt. — Première section.
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B undesverfassung. — C onstitution fédérale.
I Gleichheit vor dem. Gesetze.
E galité devant la loi.
1. U r t h e i l v o m 2 9 . J a n u a r 1 8 8 7 in S a c h e n K e m p in .
A. A uf 24. N ovem ber 1886 w ar vor dem Bezirksgericht
Z ürich (II. S ektion) T ag fah rt zur V erhandlung in einer F o r­
derungsstreitsache des W alther K em pin, zur Z eit in Remscheid
(R h einp reuß en), K läg ers und W iderbeklagten, gegen F ra u
Schw eizer-K örner in Z ürich, B eklagte und W iderklägerin, an ­
gesetzt. F ü r den K läger und W iederbeklagten erschien dessen E he­
fra u E m ilie geb. S p y r i und beantragte zunächst, sie sei a ls
V ertreterin, eventuell a ls C esfionarin ihres E hem annes zum
V ortrage über die S ache selbst zuzulassen. D e r A n w alt der
B eklagten und W iderklägerin opponirte diesem A nträge und
d as Bezirksgericht erkannte, gestützt auf § 174 des zürcherischen
Gesetzes über die Rechtspflege, wonach zur V ertretung D ritte r in
Civilsachen der Besitz des Aktivbürgerrechtes erforderlich sei, der
F ra u Kem pin werde die V ertretung ihres M a n n e s nicht gestattet.
B, Gegen diesen Beschluß beschwert sich F ra u E m ilie Kem pin
geb. S p h ri im W ege des staatsrechtlichen Rekurses beim B u n xiii — 1887
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A. Staatsrechtliche Entscheidungen. I. Abschnitt. Bundesverfassung.
desgeriche. S ie führt im wesentlichen a n s : V on G eb urt und
durch Verehelichung Z ürcherbürgerin, habe sie nach bestandenem
M atu ritätsex am en m it E inw illigu ng und in vollem E inverständniß ihres M a n n e s seit dem Som m ersem ester 1 8 8 4 an der
Zürcher U niversität juristischen S tu d ie n obgelegen und gedenke,
nach erlangtem A u sw eis über dieselben, sich der A dvokatur zu
widmen. I h r e Beschwerde gegen den angefochtenen Beschluß
stütze sich in erster L inie au f A rt. 4 der B undesverfassung, wo­
nach es in der Schw eiz keine Vorrechte des O rte s, der G eburt,
der F am ilie oder Personen gebe. G egen diesen Grundsatz ver­
stoße das Bezirksgericht Z ürich, w enn es dem weiblichen S chw ei­
zerbürger den Besitz des Aktivbürgerrechtes abspreche, au s dem
einzigen G runde, w eil dieser Schw eizerbürger weiblichen G e­
schlechtes sei. D ie B undesverfassung mache in konsequenter
D urchführung des in A rt- 4 aufgestellten P rin z ip s keinen U nter­
schied zwischen m ännlichen und weiblichen S ta a tsb ü rg e rn . D ie
Grundsätze und G ew ährleistungen der A rt. 3 1 , 43, 45, 56, 59 der
B undesverfassung beziehen sich zweifellos in gleicher Weise au f
M a n n und F ra u . Nicht einm al A rt. 18 mache eine A usnahm e von
der verfassungsm äßigen Gleichstellung sämmtlicher S ta a ts a n g e ­
hörigen; es sei gar nicht gesagt, daß der in diesem A rtikel
medergelegte G rundsatz „Je d e r Schw eizer ist wehrpflichtig",
nicht auch au f die F ra u e n in der A rt angew endet w erden
könnte, daß ein T h eil des weiblichen Geschlechtes zum S a n itä ts ­
dienste herangezogen und der übrige der M ilitärpflichtersatzsteuer
unterw orfen würde. E in verfassungsm äßiges H inderniß stünde
dem nicht entgegen. E S dürfe also a u s A rt. 18 der B u n d e s­
Verfassung nicht gefolgert werden, daß die B undesverfassung zum
T h e il au f beide Geschlechter, zum T heil dagegen n u r auf M an n er anw endbar sei. I m Fernern verstoße der bezirksgerichtliche
Beschluß gegen die in E rm an gelu ng eines Ausführungsgesetzes zu
A rt. 66 der B undesverfassung anw endbaren B estim m ungen der A rt.
1 6 u n d l 8 der zürcherischen K antonsverfassung. Keine V erfassungs­
oder Gesetzesbestimmung definire, w a s u nter „M tivbürgerrecht"
zu verstehen sei. A rg. e c o n tra rio sei aber a u s A rt. 16 und 18
der K antonsverfassung zu folgern, daß jede zw anzigjährige, voll­
kommen handlungsfähige P erson im Besitze des A ktivbürger.
I, Gleichheit vor dem Gesetze, N° i.
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rechtes fei, so lange sie in demselben nicht (wegen Verbrechen
oder Vergehen, in Folge K onlurses oder wegen dauernder A lmosengenössigkeit) eingestellt werde. E inen Unterschied zwischen
Personen m ännlichen und weiblichen Geschlechtes machen auch
A rt. 16 und 18 der K antonsversassung nicht. W enn die F ra u e n
bisher im K anton Zürich d as S tim m recht nicht beansprucht
haben, so sei dasselbe ihnen dadurch nicht verloren gegangen.
Auch vorausgesetzt übrigens, die F rau e n w ären nicht säm m tlicher politischer Rechte theilhaft, so sei d am it noch nicht gesagt,
daß sie d as Aktivbürgerrecht nicht besitzen. D a s Stim m recht sei,
(w ie sich z. B . au s A rt. 74 B .-V . ergebe) keine Voraussetzung
des Aktivbürgerrechtes, sondern umgekehrt d as A ktivbürgerrecht
eine Bedingung für die Existenz des S tim m rechts. A ktivbürger­
recht sei gleichbedeutend m it bürgerlicher Ehrenfähigkeit. Diese
stehe auch solchen zu, welche ein S tim m recht nicht besitzen. W enn
d as Bezirksgericht ausführe, daß jedenfalls der R ekurrentin a ls
E h efrau d a s Aktivbürgerrecht nicht zustehe, w eil sie unter ehe­
m ännlicher Vormundschaft stehe, so sei auch dies unrichtig. D ie
V orm undschaft des E hem annes erstrecke sich n u r auf das V e r­
mögen, nicht au f die P erson der E hefrau. S o b a ld letztere durch
selbständige A usübung eines B eru fes oder G ew erbes fü r alle
ih re H andlungen selbst verantw ortlich werde, so falle auch die
V orm undschaft des E hem annes weg. D a s Bezirksgericht be­
haupte ferner, es sei ganz irrelev ant, ob der E hem ann der Recu rrentin dieselbe zu F ührung des Advokaturberuses habe er­
mächtigen wollen oder nicht, da die A dvokatur kein H a n d e ls­
geschäft sei. D ie s sei aber offenbar unrichtig, da 8 7 des B u n ­
desgesetzes betreffend die H andlungsfähigkeit und A rt. 3 5 O b lig a ­
tionenrecht (u n d zw ar m it vollem B ew ußtsein) nicht n u r vom B e ­
triebe eines „H andelsgew erbes" sprechen. S e it dem In k ra fttre te n
dieser Gesetze könne daher eine E hefrau durch ihren E hem ann auch
zu B etreibung eines B eru fes (w ie die A dvokatur) ausdrücklich
oder stillschweigend ermächtigt w erden. E S seien demnach auch
die der R ekurrentin durch die citirten Bundesgesetze gewährleisteten
Rechte verletzt. D ie R ekurrentin ersuche daher d as Bundesgericht,
den bezirksgerichtlichen Beschluß vom 2 4 . Novem ber zu kasstren
a) durch Anerkennung ihres Aktivbürgerrechts, b ) durch A ner-
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A. Staatsrechtliche Entscheidungen. I. Abschnitt. Bundesverfassung.
kennung ihrer H andlungsfähigkeit m it dem M om ente der selb­
ständigen A usübung eines B erufes.
G. D a s Bezirksgericht Z ürich erklärt, daß der Rekurs ihm zu
keinen Gegenbem erkungen V eranlassung gebe.
D a s B undesgericht zieht i n E r w ä g u n g :
1. W eder d as Bundesgesetz betreffend die persönliche H an d ­
lungsfähigkeit noch das O bligationenrecht enthalten irgendwelche
B estim m ungen darüber, wer zur V ertretung D ritte r vor Gericht
befähigt sei. D ie sachbezüglichen N orm en gehören nicht dem
P riv a t-, sondern dem öffentlichen Rechte a n und fallen daher
nicht in den Bereich der erw ähnten privatrechtlichen B u nd es­
gesetze (vergleiche Entscheidungen deS B undesgerichtes, Amtliche
S a m m lu n g V ili. S . 7 5 0 , E rw . 4 ). V orbehältlich der bundes­
gesetzlichen B estim m ungen über die V ertretung der P a rte ie n vor
eidgenössischen G erichtsinstanzen und innerhalb der durch die B u n ­
desverfassung gezogenen Schranken (vergleiche insbesondere A rt.
3 3 der B undesverfassung und A rt. 5 der U ebergangsbestim m ungen
zu derselben) steht die Ausstellung von Vorschriften über die Berech­
tigung zur P arteiv ertretu n g vor Gericht, beziehungsweise über
die A usübung der Advokatur den K antonen zu, da diese M aterie
eben dem, bekanntlich im wesentlichen kantonaler R egelung über­
lassenen, G erichtsverfaffungS- und Prozeßrechte angehört. V on
einer Verletzung des HandlungSfLhigkeitsgesetzes oder des O b li­
gationenrechts kann demnach von vornherein nicht die Rede sein.
2. E s kann sich daher einzig fragen, ob der angefochtene B e ­
schluß gegen eine B estim m ung der B u nd es- oder der kantonalen
Verfassung verstoße. W enn nun die R ekurrentin zunächst auf
A rt. 4 der B undesverfassung abstellt und a u s diesem Artikel
scheint folgern zu wollen, die B undesverfassung postulile die
volle rechtliche Gleichstellung der Geschlechter auf dem Gebiete
des gesam mten öffentlichen und P rivatrechts, so ist diese A uf­
fassung eben so n eu a ls kühn; sie kann aber nicht gebilligt
w erden. E s bedarf in der T h a l keiner w eitern A usführung,
daß m an m it einer solchen Folgerung sich m it allen R egeln
historischer In te rp re ta tio n in W iderspruch setzen würde. A rt. 4
der B undesverfassung darf, wie d a s B undesgericht stets fest­
gehalten h at, nicht in dem, zu geradezu unmöglichen Konse-
I. Gleichheit vor dem Gesetze. N° I .
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quenzen führenden, S in n e aufgesaßt werden, daß derselbe schlecht­
hin jede Verschiedenheit in der rechtlichen B ehandlung einzelner
Personenklasfen verbiete, sondern derselbe schließt n u r solche
rechtliche Verschiedenheiten au s, welche, nach anerkannten G ru n d ­
prinzipien der Rechts- und S ta a tso rd n u n g , a ls innerlich u n ­
begründet, durch keine erhebliche Verschiedenheit der T hatbestände gerechtfertigt erscheinen. N u n erscheint aber nach der
jedenfalls zur Z eit noch zweifellos herrschenden Rechtsanschauung
die verschiedene rechtliche B ehandlung der Geschlechter au f dem
Gebiete des öffentlichen Rechts, speziell in Bezug au f d as Recht
der B ethätigung im öffentlichen Leben, a ls eine der in n ern
B egründung keineswegs entbehrende. A ls im W iderspruche m it
A rt. 4 der B undesverfassung stehend, kann daher eine k anto nal­
gesetzliche N orm , welche die F rau e n von der P arteivertretu ng
vor Gericht ausschließt, jedenfalls nicht erachtet werden.
3.
D ie R ekurrentin führt n u n aber im W eitern au s, d as
Recht der P arteiv e rtre tu n g vor G ericht werde ih r lediglich deßhalb abgesprochen, w eil sie d a s „Aktivbürgerrecht" nicht besitze,
während ih r dasselbe doch nach den B estim m ungen der A rt.
16 und 18 der K antonsverfassung znstehe. W enn in dieser Rich­
tun g d as Bezirksgericht Zürich den B egriff des „A ktivbürger­
rechtes" im S in n e des § 174 des zürcherischen Rechtspflege­
gesetzes dahin auffaßt, daß dieses Recht n u r demjenigen zustehe,
der die politischen Rechte, welche V erfaffung und Gesetz dem
einzelnen B ü rg e r einräum en, insbesondere also d as S tim m ­
recht in staatlichen Angelegenheiten, auszuüben berufen ist, so
kann d arin eine Verfaffungsverletzung nicht erblickt werden, viel­
m ehr handelt es sich dabei lediglich um eine der N achprüfung des
B undesgerichtes entzogene A uslegung eines kantonalen Gesetzes.
D e n n die V erfaffung en th ält ja durchaus keine B estim m ung
darüber, in welchem S in n e das „Aktibürgerrecht" die V o r­
aussetzung zur Berechtigung der P arteiv ertretu n g vor G ericht
bilde. U ebrigens folgt a u s einer Vergleichung der A rt. 16 und
18 der K antonsverfaffung wohl m it Sicherheit, daß letztere V er­
fassungsbestim m ung den Ausdruck „Aktivbürgerrecht" einfach a ls
gleichbedeutend m it „S tim m recht" braucht. W enn sodann das
Bezirksgericht Z ürich ferner au sfü h rt, daß den F rau e n d a s