1/8 Mi 7,18-20 Becker, Michael | Werkstatt für Liturgie

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Mi 7,18-20
Becker, Michael | Werkstatt für Liturgie und Predigt
21.06.2015
3. Sonntag nach Trinitatis | Verzeihen heilt doppelt (Reihe VI)
* Vorbemerkungen
Wie schön, dass diese wenigen Verse vom Marginalen in den Mittelpunkt
rücken und Predigttext werden in der neuen Reihe VI. Michas Schlussworte
fließen gerade zu über vor Gottes Erbarmen.
Dabei kann der Prophet auch anders, nämlich heftige Gerichtsworte
sprechen: „Weh denen…“. Dann meint er die, die Äcker an sich reißen und
mit ihrer Gier den Gotteskult schänden (2,1-2); er geißelt die „führenden
Männer in Juda“ und wirft ihnen vor, das Gute zu hassen und das Böse zu
lieben. Micha tritt im Südreich auf mit der Hauptstadt Jerusalem. Wir wissen
heute, dass sein prophetisches Buch kaum einheitlich sein dürfte, sondern
mehrere Schichten umfasst. Seiner Botschaft tut das keinen Abbruch. Er
streitet tapfer im Namen seines Gottes gegen die anderen Propheten, die
„Gottes Volk verführen“ – zugleich ist ihm eine tiefe Heilsgewissheit eigen,
die in der Ankündigung eines Herrschers gipfelt (5,1), der in Bethlehem
geboren werden wird.
Es gibt viel Unheil in der Welt, weiß Gott. Und es gäbe viel zu sagen
zum Unheil und zu dem, wie Menschen zum Unheil nicht nur beitragen,
sondern es geradezu herausfordern. Mit diesem Text aber nicht. Er erzählt,
mehr noch, er schwärmt von Gottes Erbarmen und steht würdig in der
Reihe der Texte dieses Sonntags, die im Evangelium, im Gleichnis von den
beiden Söhnen gipfeln.
* Zugang zur Predigt
Der größte Liebesdienst, zu dem Menschen fähig sind, ist zu verzeihen. Mit
diesem Satz will ich gleich zu Beginn das Ziel der Predigt nennen. Nach
Gedanken und Geschichten zum Verzeihen werde ich aber unter 5. und 6.
eingestehen, dass Verzeihen schwer ist. Aus alledem erhoffe ich mir ein
wenig Einsicht, dass Verzeihen mehr Leben ermöglicht als Vergelten.
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* Predigt zu Micha 7,18-20
Verzeihen heilt doppelt
(Lesung des biblischen
Textes am Ende von 2.)
1.
Der größte Liebesdienst, zu dem Menschen fähig sind, ist zu verzeihen.
Vielleicht ist es ja so, liebe Gemeinde. Vielleicht liegt ein großer Teil unserer
Würde darin, dass wir verzeihen können. Und das nicht, weil Menschen
gerne verzeihen, sondern weil sie von Jesus hören, dass Verzeihen mehr
Leben stiftet als Aufrechnen und Vergelten.
Mit Recht erfreuen sich Menschen am Gleichnis von den zwei Söhnen
(Evangelium Lukas 15,1-3.11b-32). Der eine packt seine Sachen, bringt sein
Geld durch und kommt zerknirscht nach Hause. Der Vater verurteilt ihn
nicht. Der andere Sohn fühlt sich benachteiligt vom Fest, das der Vater zu
Ehren des Heimgekehrten gibt. Seine Gefühle verstehe ich. Der Vater auch.
Er bittet ihn, nicht zu verstört zu sein. Ich bin doch i m m e r bei Dir, sagt
er dem anderen Sohn; Du bist doch i m m e r in meinen Armen. Lass uns
heute mal den feiern, der wiedergekommen ist. Ich hoffe, der Sohn versteht
das, auch wenn es ihm schwer fällt.
Verzeihen geht einem nicht einfach so von der Hand. Man muss es
einsehen und lernen und üben.
2.
Vom Verzeihen erzählt der Prophet Micha etwa 700 Jahre vor Jesus. Micha
hat böse Worte gefunden, Unheilsworte gegen die Ausbeuter und
Mächtigen seiner Zeit. Gott lässt sich Unrecht nicht gefallen, sagt Micha.
Niemandem ist es erlaubt, andere zu betrügen. Keine Aussicht auf ein noch
so gutes Geschäft rechtfertigt einen Betrug.
Wir wissen nicht, ob die prophetischen Worte etwas bewirkt haben.
Wir wissen ja auch nicht, ob Gott die straft, die er zuvor ermahnt hat. Auch
wenn wir viel darüber nachdenken, weiß weder der Prophet noch die große
Riege der Theologen aller Konfessionen, ob Gott seine Drohungen auch
wahr macht. Etwas anderes aber wissen wir, was der Prophet Mich am Ende
seines kleinen Buches uns Menschen sagt:
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Wo ist solch ein Gott, wie du bist, der die Sünde vergibt und erlässt
die Schuld denen, die übrig geblieben sind von seinem Erbteil; der
an seinem Zorn nicht ewig festhält, denn er ist barmherzig! Er wird
sich unser wieder erbarmen, unsere Schuld unter die Füße treten und alle
unsere Sünden in die Tiefen des Meeres werfen. Du wirst Jakob die Treue
halten und Abraham Gnade erweisen, wie du unsern Vätern vorzeiten
geschworen hast.
Micha schwärmt geradezu von Gott und preist seine einzigartige Qualität
des Verzeihens. Verzeihen hat etwas Göttliches. Das erkennen sogar
Menschen, die sonst wenig mit Gott im Sinn haben.
3.
Ein Philosoph zum Beispiel, der sein Leben lang an Gott zweifelt. Und, wie
alle aufrichtigen Zweifler, auch Grund dazu hat. Der Rumäne Emil Cioran
hat beide Weltkriege erlebt, den einen als Kind, den anderen als Soldat. Er
verlässt seine Heimat, als diese sich Hitler anschließt, und wird ein Bürger
Frankreichs, später Philosoph und, wie er selbst sagt, ein
„Privatnachdenker“. In einem seiner Bücher, die oft nur aus vielen kleinen
Abschnitten bestehen, schreibt er:
Man muß verzeihen aus dem einfachen Grund, weil es schwierig und fast
unmöglich ist. … Jedesmal, wenn man Lust verspürt, sich zu rächen, sollte
man daran denken, … daß es banal ist, denn es gelingt jedem.
Würde liegt allein in der Seltenheit des Vergebens.
Demnach hat der Vater Würde, der seinen Sohn, trotz allem, wieder
Zuhause aufnimmt. Jesus hat Würde, weil der dem Petrus noch die
schlimmste denkbare Schuld verzeiht. Und alle die haben Würde, die das
Rechnen und Rächen beenden und einen neuen Anfang wagen, möglichst
unbelastet.
Vergeben hat mehr Aussicht auf Sinn als Vergelten.
4.
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Ich habe das bei einem goldenen Rahmen gelernt. Es war kein Bild im
Rahmen, sondern ein Spruch. Ich frage den Mann, den ich besuche, nach
dem Rahmen an der Wand. Er liest mir den Spruch vor: Das Wertvollste am
Menschen ist seine Fähigkeit zu verzeihen. Das hat mir das Leben gerettet,
sagt er. Und erzählt, wie er vor Jahren etwas gestohlen hat. Seinem
Nachbarn. Einen Moment war er allein in dessen Stube und sieht den
Umschlag mit Geld, viel Geld, halb unter der Zeitung. Er überlegt kurz,
steckt das Geld ein und macht sich davon. Sein Herz klopft. Es passiert aber
nichts. Tagelang, jahrelang. Das Geld ist bald weg, die Schuld bleibt auf der
Seele.
Viel später hat der Mann eigenes Geld. Der Tag kommt, an dem seine
Seele es nicht mehr erträgt. Er steckt Geld plus Zinsen in einen Umschlag
und schickt es dem Nachbarn. Nur einen Satz schreibt er mit der Maschine
dazu: Ich bitte um Verzeihung. Lange geschieht nichts. Eines Tages aber
kriegt er Antwort. Vom ehemaligen Nachbarn. Der hatte es geahnt und
schreibt mit der Hand: Danke; wenn Sie es damals gebraucht haben,
verzeihe ich Ihnen.
Das hat mir das Leben gerettet, sagt der Mann wieder und meint
seine Seele. Sofort hat er damals seine Maschine genommen und
aufgeschrieben: Das Wertvollste am Menschen ist seine Fähigkeit zu
verzeihen. Dann hat er einen goldenen Rahmen gekauft und den Spruch
gerahmt. Sichtbar für alle, fühlbar für sich. Das Schuldgefühl war schlimm.
Schlimmer als jede Wunde am Körper. Dann gibt’s nur eins: Um Verzeihung
bitten und hoffen, dass man es bekommt. Oder verzeihen, wenn jemand
darum bittet. Gott will nicht, dass wir Schuld aufrechnen wie Krämerseelen,
sagt der Mann. Er will uns großherzig. Wer verzeiht, heilt doppelt: den
anderen und sich selbst.
5.
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Zum Schluss, liebe Gemeinde, muss noch ein Moment größtmöglicher
Aufrichtigkeit stehen: Verzeihen ist schwer. Rache ist süß, sagt man ja. Für
viele ist es eine Genugtuung, erlittenes Unrecht heimzuzahlen. Das dürfen
wir nicht verschweigen. Manche Mütter und Väter sind so zornig über ihr
Kind, das eigene Wege geht, dass sie Haustür und Arme lange nicht öffnen
können oder wollen. Erwachsene können oder wollen ihren alten Eltern
Fehler von früher nicht verzeihen. Noch übers Grab hinaus bleiben sie
verbittert oder setzen den Streit in Erbschaftsfragen fort.
Familienangehörige haben untereinander jahre- oder jahrzehntelang keinen
Kontakt. Es wird kein Wort gesprochen, kein Grab besucht, kein einziges
Fest gefeiert – es ist ein Jammer. Unendliche viele Kräfte werden
verbraucht, alles immer neu aufzurechnen - und was kommt dabei heraus?
Ja, das ist die Frage: Was kommt dabei heraus, wenn jahre- oder
jahrzehntelang gestritten, aufgerechnet und vergolten wird? Wird dann
alles gut? Vielleicht.
6.
Vielleicht aber auch nicht. Und wenn wir ganz ehrlich sind, wird es selten
gut. Es geht einfach immer weiter mit dem „Wie du mir, so ich dir!“ Wer das
nicht will, wer das leid ist, wer der ständigen Aufrechnerei überdrüssig ist –
alle die sollten sich sagen: Schluss jetzt. Und wenn ich auch nicht verzeihen
kann, will ich doch aufhören mit dem Verrechnen. Wir wissen ja nicht, ob
der Vater im Gleichnis Jesu seinem Sohn wirklich verziehen hat. Vielleicht
war sein Schmerz über den Sohn, der sich mit dem Geld auf und davon
machte, noch lange groß. Etwas anderes aber hat der Vater getan, was
neues Leben möglich machte. Er hat es dem Sohn nicht mehr vorgehalten;
er sieht darüber hinweg.
Wir werden nicht unschuldig, weil Gott uns verzeiht. Gott rechnet es
nur nicht mehr vor. Manchmal sieht er über Fehler hinweg. Und hofft, dass
ich mich erkenne; dass ich einsehe, Fehler vermeide, Schuld nicht wegrede
und anderen, möglichst, vergebe. Der größte Liebesdienst, zu dem
Menschen fähig sind, ist zu verzeihen. Vielleicht ist es ja so. Und wenn es so
ist, liebe Gemeinde, wenn Verzeihen dem Leben hilft und ich Verzeihen von
Gott lernen kann, will ich dankbar sagen: Wo ist solch ein Gott, wie du bist,
der Sünde vergibt und Schuld erlässt?
Amen.
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Michael Becker
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