Jihad und Märtyrertod als Liebesbande

6 International
Tages-Anzeiger – Freitag, 11. Dezember 2015
Jihad und
Märtyrertod als
Liebesbande
Die Täter von San Bernardino haben sich unabhängig
voneinander radikalisiert. Ein Mitwisser ist in Haft.
Sacha Batthyany
Washington
Sie hatten beide ähnliche Ansichten und
begannen, sich im Internet auszutauschen: Syed Rizwan Farook und Tashfeen Malik, ein Mann aus einer unbedeutenden Kleinstadt Kaliforniens und eine
Frau aus Saudiarabien, hat der Hass auf
den Westen zusammengeführt. Gemeinsam haben sie Mitte vergangener Woche
den blutigsten Terrorakt in den USA verübt seit dem Anschlag auf die Zwillings­
türme in New York.
Farook und Malik, die in einem Konferenzraum einer sozialen Organisation
14 Menschen erschossen, hatten sich bereits im Jahr 2013 über «Jihad und Märtyrertod» ausgetauscht, sagte FBI-Direktor James Comey, «also vor dem Aufstieg
des Islamischen Staates zu einer internationalen Terrororganisation». Diese
neuen Erkenntnisse würden darauf hinweisen, dass beide radikalisiert waren
und mit islamistischen Terrorgruppen
sympathisierten, «bevor sie sich kennen
gelernt hatten», so Comey.
Visum für Verlobte
Noch ist nicht restlos geklärt, wie die beiden letztlich zueinander fanden und ob
jemand vermittelt hat. «Ich suche eine
Frau, die die Religion sehr ernst nimmt»,
schrieb Farook anscheinend in seinem
Profil auf einer von Muslimen frequentierten Partnerbörse. «Wenn sich herausstellen sollte, dass das Paar von einer terroristischen Gruppe verkuppelt wurde
und Unterstützung erhielt, verändert
das noch einmal alles. Noch aber deutet
nichts drauf hin», so Comey.
Tashfeen Malik ist 2014 mit einem
­K-1-Visum für Verlobte in die USA eingereist. Nachdem nun bekannt wurde, dass
sie schon als radikalisiert galt, bevor sie
in die USA einreiste und im Internet entsprechende Spuren hinterliess, wurde
Kritik an der amerikanischen Einreisebehörde laut. «Die Abklärung, ob jemand
ein solches Visum erhält, sind eigentlich
sehr strikt und dauern bis zu acht Monate», sagte Paul Herzog, ein auf Immigration spezialisierter Anwalt, «doch offenbar wurde da etwas übersehen.» Das
Visum wurde Malik von der amerikanischen Botschaft in Islamabad ausgestellt.
Malik lebte vor ihrer Ausreise in die USA
bei ihrer Mutter in Multan, der sechstgrössten Stadt Pakistans, und studierte
Pharmakologie. Kontakte zu militanten,
islamistischen Kreisen sind nicht bekannt.
Dafür mehren sich die Hinweise, dass
ihr späterer Mann, Syed Rizwan Farook,
schon im Jahr 2012 einen Anschlag geplant hatte. Das soll Farooks Kindheitsfreund und ehemaliger Nachbar Enrique
Marquez der Polizei mitgeteilt haben.
Marquez wusste von der Radikalisierung
Farooks, er war es auch, der zwei der
vier Sturmgewehre kaufte, mit denen
das Paar den Anschlag verübte. Die Polizei geht auch der Spur eines OnlineBankkredits von 28 500 Dollar auf einem
Konto des Attentäters Syed Farook nach.
Marquez, ein konvertierter Muslim,
arbeitet beim Einzelhandelskonzern
Walmart. Die Bindung zur Familie
Farooks ist seit Jahren sehr eng: Die
Schwester seiner Frau ist verheiratet mit
Syed Raheel Farook, dem Bruder des Täters. Laut den Behörden soll Marquez,
der sich seit dem Attentat in psychischer
Behandlung befindet, von den Plänen
des «Terrorpaars», wie es in der amerikanischen Presse genannt wird, nichts
gewusst haben.
Der Terroranschlag im kalifornischen
San Bernardino hat die Diskussion um
die Sicherheit in Amerika und die Überwachung der Grenzen neu entfacht.
Nachdem erst das Visa-Waiver-Programm verschärft wurde, mit dem auch
Touristen und Geschäftsleute aus der
Schweiz in die USA gelangen, hat die
kleine Kammer des Kongresses nun
einen Gesetzesentwurf verabschiedet,
der Reisende, die zuvor in Syrien, im
Irak, im Iran oder im Sudan waren, eine
Visumspflicht auferlegt.
Präsidentschaftsanwärter Donald
Trump geht das bekanntlich alles nicht
weit genug. Er forderte ein generelles
Einreiseverbot für alle Muslime, «so
lange, bis wir verstehen, was hier eigentlich vor sich geht». Trumps Äusserungen
wurden von Politikern beider Lager
zwar stark kritisiert, sie seien rassistisch
und zutiefst antiamerikanisch; auf seine
Popularität hatten sie aber noch keinen
Einfluss. Er ist in allen Umfragen an der
Spitze geblieben.
In die Trauer mischt sich auch Hass auf Muslime: Improvisierte Gedenkstätte in San Bernardino. Foto: Brian Vander Brug (Getty Images)
Muslime in den USA
Schweinsköpfe und ein durchlöcherter Koran
In Amerika schwelt
die ­Islamophobie. Täglich
kommt es zu Übergriffen.
Der Ladenbesitzer Sarker Haque aus
dem New Yorker Stadtteil Queens wurde
am vergangenen Wochenende am helllichten Tag verprügelt; sein Angreifer
schlug ihm ins Auge und soll zu ihm gesagt haben: «Ich töte Muslime.» Kein Tag
vergeht ohne ähnliche Berichte. Mal sind
es Schweineköpfe vor Moscheen, mal
hasserfüllte Graffiti, mal eine mit Kugeln
durchlöcherte Ausgabe des Queens wie
in Anaheim, Kalifornien. Ein muslimischer Taxifahrer in Pittsburgh wurde mit
der Pistole bedroht, und im texanischen
Irving hat eine Gruppe schwer bewaffneter Menschen vor einer Moschee demonstriert und später die Namen der
Kein doppelter Heilsweg für Juden und Christen
Der Schweizer Kardinal
Kurt Koch hält in einem
Lehrschreiben daran fest,
dass sich Christi Heilswerk
auch auf die Juden bezieht.
Michael Meier
Kurt Koch war noch Bischof von Basel,
als es zum Disput mit dem Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund
kam – über judenfeindliche Aktionen
des ­damaligen Papstes. 2009 hatte Benedikt XVI. die Exkommunikation der
traditionalistischen Pius-Bischöfe aufgehoben, auch jene von Holocaust-Leugner ­Richard Williamson. Auf deren Bitte
hin hatte der Papst ein Jahr zuvor die
Karfreitagsfürbitte wieder eingeführt.
Darin beten Christen dafür, dass die Juden ­Jesus Christus als Retter aller Menschen anerkennen. An einem Podium in
Basel verteidigte Bischof Koch den
Papst. Gemäss Lehre der Kirche werde
in der Endzeit Christus als Retter Israels
und der Juden auftreten. Einen doppelten Heilsweg für Juden und Christen
gebe es nicht. Jüdische Vertreter verwahrten sich gegen diese «endzeitliche
Vereinnahmung der Juden» durch den
Messias; so könne es keinen Dialog geben. Das gestern von Kardinal Koch im
Vati­kan veröffentlichte Dokument über
die katholisch-jüdischen Beziehungen
liest sich wie die Verarbeitung jenes
Streites. Den Zwist um die Karfreitagsfürbitte erwähnt er im 17-seitigen Papier
der Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum allerdings nicht.
Vielmehr listet er nur die konstruktiven
Schritte der Päpste von Johannes XXIII.
bis Franziskus auf: ihre Besuche in Synagogen und im Heiligen Land, ihre Lehrschreiben und das Engagement gegen
Antisemitismus.
In der Frage, wie die Gestalt Jesu zu
beurteilen ist, sieht das Dokument den
«Fundamentalunterschied zwischen Judentum und Christentum». Juden sähen
in Jesus einen jüdischen Lehrer, der die
Ankündigung des Gottesreiches predigte. «Dass aber dieses Reich Gottes mit
ihm selbst als Stellvertreter Gottes an­
gebrochen ist, das steht ausserhalb des
jüdischen Erwartungshorizontes.»
Ein «abgrundtiefes» Geheimnis
Da Christi Heilswerk universal sei, beziehe es sich auf alle Menschen. «Daher
gibt es keine zwei Heilswege nach dem
Motto: Juden halten die Tora, Christen
halten sich an Christus.» Dass die Kirche
der endgültige und unüberbietbare Ort
des Heilshandelns Gottes sei, bedeute
­jedoch nicht, dass Gott Israel als Volk
Gottes verworfen und seinen Bund mit
ihm gekündigt habe.
Zu diesem Schluss war vor 50 Jahren
das Zweite Vatikanische Konzil im Dokument «Nostra aetate» gekommen, das
eine Wende im Verhältnis der Kirche
zum Judentum bedeutet. Darin bekennt sich die Kirche zu den jüdischen Wurzeln des
Christentums. Juden und Christen
sind gleichsam GeKurt Koch.
schwister, die Juden «die älteren Brüder im Glauben».
Das neue Dokument bedauert den langen Prozess der Entfremdung von Kirche und Synagoge. Christen hätten die
Juden als von Gott verdammt dargestellt, weil sie in Jesus nicht den Messias
und Heilsbringer sehen konnten.
Jesus Christus bleibt auch in diesem
vatikanischen Lehrpapier der neuralgische Punkt im jüdisch-katholischen
Dialog. Was sich in einer gewissen Ambivalenz niederschlägt: Zwar lehnt es
die institutionelle Judenmission aus
Prinzip ab. Ruft zugleich aber die Christen auf, «auch Juden gegenüber Zeugnis
von ihrem Glauben an Jesus Christus
abzu­legen». In Anbetracht der grossen
Tragik der Schoah müsse das in einer
«demütigen und sensiblen Weise» geschehen. Auch steht für Kardinal Koch
ausser Frage, dass die J­uden Anteil an
Gottes Heil haben. Wie das ohne explizites Christusbekenntnis möglich sei,
bleibe aber «ein abgrund­tiefes Geheimnis Gottes».
Muslime in der Gegend im Internet veröffentlicht. Gemäss «Huffington Post»
kam es seit den Anschlägen in Paris am
13. November zu 52 Angriffen mit islamophobischem Hintergrund. Viele Mitarbeiter muslimischer Einrichtungen im
ganzen Land berichten von erhöhten
Spannungen, von Beleidigungen am Telefon und hasserfüllten E-Mails, «insbesondere seit der Terrorattacke in San
Bernardino», sagt Omar Ricci vom Islamischen Zentrum Südkalifornien.
Wie nach 9/11
Offiziell gibt es nur Zahlen aus dem vergangenen Jahr, und die zeigen, dass die
überwiegende Mehrheit der 1092 religiösen «hate crimes» – also Straftaten gegen Menschen aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit – an Juden begangen wurden, nämlich 59 Prozent; 16 Prozent an
Muslimen. Experten gehen allerdings
davon aus, dass sich das Verhältnis in
diesem Jahr verändern wird.
US-Präsident Barack Obama hat sich
am Wochenende in einer Rede an die
Nation um Deeskalation bemüht und betont, dass nur «ein ganz kleiner Teil unserer muslimischen Mitbürger mit extremistischem Gedankengut sympathisiert». Er forderte die muslimische Gemeinschaft jedoch dazu auf, sich dem
Problem radikalisierter Gruppierungen
zu stellen. Viele Muslime fühlen sich an
die Monate nach den Anschlägen auf das
World Trade Center in New York und das
Pentagon in Washington 2001 erinnert,
als «jedes Kopftuch Ängste und Wut
schürte», sagte Omar Ricci vom Islamischen Zentrum. «Und ich dachte, diese
Zeiten kommen nie wieder.»
Sacha Batthyany
«Die Bösen haben gewonnen»
Der venezolanische Präsident
Nicolás Maduro hält nach dem
Sieg der Opposition in den
Parlamentswahlen an s­ einem
­konfrontativen Kurs fest.
Sandro Benini
Venezuelas Präsident Nicolás Maduro
reagiert auf die verheerende Niederlage,
die seine sozialistische Partei am Sonntag bei den Parlamentswahlen erlitten
hat, mit einer Mischung aus Trotz, Empfindlichkeit und Aggressivität. In einer
Fernsehansprache wandte er sich mit
folgenden Worten an «sein Volk»: «Ich
wollte vier Millionen Wohnungen für
dich bauen, aber ich weiss nicht, ob ich
das jetzt noch tun werde. Ich habe dich
um Unterstützung gebeten, und du hast
sie mir verweigert.» Weiter sagte er: «Es
haben die Bösen gewonnen, dank Lüge,
Betrug, Hass. Aber ich werde nicht aufgeben, sondern kämpfen. Ich bin bereit,
eine radikale Revolution anzuführen.»
Maduro kündigte zu einem von der
Oppo­sition geplanten Amnestiegesetz zugunsten politischer Gefangener sein Veto
an. Ausserdem hat er sein gesamtes Kabinett zum Rücktritt aufgefordert, um die
Minister­posten neu besetzen zu können.
Im neuen Parlament, das erstmals Anfang 2016 zusammentritt, verfügt die Opposition über eine Zweidrittelmehrheit.
Damit kann sie die staatlichen Institutionen weitgehend kontrollieren, die Magistraten des Obersten Gerichts ernennen
und sogar eine verfassungsgebende Versammlung einberufen. Maduros konfrontativer Ton lässt Beobachter befürchten,
der Präsident könnte versucht sein, sich
vom alten, sozialistisch dominierten Parlament noch Sondervollmachten erteilen
zu lassen, um dann am neuen vorbei zu
regieren. Ob die künftige Nationalversammlung diese widerrufen könnte, ist
unter Verfassungsrechtlern umstritten.
«Ich bin äusserst besorgt über die Haltung des Präsidenten», sagte Oppositionsführer Henrique Capriles.
Armee gibt sich neutral
Bereits angekündigt hat Maduro, noch
vor Jahresende zwölf neue Mitglieder des
Obersten Gerichts zu ernennen. Da die
Justiz unter der Kontrolle der Regierung
steht, könnte der Präsident unliebsame
Gesetze für verfassungswidrig erklären
lassen. Eine grosse Bedeutung im anstehenden Machtkampf zwischen Regie­rung
und Parlament kommt dem Militär zu.
Laut anonymen Offizierskreisen wird
sich die Armee neutral verhalten. Auch
die Unterstützung anderer lateinamerikanischer Länder für Maduro schwindet.
In Argentinien regiert mit Mauricio Macri
neuerdings ein Konservativer, und selbst
Brasiliens linke Präsidentin Dilma
Rousseff ist auf Distanz zu ihrem venezolanischen Amtskollegen gegangen.