Medienkulturlinguistik

ZRS 2015; aop
Open Access
Martin Luginbühl. 2014. Medienkultur und Medienlinguistik. Komparative
Textsortengeschichte(n) der amerikanischen „CBS Evening News“ und der Schweizer
„Tagesschau“ (Sprache in Kommunikation und Medien 4). Frankfurt am Main u. a.:
Peter Lang. 557 S.
Besprochen von Werner Holly: TU Chemnitz, Philosophische Fakultät, Thüringer Weg 11.
D-09107 Chemnitz, E-Mail: [email protected]
DOI 10.1515/zrs-2015-0019
Dies ist ein sehr umfangreiches, sehr gründlich gearbeitetes Buch, das aufs Schönste
zeigt, was die Verbindung einer sorgfältigen Medienlinguistik in der ­Tradition Harald
Burgers mit einer kulturhistorischen Perspektive, bei der man an Angelika Linke
denkt, zu leisten vermag, eine Erfolgsgeschichte aus Zürich also, wo (vermutlich)
eine frühere Fassung auch als Habilschrift 2011 vorlag (in Vorwort oder Titelei nichts
dazu). Den Anforderungen einer solchen Qualifikationsschrift entspräche ihre ausgewogene Perspektivenvielfalt, ihre Um- und Vorsicht und ihre Präzision, allerdings
auch ihre gelegentlich strapaziöse Länge und ­Detailliertheit. Die muss man wohl
in Kauf nehmen, will man mehr als nur Schüsse aus der Hüfte losfeuern bei der
konsequent gedachten Erweiterung einer textlinguistisch-­stilistischen Analyse von
Fernsehnachrichten auf die größeren Zusammenhänge, die Sprache und mehr (so
ein früherer, ebenfalls Zürcher programmatischer ­Buchtitel) bieten kann.
Medienkulturlinguistik
Es ist plausibel, dass man sich als Test- und Anschauungsobjekt für die Entwicklung einer „Medienkulturlinguistik“ eine zentrale Fernsehgattung vornimmt,
die immer noch einen unverzichtbaren Status für das Funktionieren moderner
Medienöffentlichkeiten hat: die Fernsehnachrichten. Dass man dabei vergleichend
vorgeht, ist methodisch nahezu unumgänglich, schon jede kleinste Stilanalyse
kommt kaum ohne Vergleich aus. Dass hier die Schweizer „Tagesschau“ und die
US-amerikanischen „CBS Evening News“ verglichen werden, ist zur einen Hälfte
aus der kulturellen Kompetenz des Autors verständlich, denn wer könnte eine
Kultur besser begreifen als ein ihr Zugehöriger, zur andern Hälfte aus dem Interesse
für die moderne „Kulturhegemonialmacht“ USA, an deren Produkten ein moderner Medienkonsument schwerlich vorbeikommt, schon gar kein Fernsehmacher.
Luginbühl hat sich auch da eine gewisse ‚Innenansicht‘ verschafft, in zwei Jahren
© 2015, Werner Holly, published by de Gruyter
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San Diego (so das Vorwort). Die verbleibende Fremdheit wiederum ist für die wissenschaftliche Haltung ebenso notwendig wie die heimische Vertrautheit, die ja
gerade durch den Blick auf das Fremde gebrochen werden kann und muss.
Die erwähnten Vorzüge einer soliden akademischen Arbeit zeigen sich nicht
zuletzt in der Reflexion der verwendeten Grundbegriffe: Text, Textsorte, Klassifikation, Kultur, Vergleich; in der begründeten Darstellung von Korpus und
Methode und in der begrifflichen Fassung des Neuen, das man untersuchen will.
Hier sind es ‚Textsortenprofile‘, die als Meso-Ebene zwischen einzelnen Text­
sortenstilen und gruppenspezifischen Kulturen vermitteln sollen; sie zeigen in
einem ersten (stärker quantitativen) Zugriff, wie die unterschiedlichen Nachrichtenkulturen sich jeweils in konkreten Kombinationen und Abfolgen einzelner
Nachrichtentextsorten (z. B. Sprechermeldung, Korrespondentenbericht bzw.
‚package‘, Filmmeldung usw.) in verschiedenen Phasen der beiden Sender seit
den 1950er Jahren bis heute niedergeschlagen haben, wobei auch jeweils Moderation und Studiodesign einbezogen werden. Auch wenn der Durchgang durch die
über 20 Sendungsformate allmählich etwas ermüdend ausfällt, – in dieser Kleinund Feinarbeit liegt die Belegkraft der Schlussfolgerungen auf das Vergleichsergebnis; es bringt Gemeinsamkeiten und Unterschiede hervor: einerseits hier wie
dort eine „Entwicklung von einem distanzierten ‚Verkünden‘ von Nachrichten hin
zu einer dynamischeren, von ‚parasozialer‘ Interaktion geprägter Vermittlung“
(S. 307), andererseits der gegen platte Amerikanisierungstendenzen sprechende
Befund, dass es in der Schweiz eine „Wellenbewegung“ gab; ab 1985 eine informelle und auch didaktische Präsentation durch mehrere, in den 90ern dann
wieder mit einem Moderator, mal ausschließlich mit, dann mit mehr und schließlich wieder mit weniger Nachrichtenfilm; die zentrale amerikanische Textsorte
‚Korrespondentenbericht‘ bzw. ‚package‘ hält in der Schweiz spät Einzug und
auch dann weniger wertend, zuletzt ist sie sogar wieder rückläufig (S. 488).
In einem zweiten (qualitativen) Anlauf werden Entstehung und Wandel von
Textsorten in stilanalytischer Arbeit aufgezeigt. Hier werden die schon erwähnten
Präsentationsstile (‚Verkünden‘ vs. ‚Berichten‘) und Textsortendifferenzen (‚Filmmeldungen‘ vs. ‚Korrespondentenberichte‘) im Detail herausziseliert, mit allen historischen Varianten und Schwankungen, jeweils anhand verschiedener Faktoren.
Komplexität und Komplexitätsreduktion
Wer wie Luginbühl ein ausgeprägtes Bewusstsein von der Komplexität sprachlicher
und medialer Verhältnisse hat, muss bestehende Begrifflichkeiten ständig überprüfen und überarbeiten, muss neue Klassifikationen und Termini heranziehen,
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mitunter ein verwirrendes Geschäft. Dem entgegen dienen Schaubilder, Schemata
und Grafiken verschiedener Art der Übersicht und Ordnung, besonders anschaulich ist hier eine Grafik zu „möglichen Verlaufsformen von Textsortenwandel“
(S. 335).
Dennoch führt das Bemühen um mehr Präzision nicht immer zu mehr Klarheit.
Die sogenannte „Filmmeldung“ (von anderen auch als „Nachrichtenfilm“ bezeichnet) scheint hier auch „mit Standbildern oder Grafiken realisiert“ so genannt zu
werden (S. 130; 250), eine ungewöhnliche Auffassung von ‚Film‘, bei dem man üblicherweise an Bewegtbilder denkt; entsprechend liegt eine „Sprecher-/Moderatorenfilmmeldung“ schon vor, wenn während einer Sprecher-/Moderatorenmeldung
Standbilder eingeblendet werden (S. 131; 353). Terminologische Schwierigkeiten
macht auch die Unterscheidung von ‚deskriptiver‘ vs. ‚narrativer‘ Themenentfaltung. Einerseits wird ‚deskriptiv‘ für Gegenstände und Objekte reserviert (S. 340), so
dass das übliche, vom Ende her einkürzbare „umgekehrte Pyramidenprinzip“ von
Meldungen „Ereignisse als eine Art Objekte behandelt“ (ebd.), während ‚berichten‘ (neben ‚erzählen‘) zu den „narrativen Alternativen“ gehört (ebd.). Andererseits
werden „narrative“ von „berichtenden Varianten“ unterschieden (S. 373), also sind
Letztere doch keine narrativen Formen; man ist verwirrt.
Problematisch ist auch immer die Frage nach dem Zusammenspiel von
Sprache und Bild. Meiner Ansicht nach ist die Stärke des Fernsehens sein audiovisuelles Potenzial, das bildliche „‚Zeigen‘ der genannten Ereignisse oder Orte“,
wie Luginbühl richtig formuliert (S. 254; Kursivhervorhebung W. H.). Es sollte aber
klar sein, dass die „Stärke des Mediums Fernsehens“ (ebd.) nicht nur im ‚Zeigen‘
liegt, sondern gerade in der Möglichkeit zu sagen, was man in den Bildern sehen
soll, die – jedenfalls in Nachrichten, um die es hier ausschließlich geht, – ohne
Sprache in der Regel nichtssagend bleiben. Alles andere klingt schon ein wenig
nach dem Glauben an die (unangemessene) Selbststilisierung des Fernsehens
zum ‚Bildmedium‘, an der die Inszenierung zwar ständig arbeitet, die aber durch
(fast) pausenloses Reporter- und Moderatorenreden gleichzeitig praktisch widerlegt wird; Ausnahmen bestätigen hier nur die Regel. Konsequenterweise findet
sich in Luginbühls Korpus kein Exemplar der Textsorte ‚Nachrichtenfilm‘ (wie er
das Format „nur Film mit Musik“ nennt) (S. 126).
Amerikanisierung?
Wichtiger ist hier aber die Rahmung der Detailergebnisse in möglichen kulturgeschichtlichen Zusammenhängen. Sie gipfelt in einer abschließenden
­Auseinandersetzung mit der gängigen These der ‚Amerikanisierung‘, die nahezu
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alle medialen Prozesse und Produkte kulturkritisch begleitet. Dazu werden
‚Nachrichtenkulturen‘ in ihrem Zusammenhang mit ‚journalistischen Kulturen‘
dargestellt und diskutiert, und zwar „in komplexen Netzen von Einflussfaktoren“ (S. 479). Es zeigt sich, dass der Sprachgebrauchswandel nicht nur nach
Schlagworten wie Amerikanisierung, Globalisierung und Modernisierung zu
beurteilen ist, sondern dass man mit vielen Bällen jonglieren muss, will man
das Ganze erfassen: technologischer Wandel, politische Systeme, Mediensystem
und Medienmarkt, translokale Kultur, Nationen und Sprachräume, kommunikative Praktiken der Zielpublika und die eigenständige Wirksamkeit von Kultur. Sie
alle werden kurz angerissen und kommen so wenigstens in den Blick. Vielleicht
liegt eine solch differenzierte Betrachtungsweise den Schweizer Verhältnissen
besonders nahe, wo schon auf kleinem Raum Heterogenität allerorten und rasch
beobachtbar ist. Zu Recht weist Luginbühl auch immer wieder darauf hin, dass
einerseits der stilistische Wandel von der Entscheidung einzelner Redaktionen
beeinflusst sein kann, andererseits gelegentlich allgemeinere Tendenzen im
Spiel sind, die sich auch in anderen Ländern finden ließen (bundesrepublikanische Parallelen kommen dem deutschen Leser immer wieder mal in den Sinn,
ohne dass man gleich in die eine oder andere Richtung an Nachahmung denken
muss). Dass die Medienleu­te sich international orientieren, kann gerade auf dem
Nachrichtensektor ohnehin nicht verwundern, Auslandserfahrungen gehören
auf diesem Niveau zur journalistischen Ausbildung und die großen internationalen Agenturen und Austauschsysteme spielen hier keine geringe Rolle. Von
diesen ist allerdings kaum die Rede, eine der wenigen Lücken des Buches.
Insgesamt ist die Darstellung des Textsortenwandels als kulturelles Phänomen aber sehr umsichtig und ausgewogen und man versteht, warum es heute
angemessen erscheint, die Herausbildung und den Wandel von Mustern im
Konzept der ‚kommunikativen Praktiken‘ zu fassen, die in konkreten Handlungen, Normen und Werten von Einzelnen und Gruppen bestehen, die aber – wie
immer in sozialen Zusammenhängen – zu invisible hand-Ergebnissen führen, zu
kaum vorhersagbaren und nur schwer steuerbaren Prozessen, mit Phasen geringerer und stärkerer Dynamik.
Nicht zuletzt wird man von diesem klugen Buch für Fragen der ‚Gemachtheit‘
von Medientexten sensibilisiert. Verbergen sie, legen sie offen, wie sie entstanden sind? Dieses Buch muss seine akademische Herkunft als Qualifikationsschrift
nicht verstecken, es ist ein starker Beleg für deren Leistungspotenzial.
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