Epilepsie ist kein Grund, auf Sport oder Elternschaft zu verzichten

NEUROLOGIE
KONGRESS
Fach- und Publikumstagung am Bodensee
Epilepsie ist kein Grund, auf Sport
oder Elternschaft zu verzichten
Einer von 26 Menschen erkrankt im Verlauf des Lebens an einer Epilepsie. Die Erkrankung
ist nach Migräne, Schlaganfall und Morbus Alzheimer die vierthäufigste neurologische Erkrankung. In der Regel ist heute ein fast normales Leben möglich. Dazu gehören auch die
Ausübung von Sport und die Erfüllung des Kinderwunsches, wenn er sich denn stellt. Prof.
Gerhard Luef aus Innsbruck und Prof. Barbara Tettenborn aus St. Gallen fassten bei einer
Fortbildung der Epilepsieliga am Kantonsspital Münsterlingen zusammen, was es zu diesen
beiden Punkten zu beachten gilt. Dr. Ludwig Schelosky, Leitender Arzt Neurologie am KSM,
gab wichtige Tipps zum Leben mit einer chronischen Krankheit.
Anfallsart und Anfallshäufigkeit sind
die grundsätzlichen Parameter, die bestimmen, ob und welchen Sport ein
Epilepsiepatient ausüben darf. Es gibt
nur ganz wenige Sportarten, von denen
Prof. Dr. med. Barbara Tettenborn
ihren Patienten mit einer Epilepsie
abrät. Im Gegenteil, in ihrer Spezialsprechstunde sucht sie gemeinsam mit
Hobby-, oft aber auch mit Leistungssportlern nach Möglichkeiten, wie sportliche Aktivitäten trotz der Erkrankung
weiterhin möglich sind. Sie berät Profisportler und Sportverbände und räumt
mit Vorurteilen und Ängsten auf. Relativ problemlos können die meisten
Mannschaftssportarten und Leichtathletikdisziplinen, ausser Stabhochsprung
und Wurfdisziplinen, ausgeführt werden. Breitensport wie Fitnesstraining,
Wandern, Nordic Walking, Turnen,
Tanzen, Tischtennis, Jogging sind meist
ohne Einschränkung möglich. Nicht
günstig sind Motorsport, Fallschirm-
springen, Drachenfliegen, Boxen, Wurfsportarten und Schiesssport.
Beim Schwimmen und Bergwandern
auf Hochgraten sei eine 1:1-Betreuung erforderlich. Abraten würde Prof.
Tettenborn vom Reitsport und von
Extremsportarten wie Skiabfahrtslauf
sowie vom Tauchen. „Ein Leben, wie
Patienten ohne eine Epilepsie es führen
könnten, ist das Ziel“, so die Neurologin. Das gelte auch für Kinder mit
Epilepsie, die seltener Sport treiben
und häufiger adipös sind als ihre gesunden Geschwister. Körperliche Aktivität ist für den Insulinstoffwechsel,
das Gefässsystem und neuronale Prozesse förderlich. Eine generelle Befreiung vom Schulsport sei kontraproduktiv. Während sportlicher Aktivität
treten sogar weniger Anfälle auf. Ein
leicht erhöhtes Verletzungsrisiko stehe
zahlreichen Vorteilen gegenüber.
Was bewirkt Sport bei (Epilepsie-)Patienten?
Prof. Barbara Tettenborn und Prof. Gerhard Luef waren die Wunschreferenten von Dr. Ludwig Schelosky für die
Epilepsietagung am Bodensee
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• Günstiger Einfluss durch Verbesserung des physischen und psychischen
Befindens und sozialer Aspekte
• Reduktion der Anfallsfrequenz während sportlicher Betätigung und kurz
danach
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Blick aus dem Vortragssaal in Münsterlingen über den Bodensee Richtung Meersburg (D)
• Regelmässige körperliche Betätigung
verbessert die Symptome einer Depression signifikant.
• Reduktion der Schlaganfallrate um
etwa 25%
Kinderwunschsprechstunde
Schwangerschaften von Frauen mit
Epilepsie sind keineswegs selten. Im
Idealfall wird eine Frau erst schwanger, wenn nach einer präkonzeptionellen Beratung und falls nötig Umstellung der Medikation vom Neurologen
grünes Licht gegeben wird. Meist ist
es aber doch eher so, dass Epilepsiepatientinnen in die Kinderwunschsprechstunde zu Prof. Dr. med. Gerhard Luef in das Universitätsspital in
Innsbruck kommen, wenn sie bereits
schwanger sind. Die gute Nachricht:
Bei 96% der Schwangerschaften von
Müttern mit Epilepsie werden gesunde
Kinder geboren.
Die vulnerable Phase für das Neuralrohr endet mit dem 21. Tag der
Schwangerschaft. Darum ist es so wichtig, dass Frauen mit Kinderwunsch sofort mit einer Folsäureprophylaxe beginnen. „Ein grosses Dilemma stellt sich
bei jenen Frauen, die mit Valproinsäure
gut eingestellt sind. In Innsbruck wird
dann ein Wechsel auf Levetiracetam als
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Ersatz diskutiert“, berichtete Luef. Valproinsäure ist neben der Teratogenität
auch für kognitive Einbussen bei den
Kindern verantwortlich zu machen.
Zu den neuen Antiepileptika (AED)
werden in EURAP, dem Schwangerschaftsregister für Epilepsiepatienten,1
Daten gesammelt. Wichtig sei auch
die Zusammenarbeit mit Hebammen.
„Zum Beispiel sollten sie wissen, dass
Lamictal sich in der Muttermilch zwar
anreichert, aber eine Frau sehr wohl
ihr Baby stillen darf, wenn sie das will.
Stillen sollte lediglich bei einer offensichtlichen Sedierung des Neugeborenen gestoppt werden“, so Luef.
Zu achten ist auch immer auf eine Beratung bezüglich Pille (orale Antikonzeptiva, OA) und AED. Dieses Thema
darf nicht nur beim Neurologen oder
beim Gynäkologen liegen, sondern
sollte in der gemeinsamen Verantwortung diskutiert werden, forderte Luef.
Antikonvulsiva, die CYP3A4 induzieren, reduzieren die Wirksamkeit von
oralen Kontrazeptiva. Die Versagerrate wird auf 5% pro Jahr geschätzt.2
Umgekehrt wird durch bestimmte
orale Kontrazeptiva der LamotriginSpiegel um 41–64% gesenkt bzw. steigt
nach Absetzen eines OA.3 Der Lamotrigin-Plasmaspiegel sollte deshalb
bestimmt und die Dosis angepasst werden. Reine Gestagenpräparate sind hier
besser: Drospirenon, Levonorgestrel,
nicht Gestadon. Als Alternative zu OA
sei das LNG IUS („levonorgestrel-releasing intrauterine system“; Mirena®)
zu empfehlen, sagte Luef.
Prof. Luef berät in der Schwangerschaftssprechstunde aber auch Patientinnen mit unerfülltem Kinderwunsch
und verwies in diesem Zusammenhang
auf das polyzystische Ovarsyndrom
oder „Stein-Leventhal-Syndrom“. Es
umfasst Adipositas, Hirsutismus und
Amenorrhö und ist ein gar nicht so
seltenes Krankheitsbild in der Kinderwunschsprechstunde. Eine Epilepsie
kann auch bei Männern reproduktive
Konsequenzen haben, unter Antiepileptika wie Valproat und Carbamazepin zeigen sich Veränderungen der
Spermien.4
Die meisten Frauen sind während der
Schwangerschaft (SS) anfallsfrei. Als
Ursachen für einen Anstieg der Anfallsfrequenz führte Luef folgende
Punkte an:
• Gesteigerter Metabolismus und erhöhte AED-Clearance führen zu verminderter AED-Serumkonzentration.
• Erhöhtes Verteilungsvolumen der
AED
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• Erhöhte Serumproteinbindung
• Verminderte oder Non-Compliance
bezüglich AED
• Schlafmangel, Hormonveränderungen während der SS verbunden mit
psychologischem und emotionalem
Stress aufgrund der SS
• Übelkeit und Erbrechen
Spontanaborte und Frühgeburten sind
bei Frauen mit Epilepsie häufiger.
In der Allgemeinbevölkerung beträgt
das Risiko für schwere Fehlbildungen
2–3%, das Fehlbildungsrisiko unter
antiepileptischer Medikation ist um
das 2- bis 3-Fache erhöht (dosisabhängig). Eine höhere Teratogenität besteht
bei Polytherapie (6,3%) vs. Monotherapie (4%). Auch Anfälle während
der SS können schädlich sein, tonischklonische Anfälle sind assoziiert mit
intrakraniellen Blutungen, fetaler Bradykardie und niedrigem IQ bei den
Kindern. Ein Status epilepticus ist assoziiert mit erhöhter fetaler und maternaler Mortalität.
Vom Leben mit einer
chronischen Krankheit
Selber betroffen von einer chronischen
Krankheit, fasste Dr. med. Schelosky
zusammen, was die medizinische Literatur zu diesem Thema bietet, und vor
allem berichtete er darüber, was er in
26 Jahren als Arzt von seinen oft chro-
nisch kranken Patienten gelernt habe.
In der medizinischen Literatur werde
das Wort „Stigma“ benutzt, um die befürchtete oder tatsächliche Diskriminierung eines Menschen wegen einer
bestimmten Eigenschaft zu beschreiben. Oft setzt mit der Diagnose einer chronischen Erkrankung wie z.B.
der Epilepsie ein Vermeidungsverhalten ein, die Betroffenen ziehen sich zurück und verlieren den sozialen Anschluss. Verlustängste und Ohnmachtsgefühle können zum ständigen Begleiter werden.5 Der Arbeitsplatz ist nicht
nur wichtig, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, er gibt auch Selbstwertgefühl, führt zur Integration in
die Gesellschaft, gibt einem eine Identität und Ansehen. Der beste Weg, um
sich wieder in ein inneres Gleichgewicht zu bringen, sei Offenheit, betonte Schelosky. Er rät, sich professionelle Hilfe zu suchen, wenn es um
Gespräche mit dem Arbeitgeber, mit
Lehrern oder Versicherungen geht.
Unter „illness behavior“, Verhalten gegenüber der Krankheit, versteht man,
wie der einzelne Mensch seine psychische Situation wahrnimmt, wie er sich
selbst beobachtet, wie er die Symptome definiert und interpretiert, wie er
sie zuordnet, wie er sie bewertet und
wie er die unterschiedlichen Quellen
für medizinische und nicht medizinische Hilfe nutzt. Im Umgang mit dem
Gesundheitssystem finden sich förder-
Positiv
Passiv
liche und weniger förderliche Verhaltensweisen (Abb. 1).6
Wie kann man seine Erkrankung wahrnehmen? Die Krankheit kann als eine
Herausforderung erlebt werden, der
man sich stellt. Manche Menschen
nehmen die Erkrankung sogar als wertvoll an, ziehen Stärke aus der Bewältigung der anstehenden Probleme. Andere wiederum fühlen sich durch die
Krankheit irreparabel geschädigt und
völlig aus der Bahn geworfen. Sie kann
als Feind oder als Bestrafung wahrgenommen werden, die man erleiden
muss. Man kann sie als persönliche
Schwäche sehen. Sie kann aber auch
als Erleichterung in einer Lebenssituation oder als Strategie, als Weg aus einer schwierigen Lebenssituation angesehen werden.
Anpassung kann die Akzeptanz eines
gewissen Funktionsverlusts beinhalten. Sie kann auch den Erwerb neuer
Fähigkeiten und Veränderungen im
Alltag erfordern, um die Symptome der
Krankheit zu bewältigen oder mit den
Erfordernissen der Behandlung mithalten zu können. Als eine wichtige Bewältigungsstrategie empfahl Schelosky
das Schreiben.7 „20 Minuten lang am
Stück aufs Papier bringen, was aktuell
in einem vorgeht, was man nicht sagen
kann oder will, das befreit!“
■
Literatur:
1
http://www.eurapinternational.org/
2
Brodie MJ et al: Enzyme induction with antiepileptic
drugs: cause for concern? Epilepsia 2013; 54: 11-27
3
Moser C et al: Simultaneous online SPE-LC-MS/MS
quantification of six widely used synthetic progestins in human plasma. Anal Bioanal Chem 2012; 403:
961-972
4
Røste LS et al: Alterations in semen parameters in men
with epilepsy treated with valproate or carbamazepine
monotherapy. Eur J Neurol 2003; 10: 501-506
5
Leaffer EB et al: Psychosocial and sociodemographic
associates of felt stigma in epilepsy. Epilepsy Behav
2014; 37: 104-109
6
de Ridder D et al: Beliefs on coping with illness: a consumer’s perspective. Soc Sci Med 1997; 44: 553-559
7
Stanton AL et al: Randomized, controlled trial of written emotional expression and benefit finding in breast
cancer patients. J Clin Oncol 2002; 20: 4160-4168
Aktiv
Negativ
Abb. 1: Umgang mit dem Gesundheitssystem (nach de Ridder et al6)
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Bericht:
Dr. med. Susanne Schelosky
Medizinjournalistin
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