evangelisch-lutherische dom-gemeinde pastorin margrit wegner

EVANGELISCH-LUTHERISCHE DOM-GEMEINDE
PASTORIN MARGRIT WEGNER
Predigt über die Jahreslosung am Neujahrstag
1. Januar 2016
„Rundheraus: das alte Jahr war keine ausgesprochene Postkartenschönheit, beileibe nicht.
Und das neue? Wir wollen’s abwarten. Wollen wir’s abwarten?“
Postkartenschön? Ist Erich Kästner noch bei Trost? Nein, natürlich war im alten Jahr nicht alles schön. Das Jahr, das gerade zu Ende gegangen ist, hat uns zugesetzt und nachdenklich
gemacht wie wenige zuvor. Was liegt vor uns? Was kommt auf uns zu? Kästner spottet: „In
den Wochen vor und nach der Jahreswende pflegt es Ansprachen zu schneien. Sie senken
sich sanft, mild und wattig auf die raue Wirklichkeit, bis diese einer wärmstens empfohlenen
[…] Winterlandschaft gleicht. Doch mit dem Schnee, wie dicht er auch fällt, hat es seine eigene Bewandtnis – er schmilzt. Und die Wirklichkeit sieht nach der Schmelze, mitten im
schönsten Matsch, noch schlimmer aus als vor dem großen Schneetreiben und Ansprachengestöber. Was war, wird nicht besser, indem man’s nachträglich lobt. Und das, was kommt,
mit frommen Wünschen zu garnieren, ist Konditorei, nichts weiter. Es hat keinen Sinn, sich
und einander die Taschen voll zu lügen. Sie bleiben leer.“
Gegen leere Taschen und matschig-graue Gedanken erinnert Erich Kästner an vier Punkte,
mit denen „die soziale, moralische und politische Welt nicht aus den Angeln, sondern in die
rechten Angeln hinein zu heben“ ist: Das Gewissen, die Vorbilder, die Kindheit und Humor.
„Jeder Mensch gedenke immer seiner Kindheit! Das ist möglich, denn er hat ein Gedächtnis“,
sagt der Schriftsteller. „Die Kindheit ist das stille, reine Licht, das aus der Vergangenheit
tröstlich in die Gegenwart und Zukunft hinüber leuchtet. Sich der Kindheit wahrhaft erinnern,
das heißt: plötzlich und ohne langes Überlegen wieder wissen, was echt und falsch, was gut
und böse ist. Die meisten vergessen ihre Kindheit wie einen Schirm und lassen sie irgendwo
in der Vergangenheit stehen.“ Die Erfahrung der Vergangenheit mit in die Zukunft nehmen.
Wieder Kind sein dürfen, ohne Verstand und Erfahrungen des erwachsenen Lebens dabei
aufzugeben. Vergessene Gefühle zulassen. Trost finden in dem, was einst Geborgenheit versprach. Ungewohnt ist das für uns, die längst keine Kinder mehr sind und auch nicht wieder
in kindliche Verhaltensweisen zurückfallen wollen. Kinderkram! Das haben wir hinter uns.
Oder haben wir genau das vor uns? Ist das im neuen Jahr unsere Aufgabe? Sind wir denn
noch bei Trost? Sind wir denn schon bei Trost?
Gott spricht: Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet. Der Satz des
Propheten Jesaja (66,13) steht über diesem neuen Jahr. Der Mutter in die Arme laufen. Das
verweinte Gesicht in ihrer Bluse bergen. Ihr Streicheln, ihr Geruch, ein einziges Anschmiegen, Tränen trocknen im Stoff und das Schluchzen wird stiller, vermischt sich mit leise gemurmelten Worten. Ist gut, alles wird gut, soll ich pusten? Kindheitserinnerungen. Kindheitsrituale. Heile-heile-Segen und das bunte Stofftaschentuch, heiße Schokolade mit Sahne,
den Schmerz wegblasen. Plötzlich und ohne langes Überlegen erinnern wir wieder, was echt
und falsch, was gut und böse ist und was wirklich tröstete damals – und welcher Trost uns
heute fehlt. Trost ist ja ein Beziehungsgeschehen. Ich kann mich nicht selbst trösten. Mütterlicher, elterlicher Trost aber ist mehr als bloße Vertröstung. Das ist Trost, der trägt in all der
schrecklichen Untröstbarkeit der Welt.
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In der hebräischen Muttersprache des Propheten schwingt das mit. Da bedeutet das Verb
trösten, sich trösten lassen: heftig atmen, tief seufzen, nach Luft schnappen, wieder atmen
können. Wer trostbedürftig ist, dem fehlt die Luft zum Atmen. Dessen Seele schluchzt.
Trosterfahrung aber lässt die Seele atmen. Trost heißt aufatmen können, durchatmen dürfen, wieder zu Atem und zu Kräften kommen. So sagt es Jesaja in seiner Sprache. Unsere
Muttersprache kennt weitere Nuancen: Die Grundbedeutung von Trösten ist für uns sicher
machen, fest machen, dazu Mut und Vertrauen geben und vor allem das konkrete helfen,
schützen. Wo Gott Subjekt des Tröstens ist, steht die Bedeutung einen Menschen seelisch
stärken, so Grimms Wörterbuch. Trost ist gleichzusetzen mit innerer Stärke und Festigkeit.
Nicht bei Trost sein heißt: geistig nicht gefestigt, verrückt sein. Gott sei Dank, dass wir mit
der Jahreslosung allzeit bei Trost sein können! Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn
Jesus Christus, der Vater der Barmherzigkeit und Gott allen Trostes, schreibt Paulus. Trost ist mütterlich und väterlich zugleich – und tut so gut. Trösten ist zutiefst menschlich und zutiefst göttlich Gelobt sei Gott, der uns tröstet in aller unserer Trübsal, damit
wir auch trösten können, die in allerlei Trübsal sind, mit dem Trost, mit dem wir
selber getröstet werden von Gott (2. Kor. 1). Menschen sind trostsuchende Wesen. „Trost
ist etwas anderes als Hilfe – sie sucht auch das Tier“, schreibt Georg Simmel, „aber der Trost
ist das merkwürdige Erlebnis, das zwar das Leiden bestehen lässt, aber sozusagen das Leiden am Leiden aufhebt, er betrifft nicht das Übel selbst, sondern dessen Reflex in der tiefsten Instanz der Seele. Dem Menschen ist im großen und ganzen nicht zu helfen. Darum hat
er die wunderbare Kategorie des Trostes ausgebildet.“ Also Heile-heile-Segen auf all unseren
Wegen? Überall behütet und getröstet wunderbar? Jeder Schmerz weggepustet, mit heißer
Schokolade umschifft? Funktioniert denn das? Lässt sich Trost fürs Jahr im Voraus geben?
Gott spricht: Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet. Eine wunderbare
Zusage am Beginn dieses Jahres. Tiefe Erinnerungen an frühere, früheste Jahre. Es „können
nicht vierzig, nicht fünfzig spätere Jahre des Lernens und Erfahrens den seelischen Feingehalt des ersten Jahrzehnts aufwiegen. Die Kindheit ist unser Leuchtturm“, schreibt Erich
Kästner. Zur Kindheit gehört aber auch die Erinnerung, wie Mutter und ebenso Vater nicht
bei jedem Wehwehchen zum ganzen großen Repertoire des Trostes griffen. Das haben wir
als Kinder schnell begriffen. Der kleine Kratzer, der blöde Ausrutscher, der freche Nachbarsjunge – es gab Situationen, in denen Mutter sagte: „Nicht so schlimm. Steh auf. Lauf weiter.
Kein Grund, Theater zu machen.“ Im ersten Moment erschien uns das unfair. Bis wir verstanden: Es bewahrte uns für die Welt. Auch das ist Trost, und kein rabenmütterlicher. Wo wir
andere trösten mit dem Trost, mit dem wir selber getröstet wurden, da geben wir das weiter. „Es hat keinen Sinn, sich und einander die Taschen voll zu lügen. Sie bleiben leer. Es hat
keinen Zweck, die Bilanz zu frisieren. Wenn sie nicht stimmt, helfen keine Dauerwellen“,
schreibt Erich Kästner. „Rundheraus: das alte Jahr war keine ausgesprochene Postkartenschönheit, beileibe nicht. Und das neue? Wir wollen’s abwarten. Wollen wir’s abwarten?
Nein. Wir wollen es nicht abwarten! Wir wollen nicht auf gut Glück und auf gut Wetter warten, nicht auf den Zufall und den Himmel harren, nicht auf die politische Konstellation und
die historische Entwicklung hoffen, nicht auf die Weisheit der Regierungen, die Intelligenz
der Parteivorstände und die Unfehlbarkeit aller übrigen Büros. Wenn Millionen Menschen
nicht nur neben-, sondern miteinander leben wollen, kommt es auf das Verhalten der Millionen, kommt es auf jeden und jede an, nicht auf die Instanzen. […] Wir müssen unser Teil
Verantwortung für das, was geschieht, und für das, was unterbleibt, aus der öffentlichen
Hand in die eigenen Hände zurücknehmen.“ Im Wortsinn des Trostes finde ich diese Haltung
wunderbar ermutigend und darin tröstend: „Wenn Unrecht geschieht, wenn Not herrscht,
wenn Dummheit waltet, wenn Hass gesät wird, wenn Muckertum sich breit macht, wenn
Hilfe verweigert wird – stets ist jeder Einzelne zur Abhilfe mit aufgerufen, nicht nur die jeweils ‚zuständige’ Stelle. Jeder ist mitverantwortlich für das, was geschieht, und für das, was
unterbleibt. Und jeder von uns und euch muss es spüren, wann die Mitverantwortung neben
ihn tritt und schweigend wartet. Wartet, dass er handele, helfe, spreche, sich weigere oder
empöre, je nachdem. Fühlt er es nicht, so muss er’s fühlen lernen. Beim Einzelnen liegt die
große Entscheidung.“ Mit Humor, mit Vorbildern, orientiert am Gewissen – und mit der Erin2
nerung an die Kinderzeit gehen wir also in dieses neue Jahr. Behütet und getröstet mit Gottes großer Zusage: Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet. Für eine
glückliche Kindheit ist es nie zu spät. Amen
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