„Eltern sind leider oft kein Vorbild“

Titelgeschichte
Probleme durch Smartphonenutzung
„Eltern sind leider oft kein Vorbild“
Schlechter konzentriert, motorisch ungeschickt, bindungsunfähiger – wenn Kinder zu früh und zu oft mit
dem Smartphone hantieren, sind negative Folgen meist programmiert. Und Eltern oft ratlos. Der Pädiater
Dr. Till Reckert gibt Tipps für die Sprechstunde, wo Kinder- und Jugendmediziner intervenieren können.
Herr Dr. Reckert, sind Eltern oft schlechtes
Vorbild im Umgang mit dem Handy?
Leider ja. Eltern warten ja in der Arztpraxis gelegentlich mit ihren Kindern auf den
Arzt. Da kann man viel beobachten.
Auch, dass manche Eltern sich ihren
Smartphones aber nicht mehr ihren Kinder zuwenden, die dann um die Aufmerksamkeit kämpfen, derer sie sich nicht
mehr sicher sein können. Kinder regen ihre Eltern ständig zur Selbsterziehung an
und Eltern, die hierfür sensibel sind, profitieren für ihre eigene persönliche Entwicklung davon.
Das Smartphone hat auch die Langeweile verdrängt. Langeweile ist aber ein
adäquater Leidenszustand für Menschen,
denn sie führt zu Ideen und Kreativität.
Welche Folgen hat zu viel SmartphoneNutzung für die Eltern-Kind-Beziehung?
Für alle Bildschirmmedien gilt: Je mehr sie
in der Familie laufen, desto weniger wird
im Schnitt gesprochen, desto weniger direkte und damit empathische Interaktion
läuft ab. Das gilt auch für einen laufenden
Fernseher, dem niemand mehr bewusste
Beachtung schenkt. Vom Fernsehen weiß
man aus Studien, dass TV-Konsum in den
ersten beiden Lebensjahren vor allem zu
Aufmerksamkeitsproblemen führt und in
den Jahren danach vor allem zu Kommunikations- und Sprachentwicklungsstörungen. Eine Längsschnittstudie aus Neuseeland zeigte, dass sich dies negativ bis
ins Erwachsenenalter auswirkt: auf die
Gesundheit und die Berufschancen.
Grundsätzlich gilt: Sind die Eltern mehr
den Medien zugewandt und in der Folge
auch die Kinder, dann nimmt die Beziehungsqualität zwischen ihnen und in Folge die Beziehungsfähigkeit der Kinder ab.
Man bemerkt dies dann direkt in den Bil-
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dungseinrichtungen, die von schwerer zu
führenden, beziehungsunbegabteren Kindern besucht werden, die auch weniger
mit sich selber im Gleichgewicht sind.
Die Folgen eines unguten Umganges
mit elektronischen Medien im frühen Kindesalter können übrigens nicht durch
Heilmittel ausgeglichen werden.
sich zudem weniger, haben in der Folge
ein schlechteres Körpergefühl, was wiederum zu weniger Spaß an der Bewegung
führt. Mit vielfältigen Folgen.
Dann gibt es noch ein Problem, welches
allen digitalen Medien eigen ist: Sie machen vieles leicht und geben immer sofort
Rückmeldung. Dies bewirkt, dass das
Warten können und die Frustrationstoleranz abnimmt.
Welche Probleme bekommen Kinder, die
zu früh und zu oft ein Handy nutzen?
Augenärzte warnen vor häufigerer KurzSie werden ungeschickt. Eine Wischbewesichtigkeit bei Kindern wegen zu viel
gung und ein Knopfdruck sind die primiSmartphone-Nutzung. Zu Recht?
tivsten denkbaren Fingerbewegungen.
Kurzsichtigkeit hat eine erbliche KompoDas Begreifen der Welt geht aber sprichnente, tritt in gebildeteren Familien häufiwörtlich über das Greifen. Als erstes und
ger auf und kommt mehr vor bei vermehrfeinstes menschliches Greiforgan entwiter Tätigkeit in
ckelt sich die AuNahsicht
bei
genmotorik. Den
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am schärfsten sekation mit den Eltern .“
Summe sind 90
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Dr. Till Reckert
taiwanesischen
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sichtig, aber nur
übt dies nicht,
3 Prozent aller nepalesischen Sherpas.
sondern desintegriert die damit verbundeDass sich ein Smartphone hier als Risikonen Sinne. Und nicht zuletzt hängt die Lefaktor einreiht, verwundert nicht. Die Folsefähigkeit neurobiologisch mit der
gekosten sind erheblich.
Schreibfähigkeit und -übung zusammen.
Schmerzlich bemerken dies gerade die
Woran können Pädiater erkennen, dass es
Chinesen: Durch ihr System, per Compueine problematische Smartphonenuttertastatur und einem Auswahlverfahren
zung gibt, und wo sollte man nachhaken?
ihre über 2000 Zeichen zu schreiben (PiGrundsätzlich sollte eine kurze Menyin) verlernen sie auch das Lesen (und so
dienanamnese (und bei Bedarf Mediendroht eine über 3000 Jahre alte Kulturaufklärung) zu irgendeinem Zeitpunkt
leistung in wenigen Jahrzehnten verloren
zur pädiatrischen Routine gehören, bei jezu gehen). Schreibprogramme für Schulder Familie. Das gilt auch für die Familianfänger, die Lesen und Schreiben lernen
en, die sich hier gegen den Zeitgeist stemsollen, sind also fatal. Kinder, die sich
men, denn ihnen muss man mitunter den
meist mit Medien beschäftigen, bewegen
Arzt & Wirtschaft Pädiatrie, Ausgabe 6, November/2015
Titelgeschichte
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Rücken stärken. Man
kann sich ja kurz für die
Diskussionen interessieren,
die sie im Bekannten- und Verwandtenkreis führen müssen.
Nachfragen sollte man, wenn man beobachtet, dass das Kind mit dem Smartphone abgelenkt werden soll, was z.B. bei
einer Impfung schlecht funktioniert. Oder
wenn es zur Belohnung eingesetzt wird.
Oder wenn das Kind mit dem Smartphonespiel aus dem Wartezimmer reinkommt
und sich dagegen wehrt, dieses jetzt kurz
zu unterbrechen, weil der Doktor es untersuchen will und es auch gar nicht richtig „Guten Tag“ sagen kann. Aber auch
Eltern, die in der Sprechstunde ungehemmt an ihr Handy gehen, sind die ein
oder andere Frage wert.
Wissen Eltern, wie sehr zu frühe und zu
häufige Smartphone-Nutzung der kindlichen Entwicklung schaden kann?
Viele wissen es nicht. Anschaulich schildert das die DIVSI-U9-Studie über Eltern
und ihre Kinder unter 9 Jahren: Es gibt eine eher bildungsferne Schicht, die sehr hedonistisch mit den neuen Medien umgeht
und Kinder einfach machen lässt. Diese
Kinder werden gesellschaftlich in Zukunft noch schneller abgehängt werden,
da sie wichtige Lebenskompetenzen noch
weniger entwickeln als früher. Man kann
hoffen, dass es guten Tageseinrichtungen
gelingt, vielfältige Entwicklungsimpulse
aus dem wirklichen Leben zu setzen. Aber
auch die Kinder von sehr gut gebildeten
und sehr medienaffinen Eltern gehen wie
selbstverständlich sehr früh und viel mit
digitalen Medien um. Dies führt zwar zu
Quell
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einer Souveränität mit dem
Medium aber nicht
gegenüber dem Medium. Das
Internet beschleunigt alles, auch die soziale Spaltung der Gesellschaft.
Welche Ratschläge an Eltern helfen am
ehesten, einen vernünftigen Umgang mit
Smartphones zu erreichen?
Folgendes Grundmotto für gelingende Erziehung kann hilfreich sein: „In Ehrfurcht
empfangen, in Liebe erziehen und in Freiheit entlassen“. Zur Ehrfurcht gehört,
sich klar darüber zu werden, wie grandios
es ist, als 5-jähriger Mensch auf einem
Bein stehen zu können, das Gleichgewicht
aktiv zu halten und gleichzeitig einen Ball
gezielt hin- und herwerfen zu können.
Das kann kein Tier und auch kein Roboter. Oder einen Stift zwischen den Fingerspitzen zu propellern.
Und dann haben wir unsere intuitiv gehandhabten, empathischen Fähigkeiten,
die bewirken, dass wir uns (wenn wir gesund entwickelt sind) einem Baby wie
auch einem anderen Menschen, dem wir
Interesse entgegenbringen, fast automatisch richtig zuwenden. Diese Ehrfurcht
geht in Liebe zu uns und zur Welt über.
Die Kinder bringen uns bei, dass unsere
vollmenschlichen Fähigkeiten nicht ange-
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boren sind, sondern eingeübt werden müssen. Und sie zeigen uns, dass
man diese Fähigkeiten nur selber in Freiheit lernen kann, wenn Gelegenheit dazu
da ist und ein anspornendes, sie liebendes
Vorbild. Wem dies bewusst ist, der stellt
Kindern die richtigen Fragen zu Handys
oder anderen Bildschirmmedien in Kinderhänden – oder den eigenen. Und er
wird den Medienkonsum eher begrenzen
und regeln, wie bei Süßigkeiten oder
Suchtmitteln. Apple-Gründer Steve Jobs
hat das mit seinen Kindern auch nicht anders gemacht.
Sind die Kinder größer, muss man sie in
Freiheit entlassen und noch solange helfend begleiten, wie sie dies wollen. Das
Problembewusstsein, also ein Verständnis
für die Auswirkungen der Medien auf
Mensch und Gesellschaft, ist den Digital
Natives nicht so gegenwärtig wie jenen,
die ins Digitale Zeitalter hineingewachsen
sind und dennoch souverän darin leben.
Vorher sollte man den Eltern klar machen, dass früher und intensiver Medienkontakt ihren Kindern auch später keine
messbaren Vorteile im Umgang damit
bringt. Es besteht auch kein Grund zur
Sorge, dass Deutschland diesbezüglich
n
hinterherhinkt.
Die Fragen stellte Peter Leveringhaus
Arzt & Wirtschaft Pädiatrie, Ausgabe 6, November/2015
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