Hirtenbrief #9 lesen

Hirtenbrief #9
Ein starkes Stück Ruhrgebiet.
Liebe Freundinnen und Freunde der Ruhrschäferei!
WINTER ADÉ
Es regnet. Dazu ein unfreundlicher, ruppiger Wind. Ist das nun schon Frühjahr
oder kommt der Winter noch einmal zurück? Tagsüber beginnt das Gras vorsichtig zu wachsen, aber nachts, wenn die Temperaturen runtergehen bis kurz
über Bodenfrost ducken sich die Halme vor dem Kälteschauer, der übers Land
geht. In den Wintermonaten hat die Herde gutes Futter auf den feuchten Wiesen rund ums Rotbachtal gehabt, aber nun, im Märzen, spannt der Bauer schon
lange nicht mehr die Rösslein an. Stattdessen beginnt Anfang des Monats die
Zeit, in der die Gülle ausgebracht wird, um die Wiesen vorzubereiten. Zum einen für die hofeigene Futterproduktion für Milchkühe, Bullenmast und Schweine. Zum anderen, um einen Hunger ganz anderer Art zu stillen. Während alles
über die Rückkehr der alten Beutegreifer Wolf, Luchs und Bär in unsere Kulturlandschaft redet, ist seit einigen Jahren ein ganz anderes, überaus gefräßiges und
bislang unersättliches Ungeheuer im Lande aufgetaucht: die Biogasanlage. Sie
verschlingt zahlreiche Flächen und treibt auch da, wo sie das Land nicht in eine
Maiswüste verwandelt, für die Bauern die Pachtpreise in die Höhe.
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Hirtenbrief #9
Ein starkes Stück Ruhrgebiet.
Für die Herden der Wanderschäfer beginnt die schwierigste Zeit des Jahres. Die
landwirtschaftlichen Weideflächen mit ihrem winterfesten Gras sind nicht mehr
zugänglich, die Magerwiesen und Brachflächen sind noch braun und vertrocknet
und tragen noch kein neues Futter. „Uns hat der winter geschat über al: heide
und walt sint beide nu val“ sang Walter von der Vogelweide und die Schäfer
kennen dieses Lied. Sehnlichst erwartet: Frisches Grün.
In den letzten Wochen ist die Herde deswegen viel gewandert. Die letzten, oft
nicht zusammenhängenden Flächen wurden aufgesucht, um Nahrung für die
Tiere zu finden, aber allmählich wird das Futter knapp. Wenn nicht bald die
Temperaturen steigen, muss Heu und Kraftfutter dazu gekauft werden. Der
Winter ist für den Schäfer nicht nur
ein kalter, sondern leicht auch ein
bedrohlich teurer Geselle. Schafe im Schnee sind ein idyllisches
Motiv für jede Weihnachtspostkarte
seit den Zeiten des Biedermeier,
aber manchmal geht der Winter
den Herden an die Kehle. Die
gespenstische Raserei, mit der er
bei den durch das Christentum nie
ganz ausgerotteten heidnischen
Spektakeln des Winteraustreibens durch grauenhafte und schreckerregende
Masken und den dazu gehörenden Heidenlärm verjagt werden soll, erscheint
uns spätestens seit Erfindung der Zentralheizung und des heizbaren Autositzes
als bizarrer Mummenschanz aus einer anderen Welt. Aber von der unerbittlichen Unwirtlichkeit der eisigen Elemente trennen uns in der Regel bis heute nur
ein paar Millimeter Glas. Das ist nicht wirklich viel. Wer das immer wusste, sind
die Schäfer.
DER HÄUPTLING DER WÜRSTE: RARITÄTEN AUS DER HIRTENKÜCHE UND BUKOLISCHE
SPÄSSE
Der taz-Korrespondent Ralf Sotschek beschreibt, dass der Reisende in Schottland seit alters her mit einer besonderen kulinarischen Spezialität überrascht
wird: dem Haggis. Ein Haggis ist eine kugelförmige Wurst, die aus Herz, Leber,
Lunge und Nierenfett vom Schaf besteht, die – mit Zwiebeln und Haferfett vermischt – im Schafsmagen gekocht werden. Dazu gibt es Kartoffeln, Steckrüben
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und Whisky, wobei Kartoffeln und Steckrüben nicht zwingend sind. In die USA
darf Haggis nicht eingeführt werden. Es ist nach Ansicht der Amerikaner für
den menschlichen Verzehr nicht geeignet. In Schottland dagegen wurden ihm
höchste Ehren zuteil. Robert Burns, der Dichter des meistgesungenen Liedes
der Welt „Auld lang syne“ widmete ihm ein tief empfundenes Gedicht über
den „Häuptling der Würste“, das möglichst nur rezitiert wird, indem dabei ein
Haggis aufgeschlitzt wird, „so, wie die Schotten es mit den Engländern in der
Schlacht bei Bannockburn getan haben“, wie ein schottischer Landsmann 1816
anmerkte.
Auf die Frage, was ein Haggis sei erklären die Schotten ihren englischen Besuchern gerne, das Haggis sei ein kleines Tier, bei dem die Beine auf der einen Seite kürzer seien, als auf der anderen, damit es sich an den abschüssigen Hängen
der Highlands besser bewegen könne. Um es zu fangen, werde es ins flache Land
getrieben, wo es dann umfalle und eingesammelt werden könne. Die Schotten,
die allerdings der rassistischen Vorurteilsbildung gegenüber Engländern nicht
völlig unverdächtig sind, behaupten, es sei verblüffend, wie viele Engländer das
glauben würden.
Wir allerdings, die Herde der Ruhrschäferei vor Augen und deswegen
davor gefeit, auf solche Weise
durch bukolische Spässe genasführt
und zum Spott der Landbevölkerung zu werden, wissen, dass jede
kulinarische Kostbarkeit vom Schaf
ohne Ausnahme von einem Tier
mit rechts wie links gleich langen
Beinen stammt. Auch würde ja jede
andere Variante, z. B. hinten kürzer
als vorne, bei uns in der Ebene
überhaupt keinen Sinn machen,
weil die Tiere dann trotz des flachen Geländes stets bergauf laufen
müssten. Allerdings hat es mit den
Beinen dennoch eine besondere Bewandtnis, die hier nicht verschwiegen werden soll: Wer schon einmal
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versucht hat, die Anzahl der Schafe in einer Herde zu ermitteln, weiss, dass man
beim Zählen durch die sich hin und her bewegenden Tiere leicht strubbelig im
Kopf wird und am Ende die tatsächliche Zahl dennoch nicht ermittelt hat. Alte
und sehr erfahrene Schäfer haben nun Menschen, die nach längerer Zeit ihr
Vertrauen gewinnen konnten, wissen lassen, dass es ein untrügliches Mittel gibt,
die genaue Zahl der Tiere in einer Herde festzustellen. Man zähle einfach ohne
sich durch irgendetwas beirren zu lassen die Beine der Tiere und teile diese Zahl
durch vier. Dann wisse man zuverlässig, wieviel Tiere die Herde umfasst.
Die Welt der Hirten war zwar nie wie in der verkitschten Vorstellungswelt irgendwelcher affektierten Hofschranzen des Rokoko ein Ort für alberne Schäferstündchen, bot aber, wie uns die griechische Mythologie lehrt, durchaus schon
von alters her Anlass für rustikalen Humor und diabolische Spässe. Berüchtigt
ist der PANISCHE SCHRECKEN. Er wird hervorgerufen durch PAN, den
ziegenhörnigen und bocksfüssigen Hirtengott, der später wegen seines sexuell
ausschweifenden Lebenswandels das offenbar überaus faszinierende Urbild der
abendländischen Vorstellung abgab vom Großen Tier, auch Satan, Beelzebub,
Fürst der Hölle, Samuel, Leibhaftiger, Gottseibeiuns oder Fliegengott genannt.
Während die Herde in flirrender Mittagshitze im Schatten eines Olivenhains
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ausruht, springt er wie der sprichwörtliche Teufel aus dem Kasten, begleitet von
heftigem Blätterrauschen, aus dem Geäst der Bäume und veranlasst die zu Tode
erschreckte Herde aus purem Übermut zu sinnloser Flucht . Man darf davon
ausgehen, dass einen derartigen Auftritt im Gegensatz zu Pan weder die Schafe,
noch die Hirten lustig fanden.
ROTKÄPPCHEN
Seit ein paar Jahren häufen sich die Meldungen über die Rückkehr der Wölfe
nach Deutschland. Zunächst, vom Ruhrgebiet aus gesehen noch weit, weit weg,
gefühlt quasi kurz vor der russischen Steppe, in Sachsen. Dann näherrückend
in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, gar Niedersachen und Hessen .
Die kürzlich in der taz veröffentlichte Meldung, im als Öko-Region bekannten
Wendland würden bereits Wölfe, die zu nahe an die Dörfer herankämen, in
Lebendfallen eingefangen und zu Hütehunden ausgebildet, erwies sich allerdings
als blöder Aprilscherz. Und jetzt – herzlich willkommen oder horribile dictu –
wurde er schon sowohl hier als auch da in Nordrhein-Westfalen gesichtet. NRW,
schon lange sogenanntes Wolfserwartungsland, ist aufgerückt zum Wolfsland.
Die Gefechtslage in der landesweiten Auseinandersetzung darüber ist nicht einheitlich, wiewohl im Gesamtbild gegenüber dem Wolf bisher eher wohlwollend.
Auch wenn die Rückkehr von Wolf, Bär oder Luchs vereinzelt Hassreaktionen
hervorgerufen hat, die einen gruseln machen, weil sie das Fortbestehen von
archaischen Gespenstern zeigen, die niemals tot waren, wie wir arglos glaubten.
Aber nirgendwo, auch nicht bei den Jägern, vertreten sie Mehrheiten.
Wölfe sind durch EU-Recht ganzjährig geschützt, von den meisten willkommen
geheißen als Bereicherung der heimischen Natur. Für den städtischen Feriengast
steigt die Erlebnisqualität der Waldwanderung. Der Wolf als Eventfaktor, auch
wenn ihn keiner sieht, weswegen die regionale Tourismusförderung ihn begrüßt.
Die Förster als die Hüter des Waldwachstums unterstützen ebenfalls die Rückkehr, denn Rehe fressen Baumschößlinge, Wölfe fressen Rehe oder: Wo der Wolf
seine Fährte zieht, wächst der Wald (Russisches Sprichwort). Und immerhin der
Großteil der Jägerschaft akzeptiert Meister Isegrimm. Viele Schäfer sind not
amused, warnen vor übertriebener Begeisterung, aber akzeptieren die Entwicklung und versuchen, sich darauf einzustellen.
Eine Minderheit in der Bevölkerung, die mit dem Strategiewechsel vom Krieg
gegen die Natur zum Naturmanagement mental überfordert ist, sowie die an-
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tiökologische Hardcore-Fraktion der Jäger und viele Schäfer lehnen die Unterschutzstellung vehement ab. Dazu:
Der normale Waldspaziergänger, sofern er seinen Dackel an der Leine hat, hat
von Wölfen nichts zu befürchten. Anrainer von Wolfsrudeln sind allerdings genötigt, Hühner und Gänse zu sichern.
Die kleine, in der Regel nicht offen auftretende, aber latent gewaltbereite
Wolfshasserfraktion bei den Jägern wird in etwa von folgenden, meist doch eher
unterkomplexen Motiven bewegt:
Die Herren über Leben und Tod im Wald sind wir. Beutegreifer in der Natur
waren schon im Neandertal unsere Nahrungskonkurrenten und sind als Raubzeug abzuschiessen. Bei Greifvögeln wie Bussard und Habicht gilt weiterhin
der flotte Jägerspruch: Krummer Schnabel – krummer Finger – Peng. Vergiften
geht auch. Wenn wir das Raubzeug nicht kurz halten, werden das Niederwild
oder die Singvögel ausgerottet. Ohne unseren verdienstvollen Kampf gegen die
Groß- und Kleinprädatoren droht in der Natur Chaos und Artentod. Außerdem
frisst uns das Raubzeug die von uns zum jagdlichen Abschuss frisch ausgesetzten
Fasanen aus Volierenaufzucht weg, die zu blöd sind, vor einem Fuchs wegzulaufen, weil sie noch nie einen gesehen haben. Fuchs, Marder, Dachs, Waschbär
und Marderhund sind schlimm genug, dürfen aber wenigstens reichlich geschossen werden. Luchs, Wolf und Bär geht gar nicht. Ein Tier, das nicht geschossen
werden darf, ist in Wahrheit ein Untier. Schließlich sind sie mit gutem Grund
ausgerottet worden und haben in unserem Wald nichts zu suchen. Wildkatzen
eigentlich auch nicht, dann könnte man ja auch die Hauskatzen im Wald laufen
lassen.
Vor allem aber: Wölfe im Wald machen das Wild nervös. Es reicht dann nicht
mehr, dass ich meinen Arsch mit der G-Klasse unter den Hochsitz fahre und
warte, bis die Rehe auf die Lichtung stolpern, sondern jagen wird dann echt
anstrengend. Das will doch keiner.
Für die Schäfer sieht die Lage etwa so aus:
Die wirtschaftliche Situation vieler Schäfereien ist angespannt. Die Schafhaltung
im Wolfsgebiet ist mit höheren Kosten verbunden. Es müssen höhere und teurere Zäune und elektrische Weidezaungeräte für den Pferch angeschafft werden,
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deren Wirksamkeit trotzdem nicht
garantiert ist. Drahtzäune müssen
mit einem Unterwühlschutz versehen werden . Die Herde muss mit
mehr Aufwand kontrolliert werden.
Am besten wird der Nachtpferch
in den Stall verlegt, das bedeutet
täglich längere Wege. Aber viele
Schäfer haben keinen Stall, in dem
sie die ganze Herde unterbringen
können oder er ist zu weit entfernt.
Die alten Techniken des Hütens mit Herdenschutzhunden müssen erst wieder
neu erlernt werden. Nicht nur von den Schäfern. Der Einsatz der Hunde in
besiedelten Gebieten ist schwierig. Die Hunde müssen unterscheiden zwischen
Wölfen und Hunden von Spaziergängern, auch zwischen netten Menschen und
Strauchdieben. Angriffe auf Passanten, Onkel Hermanns Schäferhund oder
überambitionierte Mountainbikefahrer, die versuchen, diagonal durch die Herde
zu fahren, würden ein echtes Kommunikationsproblem in den Medien bewirken.
Die Ausbildung der Hunde dauert lange. Der Hund muss als Welpe in die Herde
kommen, aber bis er gegen Wölfe eingesetzt werden kann , dauert es Jahre.
Und auch die Hunde kosten in Anschaffung und Unterhalt Geld. Ausserdem
soll niemand glauben, gerissene Schafe ergäben ein nettes Bild. Keinen Schäfer lässt es unberührt, wenn er sieht, dass Tiere, in die er Arbeit und Fürsorge
gesteckt hat, von einem meist unsichtbaren, mit tödlicher Effizienz angreifenden
Nachtjäger gekillt worden sind. Ja, es gibt Entschädigungen. Aber nur, wenn die
Voraussetzungen erfüllt sind und Maßnahmen zur Wolfsabwehr getroffen waren,
die, wenn nicht Geld, dann Zeit gekostet haben. Und natürlich beantragt und
überprüft werden müssen.
Fazit: Zumindest an mangelndem finanziellen Ausgleich für wolfsgeschädigte
Schäfer oder Geflügelhalter sollte die gesellschaftliche Akzeptanz der Wölfe nicht
scheitern. Gleiches Recht für Heuschrecken, Hyänen und Wölfe. Gemessen
an den Phantastilliarden, die die Flurschäden der Finanzmarkthyänen gekostet
haben, reden wir bei den Wölfen noch nicht einmal über Peanuts. Darüber sollte
Konsens bestehen.
Wer die Bilder aus rumänischen Vorstädten gesehen hat, auf denen in der Nacht
Braunbären in die Müllcontainer klettern und dort ein im hiesigen Geltungsbe-
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reich der Gelben Tonne nicht bekanntes, aber sofort einleuchtendes System der
Müllsortierung nach FRESSBAR und NICHT FRESSBAR vornehmen, bevor
sie sich wieder in die Wälder trollen, fragt sich, was bei vergleichbaren Szenen
hierzulande los wäre. Wahrscheinlich irgendwas Gruseliges zwischen zoophober
Pegida (Der Braunbär gehört nicht zum Abendland – Keine Einwanderung ins
deutsche Müllsystem), Lichterketten gegen Angst im Dunkeln und hyperventilierendem Organversagen in der Redaktion der BLÖDZEITUNG.
Wir können aber schlecht von den Indern erwarten, dass sie eine alltagspraktische Koexistenz mit den letzten Tigern dieser Welt entwickeln und bei uns zu
Hause das Rotkäppchen spielen. Wobei die im Märchen den Kindern nahegelegte Vorstellung, dass die Oma in Wirklichkeit vielleicht der böse Wolf ist,
ja auch gegenüber den Großmüttern nicht wirklich nett ist und dringend einer
textkritischen Überarbeitung seiner latent omafeindlichen Untertöne bedarf.
In der Ruhrschäferei sind wir nach ausgiebigen internen betrieblichen Bewertungen, inwieweit für uns im Herzen des Ruhrgebiets, umgeben von Autobahnen, in
absehbarer Zeit eine wolfsinduzierte Gefahrenlage denkbar sein könnte, zu dem
Schluss gekommen, dass trotz expandierender Industrienatur eine derartiges
come-back der Wildnis vorläufig wohl auszuschliessen ist.
Etwa drei Tage später meldete die Presse, dass bei einer Heidschnuckenherde
in Duisburg-Rheinhausen als ornithologische Sensation und zur Überraschung
aller Experten Uhus aufgetaucht sind, die wie die Grausedruden in Ronja
Räubertochter die Lämmer angreifen und bisher 11 Lämmer getötet haben. Das
hat, soweit wir wissen, bei einer einzelnen Herde bisher kein Wolfsrudel geschafft. Die angegriffene Herde ist ein paar Steinwürfe entfernt von Flächen der
Ruhrschäferei in Rheinhausen. Manchmal macht man sich einfach die falschen
Gedanken.
OSTERLAMM
Gelb blühende Narzissen und auf den Wiesen Lämmer, die mit hakenschlagenden Bocksprüngen im frischen Gras Fangen spielen und ein Lächeln in jedes
Gesicht zaubern: Ein Anblick, der sich für uns mit Ostern verbindet . Der davon
geprägte Begriff des Osterlamms hat jedoch seit alters her einen dunklen Schatten: das Opferlamm – christliche Metapher für die Kreuzigung Jesu und Inbegriff der geduldigen Bereitschaft, sich klaglos zur Schlachtbank führen zu lassen.
Wer allerdings mit dem religiösen Symbol des Lammes nur demütige Leidensfä-
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higkeit verbindet, hat die Bibel nur halb gelesen. In der Apokalypse des Johannes wird das Lamm zum Sinnbild für Macht, Herrschaft und die grauenvolle
Vernichtung seiner Feinde in einem Bruegelschen Inferno.
Es ist das Lamm, das gegen das gehörnte Tier und die bösen Mächte kämpft
und sie besiegt. Groß und abscheulich sind seine Gegner: „Ich will dir die große
Hure zeigen, die an vielen Wassern sitzt. Die Könige der Erde haben mit ihr
Unzucht getrieben und die Bewohner der Erde sind trunken geworden vom
Wein ihrer Unzucht … Und ich sah ein Weib auf einem scharlachroten Tier sitzen; das Tier war ganz voll von lästerlichen Namen und hatte sieben Köpfe und
zehn Hörner. Und das Weib war in Purpur und Scharlach gehüllt und überladen mit Schmuck aus Gold und Edelgestein und Perlen; es hielt einen goldenen
Becher in seiner Hand ganz voll von Abscheulichkeiten … Und auf seiner Stirne
stand ein Name geschrieben, ein Geheimnis: Babylon, die Große, die Mutter
der Huren und der Greuel der Erde. Und ich sah das Weib trunken vom Blut
der Heiligen und vom Blut der Zeugen Jesu … Und ich sah ein anderes Tier
aufsteigen aus der Erde, das hatte zwei Hörner, einem Lamme ähnlich, aber es
redete wie ein Drache … Und die zehn Hörner, die du sahst, sind zehn Könige
… Diese sind eines Sinnes und geben ihre Macht und Kraft dem Tier. DIESE
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WERDEN MIT DEM LAMM KRIEG FÜHREN, ABER DAS LAMM WIRD
SIE BESIEGEN DENN ES IST DER HERR DER HERREN UND DER
KÖNIG DER KÖNIGE … Und siehe das Lamm stand auf dem Berge Zion
und mit ihm hundertvierundvierzigtausend, die seinen Namen und den Namen
seines Vaters auf ihren Stirnen geschrieben trugen … die riefen: Lasst uns jubeln, denn die Hochzeit des Lammes ist gekommen und seine Gemahlin hat sich
bereit gemacht.“
Wir lernen daraus zweierlei: Nicht in allen Kulturen waren Schafe dumm und
Lämmer niedlich. Nach mehr als 10.000 Jahren des Zusammenlebens von
Mensch und Schaf gibt es einen wahrlich multikulturellen Kosmos von Kulten,
Bräuchen, Mythen und Märchen, um diesen neben dem Hund ersten und wichtigsten Begleiter des Menschen.
Und: Die Taliban spielen ein sehr altes Stück … älter als der Koran. Der eschatologische Furor, mit dem sie den gottlosen Westen mit biblischen Worten als den
grossen Satan und die babylonische Hure bekämpfen, erschreckt uns vielleicht
vor allem deswegen, weil es aus unserer eigenen Dunkelheit auftauchende Schattenbilder sind; weil es gerade nicht das Fremde, sondern das Eigene ist. Das ist,
wie ja auch ihre Brüder und Schwestern im Geiste, die Evangelikalen demonstrieren, kein Kampf der Kulturen, sondern das sind ungleichzeitige Sedimente
ein und derselben Kultur. Es sind unsere Bilder, unsere Ungeheuer und unsere
Albträume, und sie sind noch nicht einmal zu Ende. Apokalypse können wir
auch.
FRÜHLING ERWACHE!
Florian steht, was für seinen Geschmack reichlich hoch ist, im jaulenden Wind
oben auf der Leiter, die in vier Metern Höhe mit einem Spanngurt am Bambusbalken des Stalldachs gesichert ist. Sturmtief Niklas hat sie – ungesichert –
bereits einmal samt Wassertank umgeworfen. Eine Bö hat zwei Schrauben aus
einem Teil der Dachabdeckung gerissen, die jetzt wie eine knallende Blechfahne
im Wind flattert. Bevor sich noch weitere Bleche selbständig machen, muss das
Geflatter beendet und mit Gewindestangen verschraubt werden. In vier Tagen
ist Ostern. Die Schafe stehen auf einer Fläche am Stall, während das Atlantiktief an ihrer Wolle zerrt. Trotz Regen und Wind sind sie sichtbar zufrieden, weil
es seit gestern nicht nur Heu, sondern auch reichlich Kartoffeln gibt. Auf dem
nicht zum Biotopbereich gehörenden Gelände des zukünftigen Gewerbegebie-
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tes haben etwas eher als erwartet die ersten Vorbereitungen für den geplanten
Logistikstandort begonnen. Mit schwerem Gerät sind die Birkenschößlinge
gerodet worden. Im Dauerregen des Sturmtiefs bietet die Fläche den Anblick einer Seenplatte, die schwer passierbar und wenig einladend ist. Die angrenzende
Magerrasenfläche bietet noch zu wenig Futter für die Schafe. Sobald es wärmer
geworden ist, wird die Herde auf die üppigeren Wiesen in Rheinhausen ziehen.
Das wird die erste lange Wanderung mit einer oder zwei Übernachtungen für
die Herde und für den Schäfer die erste Wache am Nachtpferch.
Aber noch gibt Niklas keine Ruhe. Zwischendurch scheint die Sonne, aber dann
ist er wieder da und rappelt an der Stalltür. Das Blech auf dem Dachstuhl ist
verschraubt und klappert nicht mehr; die Leiter hat gehalten. In der Zeitung ist
ein hässliches Foto von einem komplett umgeklappten Kirchendach in Meiderich. Zwei Tage später: Der Stall in Holten steht noch unbeschadet. Niklas hat
aufgegeben.
Ostern. Die Sonne scheint. Der Frühling kann kommen.
Frisches Grün, ein gelbes Blütenmeer und Wärme für euch alle
wünscht
DAS TEAM DER RUHRSCHÄFEREI
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