Die Machtergreifung. Der Aufstieg der NSDAP und die Zerstörung

MARTIN BROSZAT
Die Machtergreifung. Der Aufstieg der NSDAP und die Zerstörung der Weimarer Republik
Einleitung
Das Scheitern der Weimarer Republik und die Machtdurchsetzung des Nationalsozialismus bilden
zentrale Themen nicht nur der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Wegen ihrer welthistorischen
Auswirkungen sind sie ein säkulares Thema auch der internationalen historischen Forschung geworden.
Die inzwischen hochgradig spezialisierte Zeitgeschichtswissen schaft hat aber nur selten versucht, das
Thema zum Gegenstand einer knappen Gesamtdarstellung zu machen, wie sie in diesem Band vorgelegt
wird.
Aus der fast unvermeidlichen Rückprojektion der späteren kolossalen Energieentfaltung, zu der das
Hitler-Regime in Deutschland nach 1933 und vor allem während des Zweiten Weltkrieges fähig war, ist
der Historiker versucht, auch schon der NS-Bewegung vor 1933 ein hohes Maß an überlegener Zielsicherheit und Potenz zuzuschreiben und diese als roten Faden in seine Erzählung einzuweben. Unsere
Darstellung will das vermeiden und vielmehr zeigen, wie sehr, trotz der gewichtigen
nationalgeschichtlichen und zeitbedingten Ursachen, die dem Nationalsozialismus zu Gute kamen, die
Machtdurchsetzung der Hitler-Bewegung bis in das Jahr 1932 hinein offen und unentschieden gewesen ist.
Die so verhängnisvoll verfehlten Antworten auf tatsächliche Krisen, die der Nationalsozialismus gab,
zwingt in besonderem Maße dazu, das Geschehene aus dem Kontext krisenhafter Stimmungen und
Konstellationen herauszuarbeiten, zugleich aber auch deutlich zu machen, dass das, was geschichtliches
Faktum wurde, aus zwar bedingtem, aber doch selbstgewähltem Handeln oder Nichthandeln hervorging,
und entsprechend auch unter dem Gesichtspunkt der Verantwortlichkeit politischen Tuns oder Versagens
zu messen ist.
Solche grundsätzlichen Erwägungen haben auch die methodische Anlage dieses Bandes mitbestimmt. Sein
erster Teil schildert im Vorblick auf die dann im zweiten Teil darzustellende Gesamtgeschichte und im Blick
auf die für die Hitler-Bewegung wichtigen Jahre 1923 und 1930 Stationen und Ausschnitte ihres Kampfes
um die Macht. Die dafür gewählten Ereigniskomplexe bzw. Schauplätze, der Hitler-Putsch in München
1923, der politische Kampfplatz in Berlin im Herbst 1930, bezeichnen, wie einige der in der Dokumentation
markierten Situationen aus den Jahren 1932/33, auch Stufen zunehmend eingeschrumpfter
Handlungsspielräume bei der Verteidigung der Republik. In der zusammenfassenden Beschreibung wird das
genauer ausgeführt und belegt. Hierbei kann auch erst voll deutlich gemacht werden, dass sich Geschichte
und Aufstieg der NS-Bewegung bis 1933 nicht trennen lassen von den nationalen, sozialen und
psychologischen Hypotheken, mit denen die Weimarer Republik seit ihrer Gründung nach der deutschen
Niederlage im Ersten Weltkrieg von Anfang an belastet war. Die Krisengeschichte der Republik und die
Erfolgsgeschichte des Nationalsozialismus verhalten sich komplementär. Erst auf der Woge der dadurch
begründeten, dann infolge der Staats-und Wirtschaftskrise vor allem im bürgerlich-protestantischen
Deutschland voll hereinbrechenden aggressiven politisch-sozialen Veränderungsdynamik vermochte der
Nationalsozialismus ab 1929/30 schnell so breite Resonanz zu finden und vor die Tore der Macht zu
gelangen. Die aus der revolutionären Zeitatmosphäre geschöpfte, vor allem durch Hitlers leidenschaftliches
demagogisches Vermögen umgesetzte Fähigkeit zur Massenmobilisation von sozialen Ängsten, nationalen
Utopien und Aggressionen auf der einen Seite und das, gewiss oft schwankende und problematische, aber
doch immer wieder zustande gebrachte Bündnis- und Protektionsverhältnis zwischen den alten konservativen Eliten in Staat und Gesellschaft und der nationalsozialistischen Massenbewegung andererseits,
waren die ausschlaggebenden Voraussetzungen der Machtdurchsetzung Hitlers. Autoritäre
Verfassungsveränderungen, wie sie im Zeichen der Präsidialregierungen unter den Kanzlern Brüning, Papen
und Schleicher zwischen 1930 und 1932, anfangs z. T. mit Erfolgschancen, versucht wurden, erwiesen sich
anders als in weniger entwickelten benachbarten Ländern, in den zwanziger und dreißiger Jahren zur
Lösung der Krise der parlamentarischen Demokratie als nicht genügend fähig. Schon vor 1914 auf dem
halben, konstitutionellen Wege zur Demokratisierung des politischen Systems angelangt, waren für die
Deutschen in ihrer Mehrheit die Erfahrung des Volksstaates von Weimar trotz aller Animositäten
gegenüber dem republikanischen Parteienstaat nicht mehr zu eliminieren. Angesichts der Alternative
restaurativ-autoritäre Verfassungsveränderung oder nationalsozialistische »Revolution«, wie sie sich 1932
nur noch bot, konnte sich der Nationalsozialismus auch deshalb durchsetzen, weil er, vermeintlich, einen
»dritten Weg« zwischen Demokratie und volksfernem Obrigkeitsstaat versprach.
(In: Martin Broszat: Die Machtergreifung. Der Aufstieg der NSDAP und die Zerstörung der Weimarer Republik. dtv München 1993, S. 7-8)