Ein verkleideter Blechpolizist - Schweizerischer Israelitischer

Zürich 19
Tages-Anzeiger – Mittwoch, 20. Januar 2016 Proteste gegen
Kunsthaus-Anbau
Auf dem Areal der geplanten
Kunsthaus-Erweiterung liegt
ein alter jüdischer Friedhof.
Juden in New York und
London fordern, dass dieser
nicht angerührt wird.
Benno Gasser und Tina Fassbind
In vier Minuten machten Walter Wäschle und Santhori (beide links) aus einer grauen Radaranlage ein vieläugiges, buntes Kunstwerk. Foto: Reto Oeschger
Ein verkleideter Blechpolizist
In einer Blitzaktion wurde gestern der Radarkasten am Walcheplatz bunt verpackt. Ein Architekt und ein
Künstler protestierten damit gegen die optische Umweltverschmutzung. Doch die Polizei griff bald ein.
Jürg Rohrer
Vier Minuten genügten am Dienstagmorgen um 10 Uhr, und die öde, stark befahrene Kreuzung am Neumühlequai hatte
einen Anflug von Fröhlichkeit. In vier
Minuten wurden drei Elemente aus
leichten, aber zähen Kapaplatten zu
­einer 3,5 Meter hohen Figur zusammengefügt – eine Art Fabelwesen mit Dutzenden Augen. Sie verbarg den ursprünglichen Bewohner dieser Kreuzung – eine
Rotlicht- und Geschwindigkeitsüberwachungsanlage. Die Hülle hatte Löcher,
wo sich an der Radaranlage Sensoren
und Blitz befinden. Die Funktion sollte
nicht gestört werden.
Das Werk stammt vom Künstler Santhori, wohnhaft in Bad Zurzach, aufgewachsen in Wipkingen. Der Anstoss kam
von Walter Wäschle, dem bekannten
Zürcher Architekten. Beide sind viel in
Zürich unterwegs, beiden missfällt, wie
unsorgfältig viele Geräte im öffentlichen
Raum gestaltet sind, insbesondere die
Radaranlagen. Jüngst platzte Wäschle
der Kragen: «Wir müssen etwas tun!»
Amüsierte Passanten
Eines morgens um 5 Uhr mass Santhori
die Radaranlage am Walcheplatz aus,
prompt scharf beäugt von einer Polizeipatrouille im Auto. Im Atelier experimentierte er mit verschiedenen Modellen, bis schliesslich das Fabelwesen feststand. Es musste nicht nur ästhetisch genügen und wetterfest sein, sondern sich
auch mitten im Verkehrsgewühl blitzschnell aufstellen lassen. Gestern war
dann Aktionstag. Mithilfe eines Assistenten stellten Wäschle und Santhori die Figur auf, bald begleitet von Handykameras, die Passanten amüsiert zückten.
Dem TA liessen sie mit dem Absender IG
Zürich ein Bekennerschreiben zukommen unter dem Titel «Zürichs Monster
erhalten ein Gesicht».
Im Schreiben heisst es weiter: «In allen internationalen Städterankings ist
Zürich unter den Besten. Auch die Zürcher Polizisten wären heute bei einem
Ranking vorne mit dabei. Leider können ihre Blechkollegen da in keiner
Weise mithalten. Ganz im Gegenteil: Sie
verschandeln unser Stadtbild, sind
rücksichtslos und bedrohlich. Echte
Monster. Der öffentliche Raum in Zürich
ist heiliger Boden. Jegliche Möblierung
und Beschilderung muss durch verschiedenste Ämter bewilligt werden,
wobei hohe ästhetische Anforderungen
erfüllt werden müssen. Für Papierkörbe, Bänke, Trinkbrunnen, Telefonkabinen, Marronihäuschen, Bootsvermietung etc. werden in Zürich inter­
nationale Wettbewerbe mit einer hochkarätigen Jury ausgeschrieben. Es ist
schwer vorstellbar, dass irgendeine
Amtsstelle oder eine Jury die Kreaturen
in der heutigen Form bewilligt hat.»
«Wie militärische Anlagen»
Die IG schreibt weiter, dass diese Apparate wohl ein unabwendbares Übel
seien, das wir akzeptieren müssten.
Doch sollte es das Ziel sein, dass sie
nicht länger wie eine «militärische Anlage» aussehen, sondern ein Gesicht erhalten. So könnten sie eine ästhetische
Bereicherung im Stadtbild sein, eine
Aufwertung des öffentlichen Raums –
mit Akzeptanz aller zuständigen Amts-
stellen und der Zürcher Bevölkerung.
Akzeptanz der Stadtpolizei gab es gestern nicht. Über Mittag räumte sie das
Kunstwerk schon wieder ab. Die Sensoren seien nicht mehr frei gewesen, sagte
Polizeisprecher Marco Cortesi. Deshalb
werde Strafanzeige wegen Sachbeschädigung gegen unbekannt eingereicht.
86 Verkehrskontrollanlagen hat die
Stadtpolizei im Einsatz, gegen 30 davon
als kombinierte Rotlicht- und Tempokontrolle. Immer wieder werden sie
Opfer von Anschlägen, meistens Sprayereien, manchmal werde auch Feuer ge-
legt. Eine Verkleidung der schönen
Form wegen ist aber neu.
Letztes Jahr gab es in Zürich 498 000
Bussen wegen zu schnellen Fahrens
oder Missachten des Rotlichts – vier Prozent mehr als 2013. Zusammen mit den
Parkbussen und weiteren Übertretungen nahm die Stadt 57,8 Millionen Franken aus Ordnungsbussen ein.
Video So lief die Guerillaaktion
am Walcheplatz ab
blechpolizist.tagesanzeiger.ch
Verpackte Blitzkästen
«Ein kleiner Schritt für ein noch schöneres Zürich»
Architekt Walter Wäschle
plädiert für mehr Sorgfalt in
der Gestaltung der Stadt.
Mit Walter Wäschle sprach Jürg Rohrer
Wie kommt ein vielbeschäftigter
Architekt dazu, einen
Blechpolizisten zu verpacken?
Wir Architekten sind kreative, visuelle
Menschen, oder sollten das zumindest
sein. Wir haben einen hohen Anspruch
an gut gestaltete Gebäude, Räume,
­Möbel und Gegenstände. Dazu gehört
auch der Aussenraum. Grundsätzlich ist
es ein grosses Vergnügen, mit dem Auto
durch Zürich zu fahren oder zu flanieren. Alles sauber, herausgeputzte Häuser; die schönsten Frauen leben in Zürich. Eine Augenweide. Leider wird
diese Idylle immer öfter gestört durch
hässliche Objekte. Eine ästhetische und
unnötige Umweltverschmutzung.
Und was sollte jetzt diese Figur?
Die grosse Arbeit an dieser Aktion hat
Santhori geleistet, ein alter Freund von
mir und ein erfolgreicher Maler und
Bildhauer. Die Skulptur soll provozieren. Das Problem der optischen Umweltverschmutzung wird auf eine eindrückliche Weise thematisiert. Es soll damit
ein nötiger Dialog angestossen werden.
Hatten Sie eine Bewilligung?
Nein. Es war ja lediglich eine temporäre,
mobile Aktion – im Gegensatz zu den
einbetonierten Blechpolizisten.
Was ist denn an diesen Apparaten
so hässlich? Es sind doch einfach
nur Geräte zur Verkehrskontrolle.
Jedes Auto, jeder Staubsauger, jede
Zahnbürste wird zuerst technisch entwickelt. In einem zweiten Schritt kommt
dann der Designer und verpackt das
Ding so, dass es zumindest dem ästheti-
schen Grundverständnis eines jeden
Menschen entspricht. Dieser wichtige
zweite Schritt hat bei diesen Monstern
nie stattgefunden. Man findet bestimmt
niemanden, der sich hierfür verantwortlich erklärt.
Könnte es sein, dass Sie weniger die
Form als vielmehr die Funktion des
Blechpolizisten stört: die Kontrolle
und die Busse, die daraus folgt?
Nein. Ich habe noch nie Post von einem
Blechpolizisten erhalten. Ich kenne jedoch Kollegen, welche bleibende Schäden davongetragen haben. Diese sehen
die Monster natürlich nochmals mit
anderen Augen. Wir müssen jedoch mit
diesen Dingern leben, wenn möglich in
Harmonie.
Es gibt doch viele Gerätschaften im
öffentlichen Raum die unästhetisch
daherkommen: Kandelaber,
Schaltkästen, Lichtsignale. Sollen
die auch alle verschönert werden?
Bravo, Herr Rohrer! Sehen Sie, die Aktion hat sich schon gelohnt. Sie sind neu
sensibilisiert und kritisch. Fahren oder
gehen mit offenen Augen durch die
Stadt. Es gibt tatsächlich noch einige
Baustellen. Auch Objekte, bei denen der
wichtige zweite Schritt nie gemacht
wurde. Die Schweiz hat weltweit einen
hervorragenden Ruf für Grafik- und
­Designschulen. Allein im Toni-Areal sind
einige Hundert Designstudenten. All
Walter Wäschle
Der Architekt hat mit
dem Atelier WW unter
anderem gebaut:
Messe Zürich, Löwenbräu, Hotel Radisson
am Flughafen,
Glashaus Tamedia,
Autowäsche
­Tiefenbrunnen.
diese «vernachlässigten» Objekte im öffentlichen Raum könnten als Semesteroder Diplomarbeit thematisiert werden.
Ist der öffentliche Raum nicht schon
genug verstellt? Mit Ihrer Aktion
und Ihrem Ansinnen verstopfen Sie
die Stadt noch mehr.
Das ist völlig richtig, die Stadt ist übermöbliert. Umso mehr muss jedes einzelne Möbel, so es denn überhaupt
nötig ist, sorgfältig ausgewählt, gestaltet
und platziert werden. Unser Vorschlag
ist sicherlich eine provokative Extrem­
lösung. Eine solche farbige Figur ist vielleicht an einem auserwählten Ort in Zürich nur einmal möglich. Grundsätzlich
gilt jedoch: Gutes Design ist nicht aufdringlich und nicht auffällig. Insofern
soll mit einer neuen Gestaltung der
­Objekte der öffentliche Raum eher entspannter und ruhiger wirken.
Machen Sie öfter Guerillaaktionen?
Guerillaaktion tönt für mich etwas
­aggressiv. Ich bin in Zürich geboren und
aufgewachsen, wohne in der Stadt und
bin leidenschaftlicher Stadtzürcher. Die
meisten unserer wichtigen Bauten sind
auch in der Stadt realisiert. Die Stadt hat
eine sehr hohe Lebensqualität. Ich fühle
mich mitverantwortlich, diese zu erhalten oder womöglich zu steigern. Einige
meiner Ideen und Visionen sind nach
wie vor aktuell. Vor bald 15 Jahren präsentierte ich die Idee für ein Seerestaurant am Bürkliplatz. Das Projekt stiess
auf absolute Zustimmung. Das Kongresshaus auf dem Carparkplatz ist auch eine
Vision, die heute grosse Realisierungschancen hat. Selbst die mit Ernst Meier
zusammen entwickelte Idee einer
­Duplexarena für Fussball und Eishockey
ist für uns noch nicht ganz vom Tisch –
nach wie vor die ökonomisch und ökologisch beste Lösung. Ich glaube, es
braucht Inputs von aussen. Das hält die
Stadt lebendig und jung.
Hunderte strenggläubiger Juden protestierten in diesen Tagen vor den Schweizer Botschaften in London und New
York. Die Demonstranten stören sich
an der geplanten Erweiterung des Zürcher Kunsthauses, da auf dem Gelände
ein alter, längst stillgelegter Friedhof
vermutet wird. Entstanden sein soll er
um das Jahr 1380. Die Organisation
Asra Kadisha, die hinter den Protesten
steht, setzt sich seit bald 50 Jahren für
die Bewahrung jüdischer Friedhöfe
weltweit ein. Der jüdische Glaube
­verbietet es, Gräber aufzuheben.
Die Aushubarbeiten auf dem umstrittenen Gelände sind im Gang. Archäologen begleiten die Arbeiten. «Falls wir
wider Erwarten Reste des jüdischen
­
Friedhofs entdecken sollten, kontaktieren wir die jüdischen Organisationen. Es
bestehen verschiedene Lösungsmöglichkeiten», sagt Urs Spinner, Sekretär
des Hochbaudepartements. Diese Organisationen seien von Beginn des Bauprojekts miteinbezogen worden, es bestehe
ein einvernehmlicher Dialog.
«Das ist ärgerlich»
Jonathan Kreutner, Generalsekretär des
Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes und Sprecher der jüdischen
Gemeinden von Zürich, bestätigt Spinners Aussage. Schon vor acht Jahren
habe die Stadt über den jüdischen Friedhof beim Heimplatz informiert. Darauf
habe man mit der Stadt gemeinsam die
Schritte abgesprochen, wie vorgegangen
werden soll, falls tatsächlich jüdische
Gräber gefunden würden. Die jüdischen
Religionsgesetze würden respektiert
und umgesetzt. Kreutner bezeichnet die
ausländischen Proteste als ärgerlich.
«Die jüdischen Dachverbände der
Schweiz und die jüdischen Gemeinden
in Zürich brauchen keine Tipps aus dem
Ausland, wie wir hier in dieser Ange­
legenheit vorzugehen haben.» Kreutner
vermutet hinter dem Protest Splittergruppen ultraorthodoxer Juden.
Die Asra Kadisha und die Vereinigten
Jüdischen Organisationen vom nördlichen New Yorker Stadtteil Brooklyn um
den Präsidenten, Rabbi David Niederman, wollen von solchen geplanten
L ösungen nichts wissen. Nach streng
­
­jüdischem Glauben sei keine Umbettung
möglich. Der geheiligte Grund, in dem
die Gebeine ruhten, dürfe nicht angerührt werden, sagte Sam Stern, ein Sprecher der orthodox-konservativen Asra
Kadisha in New York. Die Demonstranten deponierten ihre Forderungen beim
Schweizer Generalkonsul in New York,
André Schaller. Der Botschafter habe ihnen zugesichert, die Protestbekundung
an die zuständigen Stellen in der
Schweiz weiterzuleiten, sagte Stern.
Kunsthaus-Projekt ungefährdet
Ein allfälliger Fund von Überresten des
Friedhofs würde laut Spinner den Zeitplan für die Kunsthauserweiterung nicht
durcheinanderbringen oder gar das Projekt gefährden. Die Wahrscheinlichkeit
eines Fundes ist allerdings sehr gering,
da beim Bau der damaligen Stadtbefestigung Mitte des 17. Jahrhunderts das
Erdreich tief umgegraben wurde. Die damaligen Gräber befanden sich wahrscheinlich in einer Tiefe von 5 bis 7 Metern unter dem Boden. Der Friedhof lag
damals ausserhalb des Stadtgebietes.
Der älteste noch existierende jüdische Friedhof der Schweiz befindet sich
im aargauischen Endingen. Siedler gründeten ihn um 1750. Er wird immer noch
genutzt und ist mit rund 2800 Gräbern
belegt. Die Gräber sollen nach Möglichkeit und Beschaffenheit des Terrains so
ausgerichtet sein, dass die Verstorbenen
mit dem Fussteil Richtung Jerusalem
­beerdigt werden, schreibt Ralph Weingarten in «Jüdische Friedhöfe in der
Schweiz». Die jüdische Beerdigung selber sei einfach und kurz. Es gebe keine
Musik, keine Trauerkleidung, keine Blumen und ein knapper Nachruf. Nach der
Abdankung halten die engsten Verwandten eine Trauerwoche ein, die Schiwa.